Filigrane Schachzüge,
Briefmarken und die große Politik
Anatoli Karpow feiert heute seinen 60. Geburtstag
Von Dagobert Kohlmeyer
Als er am 23. Mai
1951 in Slatoust, einer Stadt im südlichen Ural geboren wurde, ahnte niemand,
dass dort eine der erstaunlichsten Schachkarrieren ihren Anfang nehmen würde.
Der 12. Weltmeister Anatoli Karpow trug die Krone von 1975 bis 1985 und noch
einmal den Titel des FIDE-Champions von 1993 bis 1999. Seine Zweikämpfe mit
Garri Kasparow sind Legion. Karpows Schachstil gilt als universell, sehr
filigran und weist kaum Schwächen auf. „Ich mag die Koordination meiner Figuren.
Harmonie auf dem Brett geht vor Risiko. Ich spüre sehr gut, wenn in einer
Stellung etwas nicht stimmt“, sagt er. Dieses außergewöhnlich tiefe
Schachverständnis haben nur ganz wenige Großmeister.
Mit vier Jahren
erlernte der kleine Anatoli von seinem Vater, einem Ingenieur, das königliche
Spiel. Schon früh wurde die ungewöhnliche Begabung des Jungen erkannt und im
Pionierpalast von Slatoust gefördert. Später spielte Anatoli auch in der
Gebietshauptstadt Tscheljabinsk. Von dort stammt Großmeister Jewgeni Sweschnikow,
der die Schachtheorie bereits in jungen Jahren durch eine populäre Variante der
Sizilianischen Verteidigung bereicherte.
Von 1963-68
absolvierte Karpow die berühmte Schachschule Michail Botwinniks in Moskau. Der
fünffache Weltmeister war eine absolute Autorität und lobte seinen Musterschüler
selten, obwohl er natürlich merkte, dass Karpow „ein Talent ohnegleichen“ in die
Wiege gelegt worden war.
Persönlich ging
der Patriarch des sowjetischen Schachs daran, diesen Rohdiamanten zu schleifen,
der später einmal die meisten Turniersiege in der Geschichte erringen sollte.
In Moskau spielte
er beim Schachklub ZSKA, wo ihn Großmeister Jewgeni Wasjukow unter seine
Fittiche nahm. Der heute 78-jährige Schachveteran erinnert sich: „Anatoli
besetzte damals bei uns das Jugendbrett, und ich empfahl dem sowjetischen
Schachverband, ihn zur Jugendweltmeisterschaft zu schicken. Das passierte dann
auch.“
Karpow mit Leonid Stein
1969 wurde Karpow
in Stockholm mit 10 Punkten aus 11 Partien Weltmeister U20, ein Jahr später
erhielt er den Großmeistertitel. Als er 1971 mit 20 Jahren das Aljechin-Memorial
in Moskau gewann, konnte selbst Botwinnik nicht mehr an sich halten: „Heute ist
ein neuer Stern am Schachhimmel aufgegangen“, äußerte er voller Freude.
Und doch gibt es
bei Karpow eine Besonderheit, an der kein Chronist vorbeikommt: In der gesamten
Schachgeschichte ist er der einzige Weltmeister, dem die Krone ohne ein finales
Match zufiel. Es war allerdings nicht seine Schuld. Nachdem er in harten
Kandidaten-Duellen seine sowjetischen Landsleute Lew Polugajewski, Boris Spasski
und Viktor Kortschnoi besiegt hatte, wurde er Herausforderer des amerikanischen
Weltmeisters Bobby Fischer. Dieser weigerte sich jedoch, gegen Karpow zu spielen
bzw. stellte viele unannehmbare Forderungen. So beharrte er zum Beispiel auf
einer unbegrenzten Spieldauer bis zum 10. Sieg. Der Weltschachbund akzeptierte
das nicht und setzte Fischer verschiedene Fristen. Als am 1. April 1975 das
letzte Ultimatum verstrichen war, wurde der Amerikaner disqualifiziert. Der
damalige FIDE-Präsident Max Euwe kam nach Moskau und hängte Karpow den
Lorbeerkranz des Weltmeisters um.
