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Von Conrad Schormann
Gegen WM-Herausforderer Karjakin spielte er zum ersten Mal in seinem Leben Französisch – und gewann. Wesley So sah sich gar mit dem Königsgambit konfrontiert – und steckte bald in Schwierigkeiten. Adhiban Baskaran war allein wegen seiner Eröffnungen eine Bereicherung für das Tata-Steel-Turnier in Wijk aan Zee. Abseitiges, Spekulatives, aber auch gründlich Vorbereitetes mit einer Menge Substanz zeigte der Inder und bewies, dass man sich auch in einem Weltklassefeld die eine oder andere Freiheit nehmen darf.
Stellung nach 2.c3
Als Angriffs- und Kombinationsspieler hatten Schachfans Baskaran Adhiban vor Wijk 2017 auf dem Radar, und als solcher sollte er eine willkommene Ergänzung im Feld der üblichen Verdächtigen sein. Wer erwartet hatte, dass Adhiban seine Auftaktpartie gegen den einzigen anderen Sub-2.700-Spieler im Feld scharf anlegt, der war nach 2.c3 enttäuscht. Van Wely, stets kompromisslos, wäre einer Debatte des von Adhiban regelmäßig gespielten 6.Lg5- oder 6.h3-Najdorfs bestimmt nicht ausgewichen.
Warum also 2.c3? Vielleicht wollte der Inder mit einem Remis in der Tasche ins Turnier starten, vielleicht war seine Wahl psychologischer Natur. Wer Sizilianisch-Spielern auf die Nerven gehen will, zumal solchen vom Schlage van Welys, der zieht 2.c3 und erfreut sich am frustrierten Seufzen auf der anderen Seite des Brettes.
Auf dem Brett freilich ist das vor knapp 120 Jahren von Simon Alapin erfundene 2.c3 kaum geeignet, den Schwarzen in Verlegenheit zu bringen. Die Hauptfortsetzungen 2...d5 und 2...Sf6 geben Schwarz gutes Spiel und ein halbes Dutzend anderer Züge auch, 2...d6 zum Beispiel. Außerdem bestimmt nun Schwarz, welche Art von Struktur gespielt werden soll.
Adhiban Baskaran genoss das Spielen in Wijk aan Zee. (Foto: Alina l'Ami)
Harmlos oder nicht, auch nach 2.c3 muss noch Schach gespielt werden. Der Australier und Alapin-Experte David Smerdon hätte dank seines geliebten c3-Sizilianers einer der Helden der Schacholympiade 2016 werden können. Im Match Australien-Norwegen balancierte Magnus Carlsen gegen den Großmeister aus Brisbane am Abgrund. Aber ihn hinunterzustoßen, hätte erfordert, dass sich Smerdon auf kaum zu berechnende Verwicklungen einlässt. Um nicht selbst zu straucheln, entschied er letztlich, seinem 300 Elo schwereren Gegner die Hand zu reichen, anstatt ihm einen Stoß zu versetzen.
Wer die ChessBase-Seiten durchgelesen hat und dann noch mehr Schach will, dem sei ein Blick in Smerdons Blog empfohlen: www.davidsmerdon.com.
Partiefragment ab 10...b6
Stellung nach 6...Lc5
1...e5 ist ein wesentlicher Teil von Adhibans Schwarz-Repertoire, der Archangelsk-Spanier, den Angelsachsen "Erzengel" (Archangel) nennen, ist es eher nicht. Harikrishna hätte für das Duell mit seinem Landsmann dennoch vorbereitet sein können, denn vereinzelte Erzengel waren in Adhibans Partien der vergangenen Jahre durchaus zu besichtigen.
Während des Tata-Turniers ließen unterschiedliche Kommentatoren immer wieder durchblicken, dass Penteala Harikrishna zwar ein bärenstarker Schachspieler ist, seine Eröffnungskenntnisse aber nicht an die anderer Weltklassespieler heranreichen. Die Partie gegen Adhiban bestätigt diese Einschätzung. Die beiden folgen einer ellenlangen Variante, die Adhiban schon einmal auf dem Brett hatte, und am Ende steht Schwarz keinesfalls schlechter, eher besser sogar.
