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Vor 160 Jahren wurde die „Unsterbliche Partie“ gespielt
Von Dagobert Kohlmeyer
London, Juni 1851. Am Rande der
damaligen Weltausstellung findet ein großes Schachturnier statt. Es ist der
erste große internationale Wettbewerb dieser Art, mit dem Werbung für das
königliche Spiel gemacht werden soll. Unter den Teilnehmern waren die
Schachmeister Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky. Anderssen verdiente damals
seinen Lebensunterhalt in Breslau als Gymnasiallehrer für Mathematik und
Deutsch. Kieseritzky war Schachprofi, der in Paris lebte und sich dort in den
Straßencafes mehr schlecht als recht durchschlug.
Am 21. Juni 1851 treffen sich die beiden im Cafe „Simson’s“ zu einer freien Partie.
Eingang von Simpson's
Es war ein vornehmer Klub. „Dort versammelten sich Männer, um Zigarren zu rauchen, über Politik zu reden und um Schach zu spielen. Für einen Schilling und sechs Pence erhielt der Gast Kaffee, eine Zigarre und unbegrenzten Zugang zu den Schachtischen“, erinnerte der Deutschlandfunk heute früh in seiner Sendung „Das Kalenderblatt“ an die damalige Zeit.
Als Anhänger der romantischen Schule eröffnete Anderssen die Partie als Weißer mit 1.e2.e4.
Anderssen
Nach Meinung vieler Experten war es bis zum 17. Zug eine interessante, aber noch nicht außergewöhnliche Begegnung. Dann aber explodiert die Stellung plötzlich, und die Ereignisse überschlagen sich. Andressen hatte einen Läufer weniger, dafür jedoch seine Figuren viel besser als Kieseritzky entwickelt. Schwarz bedrohte allerdings die beiden Türme seines Gegners. Anderssen ignorierte dies total und setzte weiter voll auf Angriff. Er verlor den ersten Turm und bald darauf auch noch den zweiten. Statt die Schwerfigur zu schützen, machte er einen stillen Bauernzug nach e5, womit Kieseritzkys Schicksal besiegelt war. In der Folge opferte Anderssen auch noch seine Dame und setzte den Gegner dann mit seinen Leichtfiguren matt.
Kieseritzky
Im 23. Zug war alles vorbei. Großes Schach-Kino, bis heute immer wieder schön anzusehen. Das ganze Spiel dauerte nicht mal eine Stunde. Später wird es nur noch die „Unsterbliche Partie“ genannt.
Bundestrainer Uwe Bönsch am heutigen Morgen im Deutschlandfunk: „Statt sich um sein Material zu kümmern, befestigte Anderssen seine Stellung im Zentrum und schnitt der schwarzen Dame die Verteidigung zum eigenen König ab. Ich glaube, die Schönheit der Kombination und der Mut von Adolf Anderssen, seine Dame und beide Türme und noch einen Läufer zu opfern, das fasziniert bis heute viele Schachliebhaber.“
Auch Schachtrainer Artur Jussupow kennt die „Unsterbliche“ natürlich auswendig. Der Großmeister erinnert sich noch genau, dass er sie als ganz junger Spieler zuerst in einem russischen Lehrbuch für Anfänger von Panow gesehen hat. „Es ist für Kinder sehr schön, diese Kombination anzuschauen. Mit ihren tollen Mattbildern macht sie auf alle Schachjünger großen Eindruck. Ich habe dann später mit Interesse verfolgt, wie ernsthaft die Partie analysiert wurde, zum Beispiel von Robert Hübner. Deshalb begleitet sie mich praktisch schon mein ganzes Schach-Leben lang“, so Jussupow. Auch wenn er sie vom heutigen Standpunkt der Schachtechnik nicht mehr so hoch einschätzt. „Ich meine damit, dass die Kunst der Verteidigung heute viel höher entwickelt ist und deshalb solche Kombinationen wie damals von Anderssen kaum noch in dem Masse möglich sind. Das ist eigentlich schade. Aus historischer Sicht aber haben die Schach-Romantiker einen sehr wichtigen Beitrag geleistet. Es war Pionierarbeit, denn der Einfluss dieser Partie auf das Angriffsspiel war ziemlich groß. Heute wissen wir natürlich viel mehr über Schach, über seine Strategie, Kombinationsmotive und auch über effektive Verteidigung. Die damaligen Kombinationskünstler aber waren Entdecker. Indem Anderssen solche Motive fand, hat er praktisch Neuland erschlossen. Seine Partie ist ein wahres Kunststück. Sie bleibt ewig in Erinnerung und wird deshalb auch mit Recht sehr gern bei vielen Schachfesten auf dem Großfeld mit lebenden Figuren gezeigt.“
Anderssen war damals so gut in Form, dass er nicht nur das legendäre Londoner Turnier für sich entschied, sondern von den folgenden sieben Turnieren sechs gewann! Nach seinem Tod im Jahre 1879 hat ihm die Nachwelt Kränze geflochten. Kieseritzky hingegen fand ein weniger ruhmreiches Ende. Schon 1853 starb er in Paris. Laut Deutschlandfunk-Autor Thomas Jaedicke war ein Kellner aus Kieseritzkys Lieblings-Schachcafe der einzige Trauergast auf dessen Beerdigung.