In einem unserer
Interviews fragte ich Karpow, ob er es bedauert, niemals mit Fischer gespielt zu
haben. Die Antwort: „Fischer sollte es mehr bedauern als ich. Unser nicht
gespieltes Match ist ein Versäumnis der Schachgeschichte. Ich habe alles dafür
getan und mich dreimal heimlich mit Fischer getroffen: in Japan, in Spanien und
in den USA.“
Kortschnoj-Karpov, Moskau 1974
In diesem
Zusammenhang enthüllte Karpow vor ein paar Jahren folgendes pikante Detail: „Der
26. Juli 1976 war ein schwarzer Tag in der Geschichte des sowjetischen Schachs.
Damals fand um 19 Uhr in Tokio mein erstes Gespräch mit Fischer statt. Zur
gleichen Zeit, es war 10 Uhr in Mitteleuropa, bat der abtrünnige Viktor
Kortschnoi in Amsterdam auf einer Polizeiwache um politisches Asyl und blieb im
Westen. Die Mächtigen in Moskau waren schockiert.“
Karpow kehrte
stets in seine Heimat zurück. Den Vorwurf, ein Karrierist gewesen zu sein, weist
er von sich. Sicher war er bereits in jungen Jahren Parlaments-Abgeordneter und
Ordensträger der UdSSR, … aber: „Ich trat erst mit 29 Jahren in die Partei ein.
Da war ich schon zweimaliger Weltmeister. Kasparow hingegen ist bereits mit 18
Jahren KPdSU-Mitglied geworden. Doch darüber redet heute natürlich niemand
mehr.“
Nachdem er den
WM-Titel erhalten hatte, versprach Karpow, ein spielender Champion zu sein. Er
hielt Wort und startete in unzähligen Turnieren. Bis zum heutigen Tag hat er
über 160 Siege in internationalen Wettbewerben errungen und ist damit
erfolgreichster Turnierspieler aller Zeiten.
Es ist unmöglich,
die zahllosen Meriten Karpows nur annähernd aufzulisten. Zwischen 1976 und 1988
gewann er dreimal die UdSSR-Meisterschaft, das härteste Schachturnier der Welt.
Er spielte von 1978 bis 1998 insgesamt zehn WM-Kämpfe. Seine Finalgegner hießen
Viktor Kortschnoi, Garri Kasparow, Jan Timman, Gata Kamsky und Viswanathan
Anand.
Prag 2002
Die Story der beiden K.
Mit seinem
Landsmann Garri Kasparow trug Anatoli Karpow zwischen 1984 und 1990 insgesamt
144 WM-Partien aus.
Ein Marathon, bei
dem sie sich nichts schenkten und der seinesgleichen in der Schachgeschichte
sucht. Im September 2009 spielten K. und K. im spanischen Valencia ein
Erinnerungsmatch zum 25. Jahrestag ihres ersten WM-Kampfes. Kasparow gewann
deutlich, doch das Ergebnis war nicht wichtig.
Alle hatten wir
unseren Spaß an dem Nostalgie-Event. Wladimir Kramnik charakterisierte die sehr
unterschiedlichen Temperamente der zwei Schachgenies einmal so: „Kasparow kommt
wie eine Lokomotive daher, Karpow wie ein Kunstradfahrer.“
Karpow bereitet sich aud Kasparow vor
Moskau 1985
Heute sind die
beiden Exweltmeister keine Erzrivalen mehr. Karpow betont immer wieder:
„Zwischen uns gab es stets diplomatische Beziehungen. Wir hatten zwar
unterschiedliche Ansichten, doch haben uns immer als Schachspieler geachtet.“
Ende 2007 besuchte Karpow seinen früheren Gegner sogar im Gefängnis. Kasparow
war bei einer Anti-Putin-Demonstration in Moskau verhaftet worden. Karpow sagte
damals: „Ich wollte wissen, wie es ihm geht, denn ich konnte mir vorstellen, wie
ekelhaft es ist, dort zu sein. Nachdem Kasparow wieder frei war, haben wir der
Radiostation „Echo Moskaus“ gemeinsam ein großes Interview gegeben. Kasparow
erklärte dort, er war erstaunt, dass ich ihn in der Haft besuchen wollte, weil
das praktisch kein anderer versucht hat: kein Schachspieler oder politischer
Anhänger von ihm.“
London 1986
Anatoli Karpow
ist eine lebende Sportlegende, die in kein Schema passt. Wer ihn auf einen
vorsichtigen Figurenkünstler reduzieren möchte, erfasst nur die halbe
Persönlichkeit. Zu groß ist das Spektrum seiner anderen Beschäftigungen und
Interessen. Seit Jahrzehnten leitet er den russischen Friedensfonds, ist seit
langem UNICEF-Botschafter für sein Land und Osteuropa.
