Schach-Abenteuer in Riga

von Holger Blauhut
06.09.2023 – Holger Blauhut ist Norweger mit deutschem Migrations-Hintergrund, spielt selber gerne bei Turnieren mit und betreut seine talentierte Tochter Anna. Mitte August nahm er mit seiner Tochter am RTU Open in Riga teil und erlebte dort die typischen Abenteuer von Schachreisenden.

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Schach-Abenteuer in Riga: "Zwei Schuhe?"

Die letzte Runde der Norwegischen Meisterschaft war geschafft und vor uns lagen Ferien, schachfreie Ferien! Beim Verlassen des Spiellokals begegneten wir dem alten und neuen Schachkönig Norwegens und er bemerkte, dass es gut für meine Tochter Anna wäre, beim RTU Open in Riga mitzuspielen. Er werde dies zusammen mit seinen Schachschülern des Leistungssportgymnasiums auch tun.

Ich war ein bisschen skeptisch, da sich der schachfreie Teil der Ferien nun erheblich reduzierte, und auch weil meine bisherigen Reisen nach Riga immer mit einer großzügigen Elospende an den osteuropäischen Nachwuchs endeten. Aber wenn der König ruft …

Die Reise von Fredrikstad zum Flughafen verlief erfreulich einsam. Als gut integrierte Einwanderer wissen wir, dass zu Mitreisenden Abstand zu halten ist und Gespräche vermieden werden sollten. Der Busfahrer sah das ähnlich und fuhr an den Haltestellen nicht von der Autobahn ab, sodass auch niemand zusteigen konnte und wir eine Viertelstunde früher als geplant am Flughafen waren.

Im ausgebuchten Flugzeug treffen wir auf Agdestein & The Gang, die nach der Landung sofort in Taxis zum Turniersaal eilte, um beim Blitzturnier dabei sein zu können. Diese Hast kostete in der Summe einige hundert Elopunkte.

Wir gingen es langsamer an und fuhren mit der Buslinie 22 vom Flughafen bis zur Haltstelle Daugavgrivas iela und gingen von dort zu Fuß zum Hotel Islande, gleich neben der Universität. Fahrkarten für den Nahverkehr bekommt man in Riga unter anderem in den Narvesen-Kiosken, aber nicht in allen, wie wir am Flughafen lernen durften. Auf die Frage nach Fahrscheinen murmelte die Verkäuferin irgendetwas mit down, zeigte nach oben, verschränkte die Arme vor der Brust, sah zur Seite und war zu keinem weiteren Kontakt zu bewegen. Wir fanden den anderen, fahrkartenverkaufenden, Kiosk trotzdem recht schnell.

Nach dem Besuch eines Orgelkonzertes in der St.-Johannis-Kirche, die als die älteste Kirche Rigas gilt, machten wir uns auf die Suche nach etwas Essbaren. Es war nicht einfach, an diesem Samstagabend etwas zu Essen in Rigas Altstadt zu bekommen, da die Restaurants überfüllt waren. Schließlich fanden wir ein erstaunlich leeres italienisches Restaurant in einer Seitenstraße. Wir wurden äußerst zuvorkommend bedient, und dann schloss der Kellner die Tür ab und ließ sich auch von potenziellen Gästen, die an der Tür rüttelten, nicht vom Zeitunglesen abhalten.

Am nächsten Tag wurde ein Schnellschachturnier gespielt, welches Jobava vor Shirov gewann. Die besten Norweger fanden sich auf den Plätzen sechs bis neun ein. Für mich gab es ein erstaunlich moderates Elo-Minus. Nach dem Turnier fanden sich viele aktuelle und zukünftige Elo-Riesen auf der Dachterrasse des Hotels Islande zum Abendessen ein. Während der recht ausgiebigen Wartezeit war die Luft voll von Springeropfern und anderen Kombinationen.

Das Hauptturnier des Opens wurde erst am Montagnachmittag eröffnet, sodass wir Zeit für einen Besuch des Rigaer Zentralmarkts hatten. Dieser wurde in den 1920-er Jahren aus Teilen von Luftschiffhallen neu errichtet, und ebenjene Hallen hatten an diesem Montag geschlossen – Sanitärtag. Aber immerhin hatten die Buden rund um die Hallen geöffnet, sodass wir nach ein Paar Schuhen für Anna Ausschau hielten und leider noch nicht wussten, dass ich nur Stunden später auch welche gebrauchen konnte. Wir wurden tatsächlich fündig. Mit der Frage nach dem zweiten Schuh erregten wir, gut sichtbar, dass Missfallen einer recht voluminösen Dame. In ihren Augen gab es viel zu lesen, während sie uns ansah: „So früh schon Umsatz, das kann kein guter Tag werden“, oder: „Wozu brauchen die die Schuhe eigentlich?“ In unseren Augen hätte sie lesen können, während sie uns ansah: „Wird sie den anderen Schuh finden?“. Und dann war da noch Unglaube. Sie verschwand aus dem Türrahmen und machte sich in dem anderen Quadratmeter der Bude zu schaffen. Sie fand ihn, wir bezahlten und sie sank, nicht ganz unzufrieden wie mir schien, zurück auf ihren Hocker.

