20.07.2022 – Was erwartet die Teilnehmer und Besucher der Schacholympiade in Indien? Bei seiner Reise zur Schach-WM 2013 in Chennai hat Stefan Löffler viele Erfahrungen gemacht, gibt Tipps und gibt einen Überblick über das Schach- und sonstige Leben in der Region. | Bild: Die Napierbrücke hat einen neuen Look (Foto: FIDE)
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Ab nach Chennai
Indien stöhnt seit März unter einer Hitzewelle. Wer zur am 27. Juli beginnenden Schacholympiade reist, ob als einer von einer erwarteten Rekordzahl von Aktiven oder als Checkmate-Coronavirus-Gewinner, darf trotzdem aufatmen. Anders als annonciert findet sie nicht in Chennai statt. In der Elf-Millionen-Stadt ist es für Europäer im Sommer schwer auszuhalten. Wegen der neuesten Covidwelle, angetrieben durch die Virusmutante 2.75, gilt dort seit Mittwoch wieder Maskenpflicht. Gespielt wird aber in Mamallapuram, auch Mahabalipuram genannt. In der Kleinstadt fünfzig Kilometer südlich von Chennai am Indischen Ozean ist es um ein paar Grad erträglicher, heiß und feucht ist es natürlich trotzdem. Mamallapuram hat Sandstrände, einige mehr als tausend Jahre alte Tempel, die von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestuft sind, ein Konferenzzentrum und Hotels, die westlichen Ansprüchen genügen.
Während des WM-Kampfes 2013 hatte Team Carlsen ein Haus am Weg zwischen Chennai und Mamallapuram angemietet, wo der damalige WM-Herausforderer vor und nach jedem Ruhetag zweimal übernachtete und am Strand in vergleichsweise frischer Luft Sport treiben oder ausspannen konnte. Eine Stunde Autofahrt in jeder Richtung nahm Carlsen dafür gerne in Kauf. Eher eineinhalb Stunden pro Richtung wird die Fahrtzeit für jene betragen, die am FIDE-Kongress im Leela Palace Hotel in Chennai teilnehmen, wenn sie bei den Spielen vorbeischauen wollen. Auch wegen der Tempel werden das wohl ziemlich alle tun. In Chennai soll zwar der Apostel Thomas auf einem nach ihm benannten Berg begraben sein, doch historische Gebäude und andere Sehenswürdigkeiten gibt es kaum.
Als Schachliebhaber könnte man den Schachklub im Russischen Kulturzentrum besuchen. Während des Fischer-Spassky-Matches im August 1972 wurde er als Mikhail Tal Chess Club gegründet und war damals der einzige, der Turniere organisierte. Ohne ihn wäre Vishy Anand nie Weltmeister geworden und die indische Schachexplosion nie passiert.
Als Viswanathan Anand auf der europäischen Schachbühne erschien, hatte er in Indien schon einige Erfolge erzielt, die indischen Jugendmeisterschaften und als Jugendlicher auch die Landesmeisterschaften der Erwachsenen gewonnen. Mit gerade einmal 14 Jahren wurde Anand 1984 für die Schacholympiade in die indische Nationalmannschaft berufen. 1987 wurde er Juniorenweltmeister, 1988 verlieh die die FIDE dem 19-jährigen den Titel eines Großmeisters.
Schachunterricht in der Keren-Schule in Madurai (erkennbar an blauen Hemden der Schüler) | Fotos: Ebenezer Joseph
Auch das Emmanuel Chess Centre, eine der ältesten Schachakademien Chennais ist dort untergebracht.
Das Emmanuel Chess Centre feiert seinen 19. Geburtstag
Ihr Gründer Ebenezer Joseph erzählt, dass es inzwischen Dutzende Schachakademien gebe. Fast jeder starke Spieler habe eine aufgemacht. Die Mittelschicht schickt ihre Kinder zum Schachunterricht. Zwischen zehn und fünfzehn Jahren hören aber fast alle auch wieder auf.
Ebenezer Joseph gibt Schachunterricht in einer Jungenschule bei Coimbatore
Während der WM 2013 hat er mir einige Schachtreffs der Stadt gezeigt. Dazu gehörte damals auch ein Community Centre in einem Slum neben dem alten Gefängnis. Die Kinder kamen zum Schach und weil es etwas zum Essen gab.
Turnier im Schachklub im Russischen Kulturzentrum Chennai
Inzwischen ist dem Projekt das Geld abgedreht worden, berichtet Joseph, der seitdem mit einer umfangreichen Studie zu den Effekten des Schachtrainings promoviert hat. Dank der Schacholympiade gehe der Schachboom aber nicht länger an den benachteiligten Kindern vorbei. Die Regierung habe Geld zugesichert für Spielmaterial und Schachlehrer für Schulen der indigenen Völker und der Dalit, die Kaste der „Unberührbaren“. Mindestens 8000 Kinder werde dieses Programm erreichen.
Schacholympiade-Schulturnier mit Angehörigen endogener Völker im westlichen Nilgiri-Distrikt
2013 ließ Tamil Nadu vier Millionen Euro für das teuerste WM-Match seit den Neunzigerjahren springen. 2022 sind sogar zehn Millionen für eine Schacholympiade drin. 2013 war die der AIADMK-Partei angehörende Jayaram Jayalalithaa, eine frühere Schauspielerin, die von allen Amma genannt wurde, Regierungschefin. Später wurde sie wegen Korruption und starb 2016. Inzwischen ist die konkurrierende Partei DMK am Ruder mit Regierungschef Muthuvel Karunanidhi Stalin (kurz nach Stalins Tod auf die Welt gekommen und daher tatsächlich so benannt), auch bekannt unter dem Kürzel MKS.
Vielleicht ist so viel öffentliches Geld für Schach vertretbar, weil in Tamil Nadu deutlich weniger Menschen unter der Armutsgrenze leben oder Analphabeten sind als landesweit.
— All India Chess Federation (@aicfchess) April 1, 2022
Damit die Schacholympiade über die Region hinaus ausstrahlt, wird seit zwei Wochen eine olympische Fackel kreuz und quer durch Indien kutschiert. Ebenezer Joseph findet es eine geniale Idee. Jeden Tag trifft Sanjay Kapoor, der Präsident des All-Indischen Schachverbands, regionale Entscheidungsträger und kann ihnen Unterstützung fürs Schach abschwatzen.
Wer die Schacholympiade mit Kultur verbinden will, kann in 60 Kilometern Entfernung eine weitere Tempelstadt namens Kanchipuram oder das kolonial geprägte Pondycherry (auch Puducherry) erreichen oder ins 400 Kilometer südlich gelegene Madurai reisen, wo der gewaltige Minakshi-Tempel liegt und am 27. Juli an der Keren-Schule ein Schachspektakel stattfinden wird. Touristisch vielseitiger ist ansonsten der Nachbarstaat Kerala an der Südwestspitze Indiens.
Stefan LöfflerStefan Löffler schreibt die freitägliche Schachkolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist in Nachfolge von Arno Nickel Herausgeber des Schachkalender. Für ChessBase berichtet der Internationale Meister aus seiner Wahlheimat Portugal.
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