Zu seinen großen Hobbies gehört das
Briefmarkensammeln. Karpows Kollektion mit Sport- und Schachmotiven zählt zu den
wertvollsten der Welt. Die kostbarsten Stücke hat er in einem Banksafe
deponiert.
Im vergangenen
Jahr war Karpow beim FIDE-Kongress Herausforderer des umstrittenen Präsidenten
Kirsan Iljumschinow. Er unterlag dem Amtsinhaber bei den Wahlen am Rande der
Schacholympiade in Chanty-Mansisk jedoch deutlich. Zuvor war er monatelang, auch
mit starker Unterstützung Kasparows, in der Welt unterwegs, um für seine Pläne
zu werben, die FIDE zu reformieren. Die beiden Schachstars kamen vor genau einem
Jahr, im Mai 2010, auch in Berlin vorbei.
Kasparow hatte
zuvor noch DSB-Präsident Robert von Weizsäcker überredet, für das Amt des
ECU-Präsidenten zu kandidieren. Alle Bemühungen halfen nichts, gegen Karpow gab
es viel Widerstand aus dem offiziellen Moskau, und das Netzwerk Iljumschinows
erwies sich als zu stark. Die alte Führungsriege der FIDE war wie gewohnt nicht
bereit, ihre Macht freiwillig abzugeben. Iljumschinow bot Karpow das Amt eines
Vizepräsidenten der FIDE an, doch dieser lehnte dankend ab. Aber der nun
60-jährige Moskauer erklärte sich bereit, als Vertreter des Weltschachbundes bei
internationalen Organisationen tätig zu sein. In der ECU machte der Bulgare
Silvio Danailow das Rennen.
Erziehungsgambit
Karpow ist nach
Beendigung seiner großen Schachkarriere auf vielen Feldern aktiv. Er engagiert
sich für die Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl sowie für kranke und
notleidende Kinder. Hin und wieder spielt der Exweltmeister in einem Gefängnis
oder Jugendwerkhof simultan. Das tut er schon seit 12 Jahren. So trat Anatoli im
vergangenen Februar in Moschaisk, westlich von Moskau, gegen 20 straffällige
Jugendliche an. Einer von ihnen schaffte ein Remis. Sie hatten sich wochenlang
auf den großen Tag vorbereitet, Schachliteratur gewälzt usw. Auch wenn ihre
Chancen gegen den 12. Weltmeister gering waren, für alle war allein die
Teilnahme sehr wichtig.
Da Glücksspiele
im Knast streng verboten sind, wird Schach dort immer populärer. Die Gefangenen
spielen mehr untereinander. Mit den Besten der Gefangenen spielt Anatoli Karpow
manchmal im Internet. Bei seinem letzten Besuch in Moschaisk regte er eine
Meisterschaft der talentiertesten einsitzenden Jugendlichen aus ganz Russland
an.
Schach kann für
die Wiedereingliederung von Kriminellen oder Schwererziehbaren in die
Gesellschaft sehr wichtig sein. Karpows Programm wird nach seinen Worten in
vielen Ländern angewendet. Im brasilianischen Sao Paulo gibt es dank der
Simultan-im-Knast-Methode schon 6.000 Schachspieler mehr. In Russland soll es
kaum noch Vollzugsanstalten geben, in denen Großmeister noch nicht waren.
Der ruhelose
Karpow ist etwa zwei Drittel des Jahres in der Welt unterwegs. Es gibt nur
wenige bedeutende Länder, in denen er noch nicht gewesen ist. Schachschulen in
etlichen Staaten tragen seinen Namen. Karpow bekommt so viele Einladungen, dass
er nur einen Bruchteil von ihnen annehmen kann. „Ich habe bisher etwa 10
Millionen Flugkilometer absolviert. Das sind mehr, als ein Pilot in seinem
ganzen Berufsleben schafft.“ Gern hätte Anatoli mehr Zeit für seine Familie oder
seine Briefmarken. Unter anderem besitzt er sämtliche Schachmotive, die weltweit
auf Postwertzeichen erschienen sind.
