Alan Turing

von André Schulz
07.06.2004 – Vielleicht war Alan Turing einer der größten Mathematiker, die England je hervor gebracht hat, auf jeden Fall der Wichtigste. Mit seiner Arbeit im streng geheimen Projekt "Ultra" rettete er die Engländer vor der Niederlage zu Beginn des Zweiten Weltkrieg und half später den Krieg zu verkürzen. Er baute den ersten programmierbaren Computer der Welt und programmierte das erste Schachprogramm, die Turing- Engine. Wegen seiner Homosexualität von den englischen Behörden nach dem Krieg als Sicherheitsrisiko angesehen, mit Nachstellungen und Prozessen konfrontiert, setzte er seinem wenig märchenhaften Leben heute vor 50 Jahren, am 7.Juni 1954, wenigstens ein solches Ende. Er aß einen vergifteten Apfel. Die goldene Gans, die niemals schnattert...

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Die goldene Gans, die niemals schnattert
Von André Schulz

In der Zeit zwischen 1939 und 1945 kam es häufiger vor, das Bewohner des Örtchens Bletchley sich furchtbar erschraken. Die Ursache waren nicht etwa deutsche Luftangriffe. Nur einmal hatte ein  deutscher Bomber seine sechs Bomben auf Bletchley abgeworfen. Und treffen wollte er eigentlich die 4 Meilen nördlicher gelegenen Wolverton Werke. Nein, es war Alan Turing, der mit seinem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Im Frühling trug er dabei eine Gasmaske und manche, die ihn sahen, dachten bei seinem Anblick deshalb an einen deutschen Giftgasangriff. Turing litt jedoch an Heuschnupfen und mit der Gasmaske ging es ihm besser.

Das Projekt „Ultra“  und der erste Computer

Seit Anfang des Krieges arbeitete Turing (23.6.1912-7.6.1954) mit vielen anderen in dem geheimsten Projekt der Engländer während des Zweiten Weltkrieges – dem Unternehmen „Ultra“. „Ultra“ wurden von der englischen Führung  alle Vorgänge genannt, die mit dem Abhören und Decodieren von Funksprüchen der Kriegsgegner, vor allem der Deutschen, aber auch der Italiener und Japaner zu tun hatten. Für dieses Projekt hatte die englische „Goverment Code and Cipher School (GC&CS)“ etwa 80 km nördlich von London ein unauffälliges Landhaus inklusive Grundstück gekauft – Bletchley Park. Am Anfang arbeiteten hier 200 Leute, zum Schluss des Krieges waren es 7000. Alle Unterkünfte in größerem Umkreis, privat bei Familien oder in öffentlichen Gebäuden, waren von den Bletchley- Mitarbeitern belegt. Und keinem war es erlaubt über das zu sprechen, was in den Gebäuden des Parks vor sich ging. Die meisten kamen wie Turing mit dem Fahrrad – natürlich ohne Gasmaske. Meist waren es alte Klappergestelle - die Fabriken in England waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als Fahrräder zu bauen. Bei Turings Drahtesel sprang ständig die Kette ab, alle 14 Umdrehungen, wie Turing zu beobachten glaubte, so dass er nach immer 13 Umdrehungen anhielt und den Sitz der Kette korrigierte. Turing war nämlich Mathematiker.

Dass die europäische Geschichte ihren Verlauf so nahm, wie er jetzt in den Geschichtsbüchern nachzulesen ist, daran hat Turing einen gewaltigen Anteil, so groß, dass man ihn kaum ermessen kann. Ohne ihn würden wir Sie in diesem Moment wohl nicht Im Internet ChessBase-Online lesen, sondern eventuell den Völkischen Beobachter in der Hand halten oder noch sehr viel wahrscheinlicher die Prawda.

Turing war zudem der erste, der einen programmierbaren Computer konstruierte. Die Idee dazu hatte er bereits 1936 in seiner Schrift „On computable Numbers“ formuliert. 1943-44 wurde „Collossus“ entwickelt und in Bletchley genutzt. Der Beweis dafür, dass ein Computer, eine Denkmaschine“  auch wirklich „denken“ kann, war für Turing dann erbracht, wenn dieser in der Lage wäre, Schach zu spielen. Ein Computer, der Schachpartien spielte, wäre dem menschlichen Hirn weitaus ähnlicher als eine reine Rechenmaschine, die nur Zahlen addiert. Also schreib Alan Turing auch noch das erste Schachprogramm der Welt und spielte damit Partien, indem er selber den Computer simulierte und gemäß den Regeln seiner Programmierung, die er vom Blatt ablas, die Züge ausführt.

