Vor 25 Jahren: Kasparow stürzte Karpow
vom Schachthron
Von Dagobert Kohlmeyer
Der 9. November 1985 gilt als historisches
Datum der Schachgeschichte. An diesem Tag gewann Garri Kasparow in Moskau das
WM-Match gegen seinen sowjetischen Landsmann Anatoli Karpow mit 13:11 und wurde
der bis dahin jüngster Weltmeister aller Zeiten.


Die Schachwelt feierte den 22-jährigen neuen König, der die Fans
durch sein ideenreiches Kombinationsspiel verzauberte. Eine zehnjährige Dominanz
Karpows auf den 64 Feldern war zu Ende.
Im heutigen Frühprogramm von ARD und ZDF
lief ein längerer Beitrag über das damalige Schachduell. Das Schwarz-Weiß-Foto
aus meinem Archiv zeigt Karpow bei der Abfahrt nach der letzten Partie. Sein
Gesicht spricht Bände.

Ich erinnere mich noch genau an diesen
Novembertag, weil ich damals einen Artikel über den Matchausgang für die Zeitung
„Deutsches Sportecho“ schrieb, die im Ostteil Berlins herausgegeben wurde. Es
war eine Sport-Tageszeitung mit hoher Auflage. Da wir gerade in einen
Platten-Neubau gezogen waren und noch keinen Telefonanschluss hatten, musste ich
den Text von einer Telefonzelle aus in die Redaktion diktieren. Das waren noch
Zeiten...
Nun, die Schachwelt freute sich über den
unangepassten neuen Champion, und keiner ahnte damals, dass er das
Weltspitzenschach mehr als zwei Jahrzehnte lang dominieren würde.

Die Beziehung zwischen Karpow und Kasparow
ist eine Geschichte von großer Rivalität, zu unterschiedlich waren und sind ihre
Ambitionen und Ansichten. Auch in politischer Hinsicht.

Kasparov protestiert
Am Schachbrett aber hatten beide höchste
Achtung voreinander. In ihren fünf WM-Matches (1984 -1990) spielten sie
insgesamt 144 Partien - ein in der Schachhistorie beispielloses Duell. Längster
Zweikampf war der erste. Er ging 1984/85 in Moskau über 48 Partien.


Nach fünf Monaten wurde er vom damaligen
FIDE-Präsidenten Campomanes beim Stand von 5:3 für Karpow abgebrochen.
Es war der 15. Februar 1985, und die
Begründung lautete, beide Spieler seien zu erschöpft. Auf der Pressekonferenz
gab es tumultartige Szenen. Am meisten protestierte Kasparow (siehe Foto), weil
er am Aufholen war und Karpow nach Meinung vieler Beobachter förmlich in den
Seilen hing.
Bis heute ist nicht ganz geklärt, wer
Campomanes damals veranlasst hat, das Match abzubrechen. Das UdSSR-Sportkomitee,
der KGB? Es gibt verschiedene Verschwörungstheorien. Der Philippino hat das
Geheimnis mit ins Grab genommen, er starb in diesem Frühjahr. Die Nachricht von
seinem Tod platzte mitten in den WM-Kampf Anand-Topalow in Sofia hinein.
Auch das zweite WM-Duell der beiden K,
diesmal über die normale Distanz von 24 Spielen, fand in Moskau statt. Am 9.
November 1985 (Michail Tals Geburtstag) stand der 22-jährige Kasparow als neuer
und bis dato jüngster Schachkönig fest. Er hatte seinen Vorgänger mit 13:11
entthront. Die Schachwelt feierte den eigenwilligen Rebellen, der so viel
frischen Wind in die Turniersäle gebracht hatte.
1986 gab es ein Revanchematch in London und
Leningrad, das Kasparow knapp mit 12,5:11,5 für sich entschied.

Ein Jahr später erlebte Sevilla den
dramatischsten aller Zweikämpfe. Nach 23 Partien führte Karpow mit 12:11. Ein
Remis im Schluss-Spiel hätte ihm gereicht, um den WM-Titel wieder in seinen
Besitz zu bringen.

Aber ein falscher Springerzug Karpows in
Zeitnot brachte Kasparow auf die Siegerstraße. Mit dem glücklichen Punktgewinn
glich er zum 12:12 aus und verteidigte seine Schachkrone. Millionen Spanier
verfolgten die letzte Partie live im Fernsehen.
Mit dem WM-Kampf 1990 in New York und Lyon
fand die epische WM-Serie der beiden ein Ende.

