„Ich habe meinen Platz im Leben gefunden“
Interview mit Professor Christian Hesse
Von Dagobert Kohlmeyer
Der Mathematikprofessor und erfolgreiche
Schachbuch-Autor Christian Hesse feiert am heutigen Montag seinen 50.
Geburtstag. Seit etlichen Jahren ist der renommierte Wissenschaftler und
Olympiade-Botschafter von Dresden ein gern gesehener Gast auf dem Portal von
ChessBase News, ob als Verfasser interessanter Beiträge oder als
Interview-Partner. Dagobert Kohlmeyer hat vor kurzem am Rande der Dortmunder
Schachtage mit Christian Hesse gesprochen. Einige Fotos des Jubilars stammen von
den beiden Starfotografen Ivo Kljuce und Vlad Sasu.
Christian, warum zieht es dich jedes
Jahr ins Dortmunder Schauspielhaus?
Ich komme seit vielen Jahren immer gern,
weil mein Elternhaus im nahe gelegenen Sauerland ist. In der Regel verbinde ich
die dortigen Besuche dann mit dem Besuch des Chess-Meetings. Etliche der
Großmeister kenne ich inzwischen persönlich, vor allem Wladimir Kramnik. In
diesem Jahr lief es ja leider nicht optimal für ihn. Ich lernte Wladimir 2005
bei einer Kunstausstellung in Moskau kennen. Er hat auch das Vorwort zu meinem
Buch „Expeditionen in die Schachwelt“ geschrieben.
Wie lange begleitet das Schach dich
schon?
Ich lernte es von meinem Vater mit etwa
sieben Jahren. Es war einfach schön für mich, auf diese Weise Zeit mit ihm zu
verbringen. Er war Werkzeugbaumeister in der Industrie. Schach wurde bei uns zu
einem Medium, die Vater-Sohn-Rivalität auszutragen. Nachdem ich es besser konnte
als er, mochte er aber nicht mehr so gern mit mir spielen.
Was gab für dich den Anstoß, sich noch
mehr mit Schach zu beschäftigen?
Ich bin 1960 geboren und war 12 Jahre alt,
als Fischer und Spasski ihr Jahrhundertmatch spielten. Das war für mich wie
sicher für viele andere auch ein Schlüsselerlebnis. Noch heute beeindruckt mich,
wie Fischer es damals schaffte, Schach auf die Titelseiten der Weltpresse zu
bringen. Der Amerikaner brachte es fertig, den US-Präsidentschafts-Wahlkampf,
der ja zeitgleich stattfand, in der New York Times auf die Seite 2 zu
verdrängen.
Hast du damals schon die „New York
Times“ gelesen?
Nein, zu Hause gab es unsere kleine
Lokalzeitung „Westfalenpost“. Aber selbst diese hat ganz prominent über das
Schach-Duell in Reykjavik berichtet. Damals habe ich mich richtig für Schach
begeistert und es auch bis zum Studium beibehalten. Danach flaute es ein wenig
ab, weil ich das Gefühl hatte, das Spiel kann auch zu viel Zeit kosten und zur
Sucht werden.
Du wolltest nicht abhängig davon
werden.
Ja. Ich habe die Gefahr intuitiv gespürt und
längere Zeit kein Schachbrett angerührt, war auch sehr beschäftigt mit meinem
Studium. Zu jener Zeit befand ich mich zudem in der Selbstfindungsphase und
wollte wissen, welcher Platz in der Welt der richtige für mich ist. Mein
Hauptfeld ist bekanntlich die Mathematik geworden. Nach dem Studium habe ich das
Schachspielen dann aber wieder aufgenommen.
Podiumsgespräch mit Vaile (hinten: Klaus Bischoff)
Die Beziehung zwischen Schach und
Mathematik haben wir bei unseren Gesprächen schon oft erörtert. Ich mag den
Ausspruch „Schach ist kristallklare Mathematik in Dramaform.“ Bitte sei so nett
und gib uns dafür ein markantes Beispiel.
Derlei gibt es viele. Besonders interessant
finde ich Aufgaben, in denen bestimmte geometrische Motive auf dem Brett
sichtbar werden. Sie führen zu völlig überraschenden, kontraintuitiven Lösungen.
