„Ich möchte
Deutschland etwas zurückgeben“
Interview mit Großmeister Artur Jussupow
Von Dagobert Kohlmeyer
Am Samstag wurde Artur Jussupow 50 Jahre alt. Seit fast
zwei Jahrzehnten lebt der in Moskau geborene frühere WM-Kandidat und mehrmalige
Olympiasieger in Deutschland. Auch für seine neue Heimat spielte der „russische
Bär“ gern und mit Erfolg. Nach seiner großen aktiven Zeit startete Artur eine
zweite Karriere als Schachtrainer und Buchautor. Dagobert Kohlmeyer hat mit dem
Jubilar gesprochen.
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Wie begehst du deinen runden Geburtstag?
Ich feiere ihn gar nicht, sondern gebe an diesem Wochenende
Schachunterricht in der Schweiz. Ich spiele auch in der dortigen Liga. Das ist
meine Art, den Tag zu begehen.
Bist du zufrieden, wenn du auf dein bisheriges Leben
in unserem Land zurückschaust?
Ja sehr. Seit 1996 bin ich deutscher Staatsbürger. Einen
russischen Pass habe ich nicht mehr. Deutschland ist meine zweite Heimat
geworden, hier sind meine beiden Kinder geboren. Es war eine glückliche
Entscheidung, hierher zu kommen. Meine Frau und ich konnten die Sprache
überhaupt nicht, als wir eintrafen. Es war ein großer Reiz für mich, eine neue
Kultur kennenzulernen. Ich wusste vorher auch gar nicht, dass Deutschland so
schön ist. Die Landschaft ist unglaublich schön hier. Natürlich habe ich die
deutsche Kultur schon früher geschätzt, aber ich konnte hier noch mehr davon
lernen. Ich finde, dieser Wechsel ist einer der besten Schachzüge meines Lebens
gewesen.
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Welche Umstände haben dir damals bei dem Entschluss
geholfen?
Sicher war der Raubüberfall auf mich im Mai 1990 in meiner
Moskauer Wohnung das auslösende Moment. Dadurch war es psychologisch leichter,
die Heimat zu verlassen. Damals begann für mich praktisch ein zweites Leben. Ich
bin sehr dankbar dafür.
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Du bist dann nach Bayern gekommen. Wie wurdest du
aufgenommen?
Sehr gut. Viele Leute haben mich moralisch unterstützt, so
dass ich überhaupt keine Probleme hatte. Heinrich Jellissen und die
Mannschaftskameraden von Bayern München haben mir sehr geholfen. Das dortige
Bundesligateam war eine gute Starthilfe, um erst einmal Fuß zu fassen. Nun bin
ich schon so viele Jahre hier und froh, dass ich Deutschland heute mit meiner
Schachakademie etwas zurückgeben kann. Das empfinde ich auch ein wenig als
moralische Verpflichtung.
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Seit 20 Jahren spielst du in der Bundesliga. Es fällt
auf, das du keiner bist, der den Verein so schnell wechselt. Warum?
Die erste Zeit war ich bei den Bayern, wo ich mich sehr
wohl fühlte. Nachdem sich das Team dann aus der 1. Bundesliga zurückgezogen
hatte, ging ich zu Solingen. Dort spiele ich heute noch. Grundsätzlich bemühe
ich mich darum, das Team nicht zu wechseln, weil ich ein Mannschaftsspieler bin.
Für mich ist die Umgebung sehr wichtig und dass man ein gutes Verhältnis hat.
Wir haben wirklich eine tolle Truppe dort. Deshalb werde ich die Mannschaft
nicht wegen ein paar Euro mehr wechseln. Das ist nicht mein Stil.
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Auch bei Schacholympiaden hast du dich immer bemüht,
ein guter Teamplayer zu sein. Fünfmal konntest du mit der Sowjetunion Gold
holen, und fünfmal bist du auch für den DSB gestartet. Welche Olympiade war die
schönste für dich?
