„Ich hätte gern zwei Leben“
Interview mit Dagobert Kohlmeyer über Schach, Musik und Literatur
Der Berliner Schachpublizist, Reporter, Buchautor und Übersetzer Dagobert Kohlmeyer wird am heutigen Montag 70 Jahre. Er hat gemeinsam mit dem fünf Jahre jüngeren Anatoli Karpow Geburtstag. Im Gespräch mit Frank Hoppe gibt der Jubilar auch Auskunft über andere Dinge des Lebens, die für ihn wichtig waren und sind.
Mit Anatoli Karpow, 1988 in Berlin
Woher kommt eigentlich der Familienname Kohlmeyer und warum der ungewöhnliche Vorname?
Unser Familienname kommt vorwiegend in Süddeutschland vor. Mein Vater stammte aus Kaiserslautern und hatte neun Brüder. Um drei Ecken bin ich daher wohl mit dem Fußballer Werner Kohlmeyer verwandt, der 1954 als Verteidiger in der WM-Wunderelf von Bern stand. Die Vornamen von meinen Geschwistern und mir (Brunhild, Dagobert, Kuno) weisen auf den speziellen Geschmack meiner Eltern hin.
Von 2007 bis 2010 warst Du Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Schachverband. Wie kam es dazu?
Es wurde immer an mich herangetragen. Schon Mitte der 1980er Jahre fragte mich Günter Karau am Rande der Ost-Berliner Journalistenmeisterschaft im Schach, ob ich ihn als Vorsitzender der Pressekommission des DSV der DDR beerben will. Dieses Amt habe ich vier Jahre lang ausgeübt. Ende 2006 bat mich Matthias Kribben, den Berliner Schachverband als Pressereferent zu unterstützen, was ich gut drei Jahre tat. Und 2008 regte der damalige DSB-Präsident Robert von Weizsäcker an, die schachlichen Großereignisse jenes Jahres in Deutschland (das WM-Finale Anand-Kramnik in Bonn und die Olympiade in Dresden) einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen. Das habe ich über dpa, in Tageszeitungen, im Hörfunk sowie in der Schachpresse sehr gern getan.
Mit Kramnik und Anand in Monte Carlo 1997
Was macht einen guten Öffentlichkeitsarbeiter aus? Wie entsteht ein Artikel? Da ist doch mitunter sehr viel Recherchearbeit notwendig.
Man sollte einen engen Draht zur (Schach)-Szene haben, also nah an den Leuten sowie am Geschehen dran sein und so aktuell wie möglich berichten. Meine Artikel entstehen in der Regel ganz schnell, wenn es Reports über Turniere sind. Hat eine Schachkoryphäe einen runden Geburtstag oder einen Titel gewonnen, dann kann man die Geschichte darum durch Recherche und auf Grund von eigenem Hintergrundwissen schon etwas vorbereiten. Ein Interview macht die Sache noch interessanter.
War der Mauerfall für Dich ein Gewinn? Du hast Dich danach ja fast vollständig auf Schachjournalismus konzentriert. Und Du konntest wohl davon leben und sogar viel reisen.
Geplant war das so natürlich nicht, sondern eine Fügung der Geschichte. Ich arbeitete bis Ende 1989 beim DDR-Rundfunk. Als dieser aufgelöst wurde, hatte ich mein Hobby quasi schon zum Beruf gemacht und für den Sportverlag in Berlin Schachbücher aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. Verlage aus dem Westen kamen recht schnell dazu. Das Übersetzen allein hätte aber auf Dauer nicht gereicht. So arbeitete ich als Reporter und Fotograf bei allen wichtigen Schachevents, zudem noch etliche Jahre bei der Leichtathletik. Ab 1992 wurde ich auch Buchautor. In meinem Erstling „Bobby Fischer - ein Schachgenie kehrt zurück“ schrieb ich über das Re-Match zwischen dem Amerikaner und Boris Spasski in Restjugoslawien. Inzwischen gibt es 23 Bücher von mir. Etwa drei Jahrzehnte war ich bei Schachereignissen nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Mitorganisator tätig. Dazu gehörten viele Reisen, sie führten mich mit Ausnahme von Australien auf alle Kontinente.