Adhibans Konzept, Harikrishna in ein hochtheoretisches System mit langen, forcierten Varianten zu lotsen, geht auf, wenngleich die Partie für ihn unglücklich endet. Aber das kann er kaum dem Erzengel ankreiden.
Partiefragment ab 10...exd4
Eine Überraschung ist d4/Lf4 oder d4/Sf3/Lf4 auf Weltklasseturnieren längst nicht mehr. Das London System und verwandte Damenbauernspiele sind Mainstream, unter anderem dank Alexander Grischuk, der sie als erster Top-Ten-Spieler regelmäßig anwandte. Überraschend ist allenfalls, dass Adhiban dem Trend folgt, weil der Inder in Wijk in erster Linie dadurch aufgefallen ist, Sachen abseits des Mainstreams zu spielen.
Ob Aronian nun in dieser Partie mit London gerechnet hat oder nicht, natürlich ist er vorbereitet. Adhiban bekommt bald ein Rezept aus der Aronianschen Analyseküche vorgesetzt.
Stellung nach 7...Sd7
Auf GM-Level eine Neuerung, ein Indiz, dass sich Aronian daheim ernsthaft überlegt hat, wie er dem London System den Zahn ziehen will, und ein schöner Anlass, über niedersächsisches Seniorenschach zu sprechen. Was 2.800-GM Levon Aronian daheim mühsam ausklügeln musste, hat Karl Jentsch von der zweiten Mannschaft des SC Wolfsburg 2002 bei der niedersächsischen Seniorenmeisterschaft mit leichter Hand aufs Brett gezaubert. Das Ergebnis war dasselbe, der Weg dorthin unterschiedlich: Jentsch wie Aronian holten mit 7...Sd7 ein komfortables Schwarzremis. Die Partieanlage des Wolfsburger Bezirksligaspielers war jedoch um einiges kühner als die des armenischen Großmeisters.
Stellung nach 9...f5
9...g6 sollte auch spielbar sein, gibt dem Weißen aber eine per h2-h4-h5 anzurempelnde Angriffsmarke. Außerdem würde 9...g6 die Frage offen lassen, was die Idee von 7...Sd7 war. 9...f5 lässt keine Fragen offen. Nun wäre 10.g4!?? ein Bauernopfer im Stile Karl Jentschs, vielleicht nicht gänzlich vollwertig, aber allemal interessant. Weiß will lang rochieren und auf der geöffneten g-Linie einen Angriff inszenieren.
Adhiban entschied sich stattdessen für 10.Sdf3. Nach Generalabtausch auf e5 war bald klar zu sehen, was Weiß aus der Eröffnung herausgeholt hat: nichts. Andererseits operiert Weiß mit überschaubarem Verlustrisiko, und das ist nach bescheidenem Start ins Turnier keine schlechte Grundlage in einer Partie gegen einen der Favoriten. 24 Züge später schlossen die Kontrahenten Frieden.
Stellung nach 6.Dc2
So unberechenbar Adhibans Eröffnungsspiel in Wijk scheinen mag, auf eines konnten sich seine Gegner mit Gewissheit einstellen: Adhiban würde von keiner seiner Hauptwaffen Gebrauch machen und stattdessen Eröffnungen oder Varianten spielen, die er kaum bis nie auf dem Brett hatte. In dieser Hinsicht bleibt er sich auch gegen Pavel Eljanov treu.
Adhiban greift zum Petrosian-Dameninder, und anstatt des Hauptzugs 6.cxd5 kramt er 6.Dc2 aus der Mottenkiste, eine in den 80er-Jahren beliebte Bekämpfungsmethode, die heute kaum noch Anhänger findet. Aber derzeit stehen in den Hauptvarianten des 4.a3-Dameninders die schwarzen Aktien ohnehin auf Ausgleich, also warum nicht ein totes System revitalisieren?