Ich würde die von Istanbul nennen, weil die Silbermedaille
für Deutschland so überraschend war. Und wir hatten im Jahre 2000 eine
phantastische Mannschaft, mit Uwe Bönsch als Kapitän, Robert Hübner, Rustem
Dautow und den anderen. Es lief einfach wunderbar. Wir haben uns großartig
verstanden, was sehr stimulierend war. Das verbindet einen, und man vergisst es
nicht.
Aber erfolgreicher warst du bei Olympiaden mit der
Sowjetunion. Wie war die Atmosphäre in diesen Teams?
Von der menschlichen Seite her anders. Es saßen dort
natürlich größere Stars am Brett, wir hatten immer superstarke Mannschaften,
aber das Klima war oft nicht so gut. Weil viele Individualisten darunter waren
und es Spannungen zwischen Teilen der Mannschaft gab. Mit dem deutschen Team war
das nicht so. In Istanbul sind wir zum Beispiel nach der Partie gemeinsam Tee
trinken gegangen.
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Artur, du hast im Schach eine Menge erreicht und drei
WM-Kandidaten-Halbfinales bestritten: 1986 gegen Andrej Sokolow, 1989 gegen
Anatoli Karpow und 1992 gegen Jan Timman. Welches war das engste?
Alle waren sehr spannend. Wenn man verloren hat, sieht man
erst hinterher, was man hätte besser machen können. Okay, aber die Gegner waren
eben sehr, sehr gut. Im Rückblick würde ich sagen, dass ich vielleicht eines von
diesen drei Matches gewinnen konnte. Aber ich glaube nicht, dass ich spielerisch
so weit war, dann ein echter WM-Herausforderer zu sein. In dieser Zeit waren
Karpow und Kasparow einfach zu stark. Sie spielten in einer anderen Liga, das
muss man anerkennen. Ich verstehe das heute noch besser als zu meiner aktiven
Zeit.
In deiner Karriere hast du viele schöne Partien
gespielt. Die berühmtesten sind sicher deine Siege gegen Iwantschuk beim
Kandidatenmatch 1991 in Brüssel. Ich freue mich heute noch, sie live als
Reporter miterlebt zu haben. Welche Erinnerungen hast du daran?
Es waren glückliche Tage. Natürlich ist Wassili Iwantschuk
der bessere Spieler von uns beiden gewesen. Aber die besonderen Umstände machten
es möglich, dass ich ganz ohne Druck spielen konnte. In diesen Augusttagen gab
es in Moskau einen Putschversuch gegen Gorbatschow. Ich war nur mit Fernsehen
beschäftigt und schaltete ständig zwischen CNN und BBC um, weil ich wissen
wollte, was dort passiert.
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Dabei hattest du einen Rückstand im Match aufzuholen…
Ich lag einen Punkt zurück und konnte die achte Partie
gewinnen. Am Tag darauf gab es den Tiebreak, und in dieser Situation wurde
gemeldet, dass der Putsch gescheitert ist. Mich überkam ein großes Gefühl der
Erleichterung, und ich konnte ganz befreit aufspielen. An diesen beiden Tagen
habe ich wirklich das beste Schach meines Lebens gezeigt. Die achte und neunte
Partie von Brüssel sind vom Schach-Informator als beste Spiele des Halbjahres
ausgezeichnet worden und gewannen mit großem Abstand.
A. Jussupow – W. Iwantschuk
Nimzoindisch E43
Brüssel cm qf (8) 1991
Zum
Durchklicken...
Auf welche andere Partie von dir bist du noch heute
besonders stolz?
Ein sehr schöner Sieg gelang mir gegen Andrej Sokolow bei
der UdSSR-Meisterschaft 1988 in Moskau. Es war eine der stärksten
Landesmeisterschaften überhaupt. Am Ende teilten Karpow und Kasparow den ersten
Platz. Ich hatte eine lange Durstrecke hinter mir und etwa seit 20 Partien nicht
mehr gewonnen. Das Spiel gegen Sokolow war deshalb wie eine Befreiung. Ich hatte
zu diesem Zeitpunkt auch noch eine Hängepartie gegen Michail Gurewitsch zu
laufen; die war gewonnen, und mit diesem guten Gefühl ging ich ans Brett.
A. Jussupow – A. Sokolow
USSR-Meisterschaft 1988
Zum Durchklicken...