Anderssen – Kieseritzky
London 1851
1. e2-e4 e7-e5 2. f2-f4
Sie spielen das Königsgambit, damals die wohl beliebteste Eröffnung. Weiß opfert einen Bauern und erhält als Kompensation eine schnelle Figurenentwicklung. Im Laufe der Zeit wurden sehr viele Möglichkeiten für die schwarze Seite entdeckt, dem Angriff von Weiß erfolgreich Widerstand zu leisten. Heutzutage spielen nur sehr wenige Großmeister diese Eröffnung. Auf höchstem Niveau wagten aber Ex-Weltmeister Boris Spasski sowie David Bronstein des Öfteren diesen Zug.
2. ... e5xf4
Kieseritzky nimmt das Bauernopfer an und stellt damit das Eröffnungskonzept des Weißen auf die Probe. Es gibt auch die Möglichkeit der Ablehnung, z. B. durch 2. ... Lf8-c5.
3. Lf1-c4 Dd8-h4+
Das Königsläufer-Gambit erlaubt dieses Damenschach, das den weißen König zu einem Zug zwingt, wodurch er das Rochade-Recht verliert. Schwarz hat sich diesen Vorteil aber teuer erkauft: Seine Dame kommt nun in Nöte und muss eine Reihe von Zügen aufwenden, um vom Königsflügel zu verschwinden.
4. Ke1-f1 b7-b5?!
Das Bryan-Gambit, benannt nach dem Amerikaner Thomas Jefferson Bryan, einem Schachspieler aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schwarz opfert seinerseits einen Bauern, um zu schneller Entwicklung zu gelangen. Diese Fortsetzung gilt als nicht ausreichend, um die Probleme des Nachziehenden vollständig zu lösen.
5. Lc4xb5 Sg8-f6 6. Sg1-f3
Weiß entwickelt seinen Springer und bedroht gleichzeitig die schwarze Dame, die nun ihrerseits ziehen muss.
6. ... Dh4-h6 7. d2-d3
Robert Hübner empfiehlt in seiner umfassenden Analyse an dieser Stelle 7.Sc3 für Weiß.
7. ... Sf6-h5
Es droht Sg3+.
8. Sf3-h4
Bartlomiej Macieja kritisiert diesen Zug und empfiehlt 8. Th1-g1.
8. ... Dh6-g5 9. Sh4-f5 c7-c6
Ein Angriff auf den Läufer. Macieja vermutet, dass Kieseritzky den folgenden Zug von Anderssen übersah und schlägt hier 9. ... g6 vor.
10. g2-g4 Sh5-f6 11. Th1-g1!
Ein geistreiches Figurenopfer, das Schwarz besser nicht akzeptiert hätte.
11. ... c6xb5?
Hübner und Macieja gelangen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass es falsch war, die Entwicklung zu vernachlässigen und dieses Opfer anzunehmen. Beide empfehlen an dieser Stelle 11. ... h5.
12. h2-h4
Damit kommt Anderssen seinem Gegner zuvor.
12. ... Dg5-g6 13. h4-h5 Dg6-g5 14. Dd1-f3
Stellt zwei Drohungen auf: 15. Lxf4, was die schwarze Dame gewinnen würde (sie hat kein Fluchtfeld mehr zur Verfügung) und 15.e5, was zugleich einen Angriff auf den Springer f6 und den Turm a8 durch die Dame bedeutet.