Vielleicht birgt Adhibans Wahl auch eine raffinierte historische Anspielung auf seinen legendären Landsmann Mir Sultan Khan, der mit dieser Eröffnung Ende 1930 in Hastings den noch legendäreren (der Leser möge diesen tollkühnen Komparativ verzeihen) Jose Raul Capablanca im a3-Dameninder auseinder schraubte. Sultan Khan wählte damals den heutigen Hauptzug 6.cxd5, den Capablanca mit dem diskutablen, womöglich zweifelhaften 6...exd5 beantwortete.
Heute würden die meisten Großmeister argumentieren, dass 6...Sxd5 besser ist, weil nach 6...exd5 in der entstehenden Karlsbad-Struktur ...b6 Schwarz eher schwächt und oft zwingen wird, mit hängenden Bauern c5/d5 zu spielen. Ihnen könnten wir allerdings die Vorliebe eines gewissen Sergey Karjakin zu genau dieser Struktur entgegenhalten. Karjakin spielte beim Kandidatenturnier 2016 in ähnlichen Stellungen konsequent ...exd5, und die versammelte Weltelite vermochte nicht nachzuweisen, dass seine Vorliebe fehlgeleitet ist. Am Ende forderte der Russe Carlsen um den Titel, und die anderen Kandidaten guckten in die Röhre.
Angesichts Sultan Khans Neigung, in allen Lagen ein prophylaktisches a3 und h3 (respektive ...a6 und ...h6) einzustreuen, wäre der Inder ein angemessener Namensgeber für 4.a3 im Dameninder gewesen, kam aber nicht an Tigran Petrosian vorbei, dem Meister der Prophylaxe. In den 1960er-Jahren begann der "armenische Torwart", Damenindisch mit frühem a3 zu bekämpfen (Petrosian bevorzugte 4.Sc3/5.a3), ein Zug, den Tarrasch&Co. noch als sinnlosen Tempoverlust abgetan hätten. Aber das Schachverständnis entwickelte sich, und so erkannte nicht nur Petrosian, dass schwarzes ...b6 und ...Bb7 nur schwer als vollwertig zu rechtfertigen ist, wenn Schwarz dank weißem a3 (das ...Bb4 verhindert) keine Kontrolle über e4 bekommt.
Zwei bis drei Dekaden nach Petrosian entdeckte Gary Kasparov 4.a3 für sich. Für Prophylaxe war Kasparov weniger berühmt, eher dafür, seinen Gegner baldestmöglich auszuknocken. Kasparov demonstrierte mehrfach, dass der a3-Dameninder dafür trefflich geeignet ist. Weil gegen cxd5 alle Welt außer Karjakin ...Sxd5 spielt, kommt Weiß zu e4, und auf Basis seines prächtigen Bauernzentrums d4/e4 lassen sich leicht mächtige Attacken gegen den kurz rochierten schwarzen König entfachen.
In der vierten Runde von Wijk ist all das graue Theorie, weil nach 6.Dc2 alles andere als klar ist, wohin die Reise geht. Was immer Adhiban präpariert haben mag, Eljanov konfrontiert ihn bald mit einem Manöver, das kein Kommentator verstanden hat, wahrscheinlich nicht einmal Karjakin und der Autor dieser Zeilen sowieso nicht.
Stellung nach 8...Be7
Von den drei möglichen Gründen für 8...Le7 statt 8...Lxc5 lässt sich einer ausschließen: Ein Übertragungsfehler war es nicht. Als unwahrscheinlich darf gelten, dass es sich um einen Fingerfehler handelt, aber wer weiß? Vielleicht befielen Zeigefinger und Daumen des guten Pavel Eljanov ein plötzlicher Schwächeanfall, auf dem Weg nach c5 plumpste der Läufer auf das Feld e7, und dann setzte der ukrainische Großmeister sein undurchdringlichstes Pokerface auf in der Hoffnung, dass Adhiban 8...Le7 nicht als Missgeschick, sondern als tiefen, gründlich vorbereiteten Zug erkennt und gar nicht erst zu widerlegen versucht.