Die Enigma

Schon 1939, noch vor Ausbruch des heran nahenden Krieges wurden in den Gebäuden von Bletchley Park Linguisten, Mathematiker, Verschlüsselungsspezialisten, Schachspieler und andere Tüftler versammelt, um sich mit der Entschlüsselung feindlicher Funksprüche zu befassen. Die vorhandenen Gebäude reichten bald nicht aus und es wurden einige Holzbaracken auf dem Gelände hinzu gefügt, die man durchnummerierte und z.B. Hut 4 (Hütte vier), Hut 6 oder Hut 8 nannte.

Um Nachrichten über den abhörbaren Funk sicher übermitteln zu können, war es notwendig diese zu verschlüsseln. Dazu verwendeten die Deutschen mehrere Maschinen, die bekannteste war die Enigma. 1918 von Arthur Scherbius für die Verschlüsselung von militärischen, aber auch zivilen Nachrichten, z.B. bei Banktransaktionen entwickelt, wurde die Enigma ab 1925 von der Deutschen Wehrmacht, aber auch Regierungsstellen als Standardverschlüsselungsmaschine eingesetzt.

Die Enigma verschlüsselte Nachrichten mit Hilfe von drei drehbaren Walzen, die mit einander verbunden waren. Gab man auf der Tastatur, die aussah wie die einer Schreibmaschine, einen Buchstaben ein, sah kam am anderen Ende ein ganz anderer heraus. Gab man den gleichen Buchstaben erneut ein, wurde dieser wieder ganz anders verschlüsselt, denn die Walzen drehten sich bei Verwendung der Tastatur immer um eine Stelle weiter. Außerdem konnte man über Steckverbindungen an der Tastatur Buchstabenpaare miteinander tauschen, wodurch sich neue Verschlüsselungen ergaben.

Schon vor dem zweiten Weltkrieg hatte das polnische Biuro Szyfrow mit dem Versicherungsmathematiker Marian Rejewski das Geheimnis der Enigma gelüftet. Rejewski hatte auch schon eine Maschine gebaut, die die Verschlüsselungen der drei Walzen der Enigma in Einzelverschlüsselungen auflöste und simulierte. Er nannte sie Bomba. Bei Beginn des Krieges schafften sie zwei Nachbauten der Enigma in den Westen. Im Gepäck des Theaterregisseurs Sascha Guitry gelangten sie unentdeckt nach England und dort in den Bletchley Park. Außerdem vermittelte Rejewsky den Engländern das Prinzip der Enigma und den Lösungsansatz zur Entschlüsselung.

Zu Beginn des Krieges hatten die Deutschen zwar die Anzahl der verschiedenen einsetzbaren Walzen erhöht, doch da die Codebreakers in Bletchley wussten, wie die Verschlüsselung funktioniert, waren sie bald in der Lage, den deutschen Funkverkehr komplett mitzuhören.

Erfolgreiche Codebreakers mit Schachspielern

Von Anfang an lagen fast alle strategischen und taktischen Pläne der deutschen Wehrmacht wie ein offenes Buch vor der englischen Kriegsleitung. Es war so, als ob die Westmächte, die UdSSR und Deutschland eine Runde Skat miteinander spielten, wobei die Westmächte über jedes Blatt der Deutschen im Detail informiert waren. Das einzige Problem der Engländer war am Anfang, dass sie keine militärischen „Asse“ zum Ausspielen hatten. Immerhin halfen ihnen die „Codebreakers“, erst einmal der vollständigen Niederlage zu entgehen. 

