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Während Adolf Anderssen an jenem Mittwoch um die Mittagszeit am Palais des Tuileries vorüber schreitet, hat er weder einen Blick für das kolossale Gebäude rechts noch für die träge dahin fließende Seine auf der anderen Seite. Seine widerstreitenden Gefühle von Ärgerlichkeit, Verdrossenheit, Vorfreude, Selbstbewusstsein und Kampfeslust sind seit vier Tagen der totalen Freude und der Konzentration auf den Wettkampf mit Paul Morphy gewichen.
Seit fast zwei Wochen weilt der inoffizielle Weltmeister aus Breslau bereits in der Stadt und hat viel Erstaunliches erlebt. Allein die Vorgeschichte der Reise nach Paris klingt schon außergewöhnlich.
Es begann im Frühjahr 1858. Damals wurde bekannt, dass der amerikanische Meister Paul Morphy aus New Orleans von New York aus zu einer Schiffsreise nach Europa aufbrechen werde. Nachdem die Amerikaner keine internationalen Turniere auf die Beine stellen konnten, wollte der 21jährige Champion vor Ort mit Europas besten Spielen seine Kräfte messen. Nicht verwunderlich, dass London der erste Reisestopp war. Sein Ziel, mit dem britischen Champion Howard Staunton einen Wettkampf austragen zu können, erfüllte sich nicht. Als Staunton immer wieder mit fadenscheinigen Ausreden absagte, wurde Morphy der Warterei überdrüssig und er reiste nach Paris weiter.
Allerdings hatte er sich die Wartezeit damit vertrieben die anderen Meisterspieler allesamt ziemlich deutlich zu schlagen. So sah die Liste der Geschlagenen aus: Morphy gegen Barnes 19:6; gegen Bird 10:1, gegen Boden 5:1; gegen Löwe 6:0; gegen Löwenthal 10:4; gegen Fürst Montgredien 2:0; gegen Owen 4:1.
In Paris fühlte sich Morphy wohl. Vor allem hatte er keine sprachlichen Probleme. Mit einem Spanier zum Vater und einer Französin zur Mutter beherrschte Sohn Paul neben Englisch auch die Muttersprachen der Eltern, zumal in jener Zeit in Louisiana mehr französisch und spanisch als englisch gesprochen wurde.
Morphy wurde von den Schachanhängern in Paris mit großer Begeisterung begrüßt und war in den folgenden Wochen ein häufiger Gast in der Rue Saint-Honoré Nummer 121. Dort war das Café de la Régence beheimatet. Nach etlichen Siegen gegen französische Meister und gefeierten Blindsimultanveranstaltungen wurde Morphy zum Star und mit jedem Erfolg ein bisschen mehr Franzose.
Bis dahin war Daniel Harrwitz im Café de la Régence der ungekrönte König gewesen. Harrwitz, wie Anderssen gebürtiger Breslauer, war im Café als Schachmeister angestellt. Natürlich wollte man nun das Duell der Champions sehen. Die Fans von Harrwitz brachten rund 400 Francs als Einsatz für einen Wettkampf mit Morphy auf, der dies akzeptierte und die gleiche Summe setzte. Das Match, das über sieben Gewinnpartien gehen sollte, begann für den Lokalmatadoren äußerst vielversprechend: die ersten beiden Partien gewann Harrwitz überzeugend.
Doch dann hatte sich Morphy auf seinen Gegner eingestellt und erzielte vier Siege und ein Remis. Harrwitz zeigte Wirkung und bat wegen Unwohlseins darum, den Wettkampf für eine Woche zu unterbrechen. Die Pause wurde gewährt, aber änderte nichts. Es folgte die nächste Niederlage. Als Harrwitz erneut eine Pause forderte, lehnte Morphy ab, worauf der Breslauer den Kampf aufgab.