Das sind großartige Partien gewesen. Aber auch im „höheren Alter“ hast du
noch schöne Erfolge erzielt, ich denke nur an das Jahr 2005.
Da wurde ich deutscher Einzelmeister und in Basel
Europameister im Schnellschach. Wenn es gut läuft, kann ich in einzelnen
Turnieren noch immer gut spielen und die alte Stärke abrufen. 2005 hatte ich so
eine Glückssträhne. Es macht mir auch heute noch großen Spaß, mich ans Brett zu
setzen. Ich tue das sehr gern, habe aber keine Zeit mehr, mich so gründlich auf
Wettkämpfe vorzubereiten wie früher. Weil ich mit anderen Sachen beschäftigt
bin. Da sind das Training mit meinen Schülern und meine Tigersprung-Buchreihe.
Siehst du dich heute mehr als Schachlehrer, denn als
Spieler?
Ja. Es kam auch für mich der Moment, wo es sehr schwer war,
das ganz hohe Schachniveau noch länger zu halten. Als ich zum Beispiel 1994 mein
WM-Kandidatenmatch gegen Anand spielte, habe ich schnell eingesehen, dass ich
leider auf verlorenem Posten stehe. Darum suchte ich mir in der Folgezeit neben
Turnieren und der Bundesliga noch eine andere Beschäftigung. In Mark Dworezki
hatte ich ein gutes Beispiel und den besten Trainer, den man sich nur wünschen
kann. Ich habe früher in der sowjetischen Schachschule sehr viel gelernt; am
meisten aber von Mark Dworezki.
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Was ist das Besondere an ihm?
Seine großartige Methode, Schach anschaulich zu vermitteln.
Ich habe sehr davon profitiert, und irgendwie war das für mich der natürliche
Weg, auch Schachtrainer zu werden. Ich freue mich, dass wir noch heute gemeinsam
unterrichten. Das nächste Mal geben Mark und ich im Mai im Schachzentrum von
Baden-Baden ein viertägiges Seminar. Die Kontakte mit meinem Schach-Mentor sind
für mich immer noch sehr wertvoll. Mark ist eine der wichtigsten Personen in
meinem Leben. Wir sind sehr gute Freunde.
Und auch ein bekanntes Autoren-Duo. Wie viele Bücher
habt ihr zusammen geschrieben?
Wir haben insgesamt fünf Bände verfasst. Sie sind u.a. in
Deutschland (Beyer Verlag) und in der Schweiz (Edition Olms) erschienen. Die
ersten drei davon hast du ja damals ins Deutsche übersetzt.
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Worum geht es in deiner Tigersprung-Reihe?
Es sind Lehrbücher für Schachschüler mit einer DWZ von 1500
bis 2100. Durch die Arbeit mit Mark Dworezki bin ich auf den Geschmack gekommen.
Inzwischen schreibe ich schon an dem sechsten Band. Die FIDE hat diese
Lehrbuchreihe 2009 übrigens ausgezeichnet und mir dafür die Boleslawski-Medaille
verliehen. Es wurde „Schachbuchreihe des Jahres“, sogar vor den Büchern
Kasparows und Dworezkis. Obwohl ich die Bücher der beiden phantastisch finde.
Aber die Wahl meiner Reihe erfolgte wahrscheinlich, weil sie thematisch besser
in das Profil des Preises passt. Das ehrt mich unglaublich, ich bin sehr
glücklich darüber.
Wie viele Schachschüler hast du inzwischen schon
ausgebildet?
Ich kann sie nicht mehr zählen. Es waren schon sehr viele
Leute, nicht nur aus Deutschland. Immer, wenn ich zu Schacholympiaden komme,
sehe ich Spielerinnen und Spieler, die ich schon trainiert habe.
Hast du besondere Trainingsformen entwickelt?
Ich veranstalte zum Beispiel Seminare, die ich mit
Turnieren verbinde, wie jetzt zu Ostern in Bad Wurzach. Das heißt, die Leute
spielen ein Turnier, und wir analysieren hinterher gemeinsam ihre Partien. Ich
behandle sie dann auch nochmal in meinem Unterricht. Diese Veranstaltungen sind
sehr beliebt, das Seminar-Turnier findet schon zum 14. Mal statt.