Wahrscheinlicher ist freilich, dass 8...Le7 ernst gemeint war, nur dann fällt es schwer, das Manöver zu erklären. Im Prinzip ist das Motiv ja bekannt, in erster Linie aus dem Grünfeld-Inder (aber nicht nur von dort, es sei z.B. auf die Caro-Kann(!)-Partie Dominguez Perez-Ding aus dem Jahr 2015 verwiesen): Schwarz stört sich nicht daran, dass Weiß sich per d4xc5xb6 durchfrisst, und setzt darauf, nach ...axb6 Spiel gegen den weißen Damenflügel zu bekommen. Dieses Spiel läuft in erster Linie über die a- und c-Linie – und auf der langen Diagonalen.
Nur hat im vorliegenden Fall, anders als im Grünfeld-Inder, Schwarz keinen Läufer auf der langen Diagonalen, er hat ihn ja gerade auf e7 geparkt. Zum fehlenden Druck auf h8-a1 kommt die intakte weiße Struktur am Damenflügel. Schwarz ist eigentlich eher zu diesem Bauernopfer geneigt, wenn die weißen Bauern auf a2 und c3 isoliert herumstehen, anstatt auf a3 und b2 stabil verbunden zu sein.
Was also hinderte Adhiban daran, auf b6 zu schlagen und sich eines (gesunden?) Mehrbauern zu erfreuen? Wir wissen es nicht, und das ist gut so. In unserer computerisierten, transparenten Zeit sind dem Schach fast alle Mysterien abhanden gekommen, dieses bleibt.
Stellung nach 15.Lb5
Wenn des Schachs unkundige Interviewer Großmeister befragen, dann fremdschämt sich der schachkundige Zuhörer, als schachkundiger Journalist fremdschämt er sich gleich doppelt. Vor allem Pressekonferenzen nach Weltmeisterschaftspartien sind oft kaum zu ertragen. Wie oft mag wohl Magnus Carlsen die an Unbedarftheit schwer zu überbietende Frage nach seiner Lieblingsfigur gehört haben?
Nach seinem Lieblingszug sollten ihn die Journalisten fragen, einen solchen hat er tatsächlich: Hat Carlsen mit e4 eröffnet und der Gegner ...e5 erwidert, wird der Norweger in der Folge alles daran setzen, sein geliebtes Lc1-g5 ziehen und einen Springer auf f6 fesseln zu können.
Baskaran Adhibans Weißpartien aus Wijk legen den Schluss nahe, dass sein Lieblingszug die Vorliebe des Weltmeisters spiegelt. Schon in der Partie gegen van Wely war das Behindern der schwarzen Entwicklung mit 17.Lb5 nicht gerade naheliegend, hier ist 15.Lb5 mit derselben Idee zumindest nicht alternativlos. Schwarz soll nicht ...Sc6 spielen, aber trotz des Lb5 ist Schwarz zu keinerlei Künsteleien gezwungen, um es trotzdem zu tun. Einfach ...Dc7, dann ...Sc6, fertig.
In der Folge künstelt stattdessen Weiß, will seinen weißfeldrigen Läufer partout auf dem Brett behalten, findet aber weder eine Aufgabe für ihn noch generell eine Aufstellung, die Pläne und Perspektiven bietet. Bald beginnt Adhiban zu driften und landet in einem kritischen Endspiel, das Eljanov bequem nach Hause spielt. Nicht Adhibans beste, womöglich seine schlechteste Partie in Wijk. Hätte er doch im 8. Zug auf b6 genommen.
Teil zwei der Rückschau auf Adhiban Baskarans Spiel beim Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee folgt demnächst. Er beschäftigt sich mit dem furiosen Spiel des Inders in der Mitte des Turniers.
Ebenfalls interessant: IM Sagar Shah hat vor kurzem ein ausführliches Interview mit Adhiban Baskaran geführt und auf der englischen ChessBase-Seite veröffentlicht.