In welchem Stadium Deiner publizistischen Tätigkeit bist Du jetzt?
Der größte Teil liegt naturgemäß hinter mir, ich ziehe Bilanz und mich immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurück. Was das Reflektieren über Schach sowie die in fast vier Jahrzehnten erlebten Geschichten angeht, so hat schon seit einiger Zeit die Ernte begonnen. Diese Dinge fließen vor allem in meine Bücher ein. Balzac schrieb, „das große Geheimnis der gesellschaftlichen Alchimie besteht darin, aus jeder Altersstufe, die wir durchlaufen, einen möglichst großen Nutzen zu ziehen, das heißt im Frühling alle Blätter, im Sommer alle Blüten, im Herbst alle Früchte zu ernten.“
Mit dem DDR-Kosmonauten Sigmund Jaehn, 1984 in Berlin
Mit dem früheren OB von Berlin, Walter Momper, Dezember 1989
Mit Richard von Weizsäcker, Stuttgart 1990
Das klingt plausibel.
Ist es auch, denn der Wert der Erfahrungen wird einem bewusster. Schau dir die Natur an! Wenn der Herbst kommt, rüttelst du am Baum, und die reifen Pflaumen fallen herunter. Mein Buch „Schach kurios“ im Marlon Verlag erlebt gerade seine zweite, aktualisierte Auflage.
Gibt es etwas, was Du im Leben noch lernen möchtest?
Im Alltag bemühe ich mich um mehr Gelassenheit. Es gelingt mir nicht immer, aber zunehmend besser. Und wie viele Schachfreunde auch möchte ich gern noch mein Spiel verbessern. Das Stellungsgefühl ist mitunter ganz okay, aber leider lässt die Rechenfähigkeit mit den Jahren zu sehr nach.
Mit Miguel Najdorf, 1996 in Jerewan
Mit David Bronstein, 2002 in Moskau
Also hast Du noch schachliche Ziele?
Sie sind überschaubar. Gern würde ich bei der Berliner Seniorenmeisterschaft einen noch besseren Platz als bisher belegen und vielleicht eine Glanzpartie spielen, die den Schachfreunden im Gedächtnis bleibt. Es muss keine „Unsterbliche“ sein, die gibt es ja schon. - Lass uns aber nicht nur über Schach reden!
Mit Xie Jun in Calvia, 2004
Mit Dirk-Jan ten Geuzendam und Boris Spasski, Sofia 2008
Mit Yifan Hou, 2015 in Dortmund
Okay, Themawechsel. In Deiner Jugend warst Du in Thüringen Mitglied einer Rockband mit dem Namen „Die Hirten“ und spieltest dort Schlagzeug. Beherrschst Du das Instrument noch heute, oder hast Du die Trommelstöcke „an den Nagel gehängt“?
Ich spiele - auch berufsbedingt - seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber das Rhythmusgefühl steckt einem natürlich im Blut und ist geblieben. Ich könnte durchaus noch einige Schläge vorführen.
Hast Du noch Kontakt zu den ehemaligen Bandmitgliedern?
Nur zu meinem Bruder. Es ist ja fast 50 Jahre her, dass wir musikalisch unterwegs waren. Er lebt auch in Berlin, wir beide waren damals die Gründungsmitglieder der Band. Kuno war unser Frontmann und Lead-Sänger, er spielt noch heute Gitarre. Viele Jahre lang arbeitete er als Tonmeister bei Veronika Fischer, Karat und anderen angesagten Bands in Berlin.
Was war Euer musikalisches Repertoire?
Vor allem Rockmusik der späten 1960er Jahre, der damaligen Zeit entsprechend. Neben etlichen Beatles-Songs hatten wir auch sehr viele Hits der Beach Boys im Programm, deren mehrstimmiger Satzgesang uns begeisterte. Dazu kamen Eigenkompositionen meines Bruders, auch mit deutschen Texten.