Auch diesmal triumphierte Kasparow. Wie knapp es immer zwischen
beiden zuging, zeigt die Statistik: Von ihren Weltmeisterschafts-Partien gewann
Kasparow 21, Karpow siegte 19mal, alle übrigen Spiele endeten remis.

Mutter Klara war immer dabei
Kasparow wurde im Jahre 2000 in London von
seinem ehemaligen Schüler Wladimir Kramnik entthront. Dennoch blieb er noch fünf
weitere Jahre an der Spitze der Weltrangliste und gewann die meisten Turniere,
an denen er teilnahm. Im März 2005 verkündete der wohl stärkste Spieler aller
Zeiten dann jedoch im Schachmekka Linares überraschend seinen Rückzug aus den
Turniersälen. Die Schachwelt war schockiert. Nach Ansicht der meisten Experten
hatte der zu diesem Zeitpunkt knapp 42-jährige Kasparow noch immer genügend
Potenzial, um in der Weltspitze den Ton anzugeben.
Rivalen mit Respekt
Vom aktiven Schachsport
wechselte Kasparow in die Politik. Seither opponiert er gegen die Mächtigen im
Kreml, ob sie nun Putin oder Medwedjew heißen, allerdings mit wenig Erfolg.
Karpow findet das politische Engagement seines Widersachers nicht gut, auf
schachlichen Feldern respektieren sich die beiden Erzrivalen aber noch immer. Im
Herbst 2009 spielten sie in Valencia ein Erinnerungsmatch zum 25. Jahrestag
ihres ersten WM-Duells. Kasparow gewann erneut, diesmal ganz überlegen.
„Nie waren wir beide Freunde, doch bei aller
Konkurrenz hatten wir immer diplomatische Beziehungen“, sagte mir Karpow Ende
2007 in einem Interview.

Da hatte er den alten Rivalen, der
inzwischen Oppositionsführer geworden war, in einem Moskauer Gefängnis besuchen
wollen. Diese Geste hat Kasparow sehr berührt und dazu beigetragen, sich im
Herbst 2009 in Spanien noch einmal ans Brett zu setzen, obwohl er seine
Schachkarriere vier Jahre zuvor beendet hatte. Ein wichtiger Beweggrund dürfte
natürlich auch die schöne Geldsumme sein, die beide von den Organisatoren in
Valencia für ihr Match erhielten.

Jubiläumswettkampf in Valencia
Kasparow hatte in den Wochen davor mit dem
Norweger Magnus Carlsen einen Weltklasse- Sparringspartner. Beide arbeiteten
seit Beginn des Jahres 2009 zusammen. Kasparow trainierte Magnus ein Jahr lang,
weil er wollte, dass dieser die Nr. 1 der Schachwelt wird. Das hat funktioniert,
aber vor ein paar Tagen kam die überraschende Meldung, dass Carlsen aus dem
WM-Kandidatenkarussell aussteigt. In einem offenen Brief an FIDE-Präsident
Iljumschinow begründete der 19-jährige Großmeister seinen Rückzug damit, dass
der gegenwärtige Kandidatenzyklus zu lange (von 2008-2012) daure und mehrfach
kurzfristigen Änderungen unterworfen wurde. Vier Monate vor dem eventuellen
Beginn in Kazan seien die genauen Bedingungen für die acht Spieler immer noch
nicht bekannt, so dass keine vernünftige Vorbereitung möglich wäre. Der Norweger
ist auch mit dem Format der Kandidatenkämpfe nicht einverstanden. Er schlägt
vor, die Weltmeisterschaft in einem Turnier der acht bis zehn besten Spieler
auszutragen, wie es 2005 in San Luis (Argentinien) und 2007 in Mexiko-City
geschehen ist. Der gegenwärtige WM-Modus begünstigt nach Ansicht Carlsens den
Titelverteidiger. Seine Kritik richte sich aber nicht gegen den amtierenden
Schachweltmeister Vishy Anand persönlich, den er sehr schätze. Beide Schachstars
spielen in der 1. Bundesliga beim deutschen Meister OSG Baden-Baden. Wie Magnus
Carlsen weiter mitteilte, wolle er aber auch künftig an gut organisierten
Topturnieren teilnehmen und seine Position als Weltranglistenerster verteidigen.
Interessant wäre es zu erfahren, ob Kasparow Carlsens Schritt in irgendeiner
Form beeinflusst hat.
Die unendliche Geschichte von K. und K. ging
indessen auch im Jahre 2010 weiter. Im März verkündete Anatoli Karpow, dass er
bei den anstehenden FIDE-Wahlen gegen Präsident Iljumschinow antreten werde. Das
überraschte nicht so sehr, weil es schon länger erwartet worden war. Mit
Verblüffung registrierte die Öffentlichkeit aber, dass der 59-jährige Moskauer
bei seiner Kampagne von Garri Kasparow unterstützt wurde. Die beiden engagierten
sich sehr, waren in vielen Ländern unterwegs und traten auch gemeinsam in
Moskau, New York und Berlin auf. In der deutschen Hauptstadt zeigten sie sich
gemeinsam mit DSB-Präsident Robert von Weizsäcker, der auf Drängen Kasparows für
das Amt des ECU-Präsidenten kandidierte.