14. ... Sf6-g8
Ein trauriger, aber erzwungener Rückzug.
15. Lc1xf4
Macieja hält dies für ungenau. Seines Erachtens wäre der Sieg nach 15. Sc3! mit den Drohungen 16. Lxf4, 16. Sd5 oder 16. Sxb5 schneller zu erreichen.
15. ... Dg5-f6 16. Sb1-c3 Lf8-c5
Schwarz entwickelt seinen Läufer mit gleichzeitigem Angriff auf den Turm g1, aber er steht bereits auf verlorenem Posten.
17. Sc3-d5
Richard Reti empfiehlt an dieser Stelle 17. d4!, und Macieja schließt sich ihm an. Auch 17. Ld6! nebst Sd5 hält der polnische Großmeister für gewonnen.
17. ... Df6xb2
Schwarz erbeutet einen Bauern und bedroht den weißen Turm auf a1.
18. Lf4-d6
Dieser Zug, der von den meisten Kommentatoren als genial, glänzend und ähnlich betitelt und meist mit zwei Ausrufezeichen geschmückt wird, stößt bei Hübner, Kasparow und Macieja auf Bedenken. Hübner glaubt, es gäbe mindestens drei bessere Züge, die alle zum Sieg führten: 18. d4, 18. Le3 und 18. Te1. Kasparow schließt sich dem deutschen Großmeister an. Macieja setzt nach 18. Ld6 sogar zwei Fragezeichen und analysiert ausführlich den Weg zum Sieg mittels 18. Le3. Der sowjetische Meister Sergej Belawenez (1910-1942) wies schon im Jahre 1938 nach, dass der Zug 18. Te1 ebenfalls zum Gewinn führt.
18. ... Lc5xg1?
Bereits 1879 nannte Wilhelm Steinitz 18. ... Dxa1+ als besten Zug für Schwarz mit der Folge 19. Ke2 Db2 20. Kd2 Lxg1. Hübner, Macieja und Kasparow geben nun 21. e5 La6! als forcierte Zugfolge an mit den Varianten:
1) 22. Sxg7+ Kd8 23. Dxf7 Kc8 (Hübner und Kasparow), und nach Kasparows Meinung kann Weiß die Stellung remis halten. Macieja hingegen sieht Schwarz in Gewinnstellung nach 23. ... Sh6.
2) 22. Sc7+ Kd8 23. Dxa8 (von Hübner und Kasparow genannt; Macieja analysiert hier lediglich 23. Sxa6) 23. ... Lb6 24. Dxb8+ Lc8 25. Sd5 La5+ 26. Ke3 Dc1+ nebst Dauerschach und Remis.
19. e4-e5!
Nach diesem stillen Zug ist das Schicksal von Schwarz besiegelt. Anderssen, mit Läufer und Turm materiell im Rückstand, gestattet Kieseritzky, nun auch noch seinen anderen Turm mit Schach zu schlagen. Aber der weiße Sieg ist nicht zu verhindern.
19. ... Db2xa1+ 20. Kf1-e2
Bei Kieseritzky endet die Notation an dieser Stelle. Einige moderne Autoren haben deshalb die Vermutung geäußert, Schwarz habe zu diesem Zeitpunkt die Partie aufgegeben. Kling und Horwitz berichten jedoch, dass die Partie tatsächlich mit 20. ... Sa6 fortgesetzt wurde und Anderssen daraufhin in drei Zügen mattsetzte.
20. ... Sb8-a6
Michail Tschigorin hat die
mögliche Verteidigung 20. ... La6 untersucht. Seine Analysen werden von Macieja
nach geringen Ergänzungen als korrekt befunden. Auch 20. ... La6 konnte Schwarz
nicht retten, war aber noch das Zäheste in dieser Position.
21.Sf5xg7+ Ke8-d8 22.Df3-f6+!
Nachdem Anderssen einen Läufer und zwei Türme geopfert hatte, krönt er sein Feuerwerk jetzt mit einem Damenopfer. Das Matt ist nicht mehr abzuwenden.
22. ... Sg8xf6 23. Ld6-e7 matt.
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Quellen
Literatur zur Partie