Ab 14 Uhr war es möglich, sich für das Hauptturnier anzumelden und so verließ ich um 14 Uhr das Hotel, um die 500 Meter zum Spiellokal zurückzulegen. Ich hatte bemerkt, dass es regnete, vertraute aber auf meine wasserdichten Jacke und Schuhe. Gerade als ich den halben Weg zurückgelegt hatte, etwa auf Höhe der Schwimmhalle, war ich durchgeweicht. Die Jacke hielt hier und da noch einzelne Flecken trocken, während die Schuhe das Wasser nur noch davon abhielten, von innen wieder nach außen zu gelangen. Pfützen auszuweichen lohnte sich nun nicht mehr und war auch nicht möglich, da das Wasser gleichmäßig einige Zentimeter hoch auf der ganzen Straße stand. Bis zur ersten Runde hatte sich das Wetter gebessert, sodass ich auf meine Sandalen ausweichen konnte und mit diesen auf der Bühne am ersten Brett Platz nahm. Ich durfte gegen Simen Agdestein spielen, musste aber vorher noch die Zeremonie des symbolischen ersten Zuges über mich ergehen lassen. Der Rektor der Universität spielte e2-e4 für mich, die Fotoapparate verschwanden und ich genoss die Partie.

Simen Agdestein

Nach der Runde versuchten wieder viele der Schachspieler im Hotel noch etwas zu Essen zu bekommen. Das Restaurant auf der Dachterrasse hatte sich wegen des Unwetters in die 9. Etage zurückgezogen und war überfüllt. Wir landeten an einem Tisch mit dem 15-jährigen werdenden Großmeister Aksel Bu Kvaløy und seinem Vater sowie dem deutschen Großmeister Leon Mons. Sprachlich verwirrte mich mein eigenes Deutsch-Norwegisch-Englisch-Durcheinander, welches  teilweise sogar verstanden wurde.

Am freien Mittwochvormittag gab es für die norwegischen Schachspieler und Schachspielerinnen einen kleinen Empfang in der norwegischen Botschaft. Mein Akzent verriet mich als Deutscher, nachdem ich noch nicht einmal zwei Wörter gesprochen hatte. Anna und ich gingen danach in den Vermane-Park und setzten uns zu Mischa Tal.

Am Freitag spielte ich gegen die 8-jährige Bodhana Sivanandan, die zwar für den Stuhl eine Sitzerhöhung brauchte, aber schachlich auf der Höhe war. Sie erreichte in dem Turnier eine Performance von 2065. Dazu trug auch meine Partie bei, die meine beste Partie des Turnieres war. Ich hätte nur nicht in Gewinnstellung aufgeben sollen.

Für Anna wurde das Turnier in der letzten Runde ganz langsam ausgeblendet. Sie spielte gegen eine ältere Dame, die wenige Züge vor dem Matt das Spielen einstellte. Sie hatte noch 60 Minuten auf der Uhr, als sie begann in die Luft zu starren. Eine Stunde später notierte sie das Ergebnis und verließ das Spiellokal.

Alleiniger Sieger des RTU Opens wurde mit Elham Amar ein Schüler des norwegischen Leistungssportgymnasiums. Mit 7,5 Punkten aus 9 Partien und einer Performance von 2676 erspielte der 18-Jährige seine zweite GM-Norm.

Endstand

Rg. Name Pkt.  Wtg1 
1 ABDRLAUF, Elham 7,5 51
2 BLOMQVIST, Erik 7 51,5
CERES, Dragos 7 51,5
4 JOBAVA, Baadur 7 50,5
5 KVALOY, Aksel Bu 7 47,5
6 SIVUK, Vitaly 7 47,5
7 NITISH, Belurkar 7 45,5
8 PULTINEVICIUS, Paulius 6,5 50,5
9 MITUSOV, Semen 6,5 45
10 AGDESTEIN, Simen 6,5 44,5
11 KEINANEN, Toivo 6,5 44
12 WILLOW, Jonah B 6,5 42,5
13 HEMANTH, Raam 6,5 42
14 DELORME, Axel 6,5 41,5
15 BASSO, Pier Luigi 6,5 41,5
16 AKESSON, Ralf 6,5 41,5
17 REICHMANN, Hendrik 6,5 38
18 GHARIBYAN, Mamikon 6 49,5
19 KAASEN, Tor Fredrik 6 48,5
20 KANTANS, Toms 6 46,5
21 DIERMAIR, Andreas 6 44,5
22 GALOPOULOS, Nikolaos 6 43,5
23 MIEZIS, Normunds 6 43,5
24 STREMAVICIUS, Pijus 6 43
25 KRIVONOSOV, Oleg 6 43
26 MONS, Leon 6 42
27 WADSWORTH, Matthew J 6 41,5
28 HAITIN, Ilja 6 41
29 LAHDELMA, Henri 6 40,5
30 SINITSINA, Anastassia 6 40

201 Spieler im A-Open

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Autor, Verleger und Büroarbeiter, lebt in Fredrikstad/Norwegen.