Dein Vater war Geigenbauer. Warum bist Du nicht in seine Fußstapfen getreten? Oder solltest Du was „Vernünftiges“ lernen?
Dieser Beruf stand nie zur Debatte. Geigen verkauften sich übrigens nach dem zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands nur sehr schwer.
Welche berühmten Musiker bzw. Bands hast Du live erlebt?
Eine Menge, denn wir reden hier über ein halbes Jahrhundert. In den 1960er Jahren waren es z.B. englische Jazzer wie Chris Barber, Kenny Ball oder Mister Acker Bilk. Später, als ich im Ostberliner Rundfunk tätig war, kamen alle angesagten Gruppen ins Haus, um neue Titel zu produzieren, zum Beispiel Omega aus Ungarn, die Roten Gitarren aus Polen und sämtliche führenden Bands der DDR. Ich habe sie natürlich alle auch live gehört. Schon vor dem Mauerfall erlebte ich Joe Cocker (siehe Foto) und Bob Dylan, dann 1990 die Rolling Stones in Weißensee, später Elton John und die Eagles in der Waldbühne. Ein Highlight war das Konzert von Paul McCartney Ende 2009 in der damaligen O2 World. Die Aufzählung ist längst nicht vollständig.
Dagobert Kohlmeyer und seine Bruder mit Joe Cocker, 1988
Bei einem kürzlich beendeten Turnier Deines Berliner Vereins SC Rochade hast Du die Teilnehmer mit einem Lyrikband überrascht. Wie kam es dazu? Und warum "Books on Demand", also praktisch im Selbstverlag?
Das sollte nur ein kleiner Test sein, mit Lyrik kann und will man kein Geld verdienen. Das Büchlein ist mehr als Geschenk gedacht, und ich kann die Auflagenhöhe selbst bestimmen. Im Winter habe ich den Roman-Erstling einer befreundeten Schachspielerin gelesen, wo es u.a. um die Lyriker Georg Heym und Ernst Balcke geht.
Die Lektüre dieses bemerkenswerten Buchs war eine Art Inspiration. Ich nahm meine Jahrzehnte alten, nie veröffentlichten Gedichte aus dem Schrank, dichtete neue Verse hinzu, darunter zwölf Schachgedichte - fertig war das Lyrik-Bändchen. Seither vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Verse entstehen. Vielleicht wird das mein neues Metier. Manchmal wünsche ich mir noch ein zweites Leben, dann könnte ich endlich meinen vor 15 Jahren begonnenen Roman, der immer noch nicht fertig ist, zu Ende schreiben.
Als studierter Germanist musst Du ja ein Literaturfreund sein…
Klar. Ich merke jetzt, wie sehr sie mir aus Zeitgründen viele Jahre gefehlt hat. Heute lese ich wieder mehr, auch lateinamerikanische Literatur. Gabriel Garcia Marques („Liebe in Zeiten der Cholera“) ist erst vor kurzem gestorben, sehr schade. Als ich 2005 in Brasilien war, führte mich mein Weg nach Salvador da Bahia. Dort hatte ich Gelegenheit, einen Baum zu pflanzen und konnte auch die Witwe von Jorge Amado („Herren des Strandes“) aufsuchen.
Sie hat mir lange aus ihrem interessanten Leben erzählt. Das Ehepaar war mit Pablo Neruda befreundet, musste ins Exil und lebte einige Zeit in Paris. Dort trafen sie sich oft mit Künstlern wie Picasso und auch mit Anna Seghers. Viele Schriftsteller haben etwas für Schach übrig. Der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho („Der Alchimist“) eröffnete 2006 in Sofia das M’tel Turnier.
Paulo Coelho macht den ersten Zug
Du sprichst fließend Russisch. Liest Du russische Schriftsteller im Original?