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Welche Rolle spielt das Internet in deinem
Schachunterricht?
Eine sehr große. Früher bin ich viel herumgereist und habe
in etwa einem Dutzend Ländern Trainingslehrgänge veranstaltet. Heute geschieht
es ganz intensiv vor allem im Internet. So arbeite ich jetzt zum Beispiel mit
Schweizer Junioren zusammen. Das geschieht über den Fritz-Server von ChessBase.
Es funktioniert sehr gut, dort hat man einen individuellen Raum und ein
Schachbrett zur Verfügung. Bei diesem virtuellen Training sprechen wir über
Skype, was natürlich sehr bequem ist. Distanzen spielen keine große Rolle mehr.
Auf diese Weise habe ich auch schon mit Schülern in Deutschland, England und in
den USA trainiert.
Als „Schach-Flüsterer“ bist du auch ein gefragter
WM-Kommentator.
Mit viel Freude habe ich bei den Matches von Kramnik und
Leko 2004 in Brissago sowie von Anand und Kramnik 2008 in Bonn die Partien für
das Schach-Publikum erläutert. Es machte mir ganz besonderen Spaß, weil ich so
gute Kollegen wie Helmut Pfleger und Klaus Bischoff an meiner Seite hatte.
Der Kollege Computer ist beim Erklären von
komplizierten Partien ja auch sehr hilfreich.
Heutzutage sind die Schachprogramme beim Kommentieren
natürlich eine große Hilfe. Ich lasse sie aber auch gern mal beiseite, denn das
Verständnis für die Schwierigkeit einer Stellung ist größer, wenn man den
eigenen Kopf anstrengt. Ich kann ohne Rechner besser nachvollziehen, was beide
WM-Finalisten in ihren Partien leisten. Ohne Hilfsmittel kann ich die
Entscheidungen der Spieler noch besser bewundern.
Staunst du im Moment auch - wie alle Welt - über
Magnus Carlsen?
Ja, er gefällt mir. Magnus ist jetzt die Nr. 1 und spielt
sehr gutes Schach. Seine Partien haben hohe Qualität. In Wijk aan Zee hat
Carlsen nicht unverdient gewonnen. Ich glaube, er wird noch stärker werden.
Nicht zuletzt durch das Training mit Garri Kasparow. Diese Möglichkeit ist
bestimmt noch ein weiterer, sehr großer Impuls für ihn. Für mich ist Kasparow
immer noch der stärkste Schachspieler, den ich je gesehen habe. Mit seinem Spiel
und seiner Konstanz kommt Carlsen ihm immer näher. Er kann durchaus der kommende
Weltmeister werden.
Wir haben derzeit in Deutschland kein so überragendes
Talent. Was muss getan werden, dass unser Land wieder einen Super-Großmeister
bekommt, der in der absoluten Weltspitze mithält? Sollte er bei dir in die
Schule gehen?
Warum nicht? (lacht). Die Kunst besteht darin, Talente sehr
früh zu entdecken. Sie müssen rechtzeitig mit dem Schach anfangen. Wenn jemand
Supergroßmeister werden will, sollte er spätestens mit sechs Jahren beginnen.
Dann müssen die Kinder gezielt ausgebildet werden. In vielen Fällen ist es schon
zu spät dafür.
Kasparow wurde zum Beispiel auch sehr früh gefördert.
Das ist notwendig. Wer einen neuen Kasparow oder ein
Carlsen haben will, muss schon Sechsjährige auf ihre Begabung hin testen und
dann mit ihnen arbeiten. Es ist auch viel Glück dabei. Kommt der Junge zum
richtigen Verein oder in eine Kneipe, wo die Leute rauchen? Dann geht er wieder
nach Hause, spielt lieber Fußball und geht dem Schach verloren. Das ist das
Problem. Findet er einen guten Trainer, der sein Talent erkennt und ihm
weiterhilft oder nicht? Ich hatte dieses Glück in Moskau mit Mark Dworezki.
Danke, lieber Artur, für das Gespräch und alles Gute
für den nächsten Lebensabschnitt!