Nehmen wir zum Beispiel die wunderbare Studie von Prokes aus dem Jahre 1947.
Weiß hält remis
Wie soll er das schaffen? Die Versuche 1.
Ke8? h5 oder 1. a6? Kc6 helfen nicht. Es erscheint hoffnungslos, weil der
schwarze Bauer immer zuerst einzieht oder der feindliche König den weißen Bauern
einfangen kann. Die überraschende Lösung besteht darin, dass der weiße König
sich vom schwarzen Bauern entfernen und erst einmal nach c8 und b8 gehen muss.
Wenn er dann auf b7 steht, ist er auf einmal im Quadrat des gegnerischen Bauern.
Das Täuschungsmanöver des Königs ist eine wunderbare geometrische Lösung dieses
Problems. Erst wandert er in die Gegenrichtung ab, doch plötzlich ist er in
Schlagnähe des schwarzen Bauern. Hier die feine Lösung: 1. Kc8!! Kc6 2. Kb8! Kb5
3. Kb7! Kxa5 4. Kc6 h5 5. Kd5 remis. Das Reti-Thema lässt grüßen.
Dieses schöne Beispiel findet sich
auch in deinem Bestseller „Expeditionen in die Schachwelt“, der schon mehrere
Auflagen erlebte. Wie viele Bücher gibt es inzwischen aus deiner Feder?
Vor etwa zehn Jahren habe ich damit
begonnen, nebenher Bücher zu schreiben. Die ersten beiden waren
Mathematikbücher, also richtig Hardcore-Lehrbücher für Studenten. Es ging dort
um angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie, die Mathematik des Zufallsgeschehens.
Mein drittes war das Schachbuch, das vierte ist populärwissenschaftlich: „Das
kleine Einmaleins des klaren Denkens“, das derzeit ins Koreanische übersetzt
wird. Im September erscheint von mir „Warum Mathematik glücklich macht“. Mein
Schachbuch ist ja schon viel gelobt worden, in Dortmund zuletzt auch von Otto
Borik, das hat mich richtig froh gemacht. Im nächsten Monat kommt die
Übersetzung ins Spanische heraus und die englische Übersetzung nächstes Jahr bei
New In Chess.
Vor zwei Jahren warst du
Olympiade-Botschafter in Dresden. Welche Erinnerungen hast du daran?
Ich habe bei einem Symposium den
Eröffnungsvortrag über Schach und Mathematik gehalten und versucht, an
Beispielen auch die Schönheit und Leidenschaft klarzumachen, die beiden
innewohnt. Auch die Veranstaltung mit der Schauspielerin und Sängerin Vaile, sie
nannte sich „Beauty und Brain“, hat mir große Freude gemacht. Beide Attribute (beauty
and brain) gelten für Vaile. Wir beiden haben im Dresdner Rathaus eine Flasche
Wein getrunken, dazu eine Partie Schach gespielt und uns über Mathematik,
Kultur, Schauspielerei und natürlich Schach unterhalten. Am Ende hat sie dann
noch gesungen, und ich habe ein wenig aus meinen Büchern vorgelesen.
Nun steht die nächste Schacholympiade
in Sibirien bevor. Leider tritt Deutschland dort nicht mit der besten Mannschaft
an. Es fehlt das Geld, um die führenden Großmeister unseres Landes für ihren
Einsatz zu bezahlen. Stimmt dich das nicht traurig, zumal man sich durch die WM
2008 in Bonn und die Olympiade in Dresden einen Schachboom in Deutschland
versprochen hatte?
Ich bin auch enttäuscht darüber, weil der
Betrag für die Spitzenspieler, um den es geht (15 - 20.000 Euro) ja relativ
gering ist. Nun weiß ich nicht, wie intensiv die Funktionäre des Deutschen
Schachbundes versucht haben, dieses Geld zu generieren. Es gibt ja auch Leute
darunter, die Beziehungen zur Wirtschaft haben und diese etwas hätten spielen
lassen können. Möglicherweise ist das nicht hinreichend intensiv versucht worden
Mit dem Ergebnis, dass jetzt ein
Jugendteam in Chanty-Mansysk spielt...