Wie
verkraftet man über viele Jahre hinweg ein derartiges Arbeits- und Reisepensum?
„Es ist nicht so
einfach. Aber der Schachsport lehrte mich, meine knappe Zeit genau einzuteilen
und mit meinen Kräften zu haushalten. Natürlich spüre ich, dass es schwerer
wird. Noch aber reicht meine Energie aus, um alle Aufgaben zu bewältigen.“ ´
Wie die Bank von England
Karpow hat auch
zu Deutschland eine enge Beziehung. Sein erstes Turnier spielte er hierzulande
schon 1977 in Bad Lauterberg. Es folgten Events in Hannover, etliche
TV-Auftritte und Fernsehpartien, mehrmalige Starts bei den Dortmunder
Schachtagen. Zum 125. Jubiläum des DSB in Leipzig hielt Karpow als Ehrengast
eine Rede.
Kurz nach seinem
60. Geburtstag kommt er mit seiner Frau Natalja und seiner elfjährigen Tochter
Sofia zu Besuch in den Süden Deutschlands. Karpows langjähriger Freund Dieter
Auer verriet uns vorab einige Höhepunkte des Programms. So trägt sich der 12.
Weltmeister am 17. Juni im Heidelberger Rathaus ins Goldene Buch der Stadt ein,
danach gibt es eine Simultanveranstaltung.
Dieter Auer, der
1. Vorsitzende der Karpow-Schachakademie Rhein-Neckar, kennt den Exweltmeister
seit mehr als 20 Jahren. Im Mai 1990 gab Anatoli Karpow ein Simultan in Speyer,
seither stehen sie in ständigem Kontakt.
Was
schätzen Sie an Anatoli Karpow besonders?
Es sind
verschiedene Dinge. Zum einen ist es seine absolute Zuverlässigkeit. In all den
Jahren hat er uns noch nie versetzt oder im Stich gelassen. Anatoli hat immer
alle Treffen eingehalten. Nie ist auch nur ein Termin geplatzt. Da ist er wie
die Bank von England. In seiner Art ist er sehr unkompliziert und kommt völlig
ohne Starallüren aus. Das ist nicht nur meine Meinung. Karpow besucht unsere
Rhein-Neckar-Region gern und oft, unsere Schachspieler profitieren sehr davon.“
Des Weiteren
betonte der Vorsitzende von 1830 Hockenheim nicht ohne Stolz, dass Karpow ab dem
Herbst das Team um Rainer Buhmann, das in die 1. Bundesliga aufgestiegen ist,
verstärken wird. Er ist im Kader eingeplant, auch wenn er natürlich nicht in
jeder Runde dabei sein kann. Bereits in der vergangenen Saison hatte der
Moskauer für den Verein ein Spiel in der 2. Liga absolviert.
Am 20.-21. Juni
gibt Karpow an der Akademie in Nußloch erneut einige Trainingseinheiten für den
größten Teil unserer Schach-Nationalmannschaft. Zugesagt haben die Großmeister
Arkadij Naiditsch, Georg Meier, Daniel Fridman, Rainer Buhmann, David Baramidze
und Elisabeth Pähtz.
Vorher lässt sich
der Jubilar erst einmal in Russland feiern. Der Festakt an seinem heutigen
Ehrentag findet diesmal nicht im Moskauer Bolschoi-Theater statt wie vor zehn
Jahren zu Karpows 50. Geburtstag (Dieter Auer war damals dabei), sondern in der
Philharmonie von Sankt Petersburg. In der Stadt an der Newa hat Karpow vor etwa
vierzig Jahren Ökonomie studiert und bis heute viele Freunde und Anhänger.
Großmeister Semjon Furman war im damaligen Leningrad Karpows persönlicher
Trainer und formte ihn zum Weltmeister.
Karpow mit Furman
Der Rest ist
Schachgeschichte.