Nach den Regeln stand Morphy das Preisgeld zu. Dies beanspruchte er jedoch nicht, weil er ja keine sieben Siege erzielt habe. Er stellte nur eine Bedingung: Für die fünf Gewinne würden ihm anteilig 295 Francs (damals etwa 250 Goldmark) zustehen. Diese Summe solle Harrwitz in einem Einladungsbrief Adolf Anderssen als Unterstützung der Reisekasse anbieten. Als der Deutsche akzeptierte konnte Morphy, der sich in Paris wohlfühlte, die Reise nach Berlin absagen. Dafür bot er an über Winter in Paris zu bleiben, damit Anderssen wegen der Reise in die französische Metropole nicht unter Zeitdruck kam. Dass Paul Morphy den Verlierer Harrwitz als „Sponsor“ titulierte, der seinem Landsmann unterstützte, spricht für sein diplomatisches Geschick und einem gewissen Sinn von hintergründigem Humor.
Anderssen nahm die Offerte an und reiste zwei Monate später, im Dezember 1858 nach Paris. Kaum angekommen erhielt Anderssen auch schon eine betrübliche Nachricht: Morphy war erkrankt und konnte nicht antreten. Er bat um eine Woche Aufschub, den Anderssen natürlich gewährte. Er nutzte die Zeit zu einem Wettkampf und die „Breslauer Krone“ mit Harrwitz. Den gewann Anderssen mit 4:2 (+3 =2 -1).
An das alles denkt Adolf Anderssen nicht, als er in die Rue du Dauphin einbiegt. Sein Ziel ist wie schon an vier Tagen zuvor das Hotel Breteuil. Dort ringt er mit dem amerikanischen Meister um den Sieg, für den sieben Siege nötig sind. Nach einem Erfolg in der ersten und einem Remis in der zweiten Runde hatte er zwei Niederlagen kassiert. Heute, an Heiligabend, soll es wieder besser werden.
Anderssen betritt den kleinen Saal im ersten Stock des Hotels. Dort erwarten ihn zur sechsten Partie Paul Morphy und die eingeladenen französischen Meister, unter ihnen St. Amant, de Rivière, Lesquesne und Mortimer. Bei diesem ungewöhnlichen Zweikampf – keine Zuschauer, nur wenige geladene Meister und kein Geldeinsatz – beginnt Anderssen mit einem ungewöhnlichen Zug 1. a3!
Nach dem Sieg in der fünften Runde war Morphy auf der Siegerstraße. Nach nur elf Partien hatte der 21jährige Amerikaner den großen Kämpfer Anderssen bezwungen. 8:3 (+7 =2 -2) lautete der Endstand für Paul Morphy.
Adolf Anderssen zeigte sich auch in der Niederlage als großer Meister. Ohne Abstriche und ohne Ausreden erkannte er die hohe Klasse seines Gegners an. In einem Brief an den großen Schachtheoretiker Tassilo Baron von Heydebrand und der Lasa schrieb Anderssen:
„Wer mit Morphy spielt lasse jede Hoffnung schwinden, daß derselbe in irgend eine noch so fein angelegte Schlinge gehen werde, sondern nehme an, daß sie so klar vor Morphys Augen liege, daß von einem Fehltritt gar nicht die Rede sein kann; vielmehr wenn man Morphy einen Zug machen sieht, der uns beim ersten Anblick als günstig für uns gefällt, so prüfe man den Zug ja recht genau und es wird sich dann immer zeigen, daß derselbe nur zu richtig ist und daß jede vermeintliche Ausnutzung desselben nachteilig ausfallen würde. Am verderblichsten aber ist es Morphy gegenüber, bei einer selbst entschieden besseren Stellung und starkem Angriffsspiel sich des Sieges für gewiß zu halten.
Der Eindruck, den Morphy auf mich gemacht hat, kann ich nicht treffender schildern, als wenn ich sage, er behandelt das Schach mit dem Ernste und der Gewissenhaftigkeit eines Künstlers; denn wenn uns die Anstrengung, die eine Partie kostet, nur eine Sache des Vergnügens ist und sie bei uns nur solange anhält, als sie Vergnügen gewährt; so ist sie ihm dagegen eine heilige Pflicht, und nie ist ihm eine Partie Schach nur Zeitvertreib, sondern immer ein würdiges Problem, immer gleichsam Berufsarbeit, immer gleichsam ein Akt, durch welchen er seine Mission erfüllt.“