Doch alle Mühe half nichts, die Troika hatte
keinen Erfolg: Kirsan Iljumschinow bleibt für weitere vier Jahre FIDE-Präsident.
Der Amtsinhaber konnte die Wahl gegen seinen Landsmann Karpow klar gewinnen. Es
ging dabei gewohnt turbulent zu, doch Iljumschinow hatte sich, wie in früheren
Jahren, schon vorher genügend Stimmen gesichert. Er konnte in Ruhe den Tumulten
im Saal und auch einem vehementen Auftritt Kasparows zusehen, wohl wissend, dass
es am Ende wieder komfortabel für ihn reichen würde. Mit 95:55 Stimmen gab es
dann auch ein ähnlich deutliches Ergebnis wie 2006 in Turin, als der
Geschäftsmann Bessel Kok Iljumschinows Herausforderer war. Bei den ECU-Wahlen
schied von Weizsäcker schon im ersten Wahlgang aus. Der Bulgare Silvio Danailow
wurde Präsident der Europäischen Schachunion.
„Karpow und Kasparow - mehr Prestige auf
einem Wahlticket ist nicht möglich. Dass selbst die beiden Schachgötter gegen
den kalmückischen Regionalfürsten chancenlos blieben, ist bedauerlich, aber im
Grunde nicht überraschend“, schrieb die Neue Zürcher Zeitung. Und
Schachkolumnist Richard Forster zog daraus als einer der Ersten öffentlich den
provokanten Schluss: „So gesehen war die Unterstützung durch den vehementen
Putin-Gegner Kasparow für Karpow mehr Handicap als Hilfe.“
Wenn man länger darüber nachdenkt, kann man
in der Tat zu der Einsicht kommen, dass an dieser Sache etwas dran ist. So
überragend Garri Kasparow als Schachspieler war, so unweigerlich sind bisher
alle seine politischen Ambitionen gescheitert. In der Politik braucht man einen
kühleren Kopf und mehr Diplomatie, als das Schachgenie sie bisher in seinem
Leben gezeigt hat. Während des Berichts von Iljumschinow verließ Kasparow
lautstark und demonstrativ den Saal und forderte andere Delegierte auf, es ihm
gleichzutun. Ohne Erfolg.
Vielleicht haben die FIDE-Abgesandten – ob
nun bestochen, eingeschüchtert oder auch nicht – den beiden Schachzaren, die
sich früher erbittert bekämpft haben, ihr diesjähriges Zweckbündnis nicht so
recht abgenommen. Sicher haben sie auch nicht vergessen, dass es kein anderer
als Kasparow war, der 1993 die Schachwelt gespalten hat, als er gemeinsam mit
Nigel Short das damalige Londoner WM-Match in Eigenregie vermarktete.
Iljumschinow reagierte indessen so, wie er
es immer tut. Unmittelbar nach der Wahl bot er dem unterlegenen Kontrahenten das
Amt des FIDE-Vizepräsidenten an. Karpow sagte mit dem Hinweis, dass er sich
nicht in Zeitnot befinde, nicht sofort zu. Einige Tage später lehnte er das
Angebot ab. Vereinbart wurde aber schon in Chanty-Mansijsk, dass Anatoli Karpow
Botschafter der FIDE beim IOC, bei der UNESCO und der UNICEF werden soll.
Ist die unendliche Geschichte von Karpow und
Kasparow damit zu Ende? Wer kann das heute schon mit Sicherheit sagen!
Fotos: Archiv D.
Kohlmeyer