Gedichte ja, in Romanen manchmal ein paar Seiten. Die russische Poesie hat etwas. Mir gefällt Lermontows Nachdichtung von Goethes „Wanderers Nachtlied“ besser als das deutsche Original. Bei einem internationalen Journalistenseminar an der Lomonossow-Uni in Moskau lernte ich einen Urenkel Lew Tolstois kennen. Wir fuhren in einer größeren Gruppe mit dem Bus nach Jasnaja Poljana, wo der Schriftsteller lebte. Tolstoi spielte übrigens gern und gut Schach. Sein Landgut befindet sich in der Nähe von Tula, etwa 200 km südlich von Moskau. Das Grab besteht aus einem einfachen Erdhügel, mehr nicht. Auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer sah ich eine kleine Tafel: „Was mit der Feder geschrieben ist, kann keine Axt zerschlagen.“ Darin steckt alle Philosophie Tolstois.
Welche Autoren haben Dich persönlich besonders beeindruckt?
Vor allem der Kirgise Tschingis Aitmatow. Ich begegnete ihm zum ersten Mal 1983. Es war im Berliner Verlag Volk und Welt, dorthin wurde ich für eine Rundfunk-Reportage geschickt. Ein Weltschriftsteller, der auf aktuelle Fragen stets kluge Antworten fand. Dann gab es noch zwei Treffen nach dem Mauerfall. 1992 erzählte er im Russischen Haus in der Friedrichstraße, dass er Botschafter Moskaus in Luxemburg geworden sei. Auf meine Frage, ob er denn noch zum Schreiben komme, erwiderte Aitmatow lächelnd: „Luxemburg ist ein kleines Land. Mittags beende ich meine diplomatische Tätigkeit und gehe in meine Schreibstube.“ Zum letzten Mal sah ich den großartigen Erzähler 2003, wobei die Bühne mit einer Original-Jurte dekoriert war. Ein Hauch „Djamila“ wehte durch den Saal.
Tschingis Aitmatov
Wen trafst Du außerdem?
Von den Russen fällt mir noch Daniil Granin ein, Autor des „Blockadebuchs“ über die Belagerung Leningrads. Er sprach vor zwei Jahren in Berlin im Bundestag. Mit 95 Jahren! Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich an eine frühere Begegnung mit dem Schriftsteller. Das war 1985 bei Volk und Welt. Es gibt noch ein Zeitungsdokument davon, ich habe es erst vor ein paar Tagen wiedergefunden.
Neues Deutschland vom April 1985
Hattest Du interessante Erlebnisse mit deutschen Schriftstellern?
Bei wem soll ich anfangen oder aufhören? Ich möchte eine Anekdote zu Günter Grass erzählen, den ich bei einer Preisverleihung oder Auftritten und Lesungen von ihm im Willy-Brandt-Haus erlebt habe. Das ist an sich noch nichts Besonderes. Aber zu den Kuriositäten meines Berufslebens gehört, dass ich beim Schach einen anderen Nobelpreisträger traf, der wie Grass im Jahre 1999 diese hohe Ehrung für sein Spezialgebiet erhielt. Zum WM-Finale Anand-Topalow 2010 in Sofia tauchte auf einmal Robert Mundell auf. Der kanadische Ökonom, einer der Propheten des Euro, eröffnete dort eine Partie. Auf die Krise des Euro und speziell die Lage Griechenlands angesprochen, sagte er: „Das Land steht im Schach, ist aber noch nicht matt.“ Ich fragte ihn auch, ob er sich an Grass erinnere und vielleicht „Die Blechtrommel“ kenne. „Yes“, lautete die Antwort. Dann erzählte Mundell noch, er habe damals beim Nobelpreis-Ball in Stockholm Günter Grass als großartigen Tänzer bewundert.
Wie feierst Du Dein Jubiläum?
Am Geburtstag ganz privat in kleinem Kreis. Ein paar Tage später in meinem Verein SC Rochade kommt die Schachfamilie zu ihrem Recht.
Vielen Dank für das Gespräch Dagobert!
Restliche Bilder
Das Interview führte Frank Hoppe.
Ehrung beim Berliner Schachverband...
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