Auf der anderen Seite ist es auch nicht so
schlecht, junge Spieler nach vorn zu lassen. Ich bin immer dafür, jungen Leuten
eine Chance zu geben, weil ich selbst in meinem Leben als junger Mann die
Möglichkeit bekommen habe, eine Professur auszuüben. Das hat mich zusätzlich
motiviert, ich bin dadurch besser geworden. Vielleicht wachsen diese jungen
Kerls über sich hinaus, und wir sind dann sehr überrascht von ihnen. Bei der
Fußball-WM hat das ja auch geklappt. Die Jugend hat gegenüber dem Alter viele
Vorzüge, zum Beispiel ihre Unverbrauchtheit und ihre größeren Energiedepots.
DSB-Präsident Robert von Weizsäcker
bewirbt sich jetzt auch um das Amt des Präsidenten der Europäischen Schachunion.
Wenn der Deutsche Schachbund aber nicht in der Lage ist, mit der ersten Garnitur
bei Olympia anzutreten, wird das seine Chancen nicht gerade erhöhen, zum
dortigen Kongress gewählt zu werden. Hinzu kommt, dass Professor von Weizsäcker
beruflich sehr eingespannt ist. Du bist selbst Wissenschaftler. Kann man so eine
Aufgabe, Präsident eines Landesverbandes und einer internationalen
Sportorganisation zu sein, schon zeitlich gesehen, überhaupt schultern?
Mathematisch gesehen ist das doch die Quadratur des Kreises oder?
Herr von Weizsäcker ist ja ein
Wissenschaftler von Format, der an einer Spitzenuniversität Forschung betreibt.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies nicht nur ein Fulltime-Job, sondern
eine mehr als 100prozentige Tätigkeit ist. Wenn es so ist, wie ich es mir
vorstelle, ist das Amt des ECU-Präsidenten auch ein Fulltime-Job. Insofern ist
es bemerkenswert, wenn jemand allein schon beabsichtigt, beides ausüben zu
wollen. Robert von Weizsäcker ist ein Mann mit großartigen Fähigkeiten auf
vielen Gebieten. Möglicherweise hat er tief in sich hineingehorcht und weiß,
dass er beides gleichzeitig gut ausüben kann. Wenn er das schafft, bin ich noch
mehr beeindruckt von ihm als ohnehin schon.
Sicher hat auch eine Rolle gespielt,
dass Garri Kasparow ihn angerufen und zur Kandidatur gedrängt hat.
Wenn das so war, dann ist es natürlich eine
zusätzliche Motivation.
Wie betreibst du selbst Schach? Ich
kann mir nicht vorstellen, dass du Varianten paukst, um Dein Spiel zu
verbessern?
Die Art und Weise, wie ich Schach ausübe,
ist sehr speziell. Ich spiele schon viele Jahre mit einem ägyptischen Kollegen,
der seit langem eine Professur in den USA hat. Er lehrt an der
George-Washington-Universität, und wir spielen Fernpartien. Das geschieht ohne
Zeitbeschränkung und ohne Computereinsatz. Manchmal kommt ein Zug innerhalb
weniger Tage, manchmal erst nach zwei bis drei Monaten. Je nachdem, wie stark
wir beruflich eingespannt sind. Wir finden beides okay, unsere Partien dauern
immer einige Jahre. Das Schöne ist, wir sind etwa gleich stark, was die Partien
offen macht. Was meine Spielstärke angeht, so bleibt noch viel Raum nach oben.
Christian, du bist jetzt 50 Jahre alt.
Was ist das für ein Lebensgefühl?
Es ist großartig, weil mir ein paar Dinge im
Leben geglückt sind. Ich fühle mich jetzt viel besser als vor 10, 20 oder sogar
30 Jahren. Ich habe eine wunderbare Familie, zwei Kinder von neun und fünf
Jahren. Sie sind in einer schönen Phase und machen mir viel Freude. Ich konnte
mein Hobby, die Mathematik, zum Beruf machen. Und das Schach mit all seinen
Facetten ist ebenfalls eine große Bereicherung für mich. Ich denke, den
richtigen Platz im Leben gefunden zu haben. Das macht mich sehr zufrieden,
bisweilen sogar glücklich.
Fotos: Dagobert Kohlmeyer,
Ivo Kljuce, Vlad Sasu, Christian Hesse privat