Die Engländer kannten zu Beginn des Krieges die genauen Angriffspläne der Deutschen im Westen. Sie wussten, wie Luftmarshall Göring seinen Angriff auf England plante. Sie wussten, welche Strategie die Deutschen bei ihren Luftangriffen verfolgten, wie viele Kräfte zur Verfügung standen, welche Probleme es gab und konnten jeweils entsprechend reagieren. In einem Brief warnte Churchill Stalin vor dem deutschen „Unternehmen Barbarossa“, dem Angriff auf die Sowjetunion. Auch hier hatten die Engländer schon den deutschen Funkverkehr mitgehört und kannten die deutschen Aufmarsch- und Zeitpläne. „Ultra“ half später entscheidend, die Schlacht in Afrika zugunsten der Briten zu entscheiden. Die Nachschubkonvois der Deutschen aus Italien wurden allesamt versenkt, wenn sie Waffen enthielten. Proviantschiffe ließ man durch, weil man kalkulierte, dass man in Afrika später eine Menge Kriegsgefangener zu versorgen hatte.

Damit die Deutschen keinen Verdacht schöpften, erfand man Agenten und dankte ihnen über Funkfrequenzen, die von den Deutschen abgehört wurden. Oder man schickte Aufklärungsflugzeuge los, die die Konvois erst „entdecken“ mussten. Der Einbruch in den deutschen Marinecode hatte entscheidende Auswirkungen in der U-Boot Schlacht im Atlantik. Zwischendurch hatten Turing und seine Kollegen allerdings große Schwierigkeiten zu überwinden, weil die deutsche Marine zusätzliche Walzen eingeführt hatte. In dieser Zeit hatte ein englischer Geheimdienstmitarbeiter die abenteuerliche Idee, einen eroberten deutschen Bomber mit englischen Piloten in deutschen Uniformen in der Nähe eines deutschen U-Bootes abstürzen zu lassen. Bei der Rettung sollten sie das Boot kapern und sich in den Besitz der Codebücher bringen. Das Projekt konnte niemals realisiert werden. Später lebte der Secret Service Mann seine Phantasien auf Papier aus: Es war Ian Fleming, der Erfinder von James Bond. Die Idee wurde vor dem Hoolywoodstreifen „U571“ in modifizierter Form verfilmt.

Wichtige Abhörergebnisse lieferte „Ultra“ auch bei Eroberung Italiens, bei der Landung in der Normandie und bei der raschen Offensive in Frankreich. Selbst als die Amerikaner schon im Gebiet des Deutschen Reiches standen, leisteten die Informationen General Patton wertvolle Dienste, um zwischen den deutschen Restverbänden hindurch möglichst schnell an die Elbe vorzustoßen und dort die verbündeten Russen an die Vereinbarungen von Jalta zu erinnern.

Die Codebreakers lieferten unentwegt Nachrichten, die mit großer Geschwindigkeit nach Wichtigkeit sortiert und weitergeleitet wurden. Nur ganz wenige wussten von der Existenz der geheimsten aller britischen Einrichtung, die Churchill, „meine goldene Gans, die niemals schnattert“ nannte. Die Pläne der Deutschen waren oft so schnell bekannt, dass Hitler eigentlich auch persönlich bei Churchill hätte anrufen können, um Bescheid zu sagen, was man als nächstes vorhabe.

Neben Mathematikern wie Alan Turing arbeiteten Sprachwissenschaftler und alle möglichen Tüftler in Bletchley an der Entschlüsselung. Und eine Reihe von bekannten Schachspielern! Es war praktisch die ganze englische Nationalmannschaft, bei Kriegsausbruch noch in Buenos Aires bei der Schacholympiade aktiv, die sich bald in den Blechtley-Hütten einfand und während des Krieges statt Schach- Nachrichtenvarianten entschlüsselte: Hugh Alexander, Stuart Millner-Barry, Harry Golombek.

Nichts gelernt: Vom Zimmermann-Telegramm zur Enigma

Es ist erstaunlich, dass die Deutschen niemals ernsthaft prüften, ob ihr Funkverkehr tatsächlich so sicher war, wie sie glaubten. Schließlich ging einiges, was sie vorhatten, auf seltsame Weise gründlich schief. Noch erstaunlicher ist dieser Umstand, wenn man weiß, dass die Engländer mit den gleichen Mitteln bereits den Ersten Weltkrieg gewonnen hatten. Allerdings sind die Fakten selbst heute kaum allgemein bekannt, so dass man annehmen kann, dass sie auch in Vierzigern kein Allgemeingut waren. 1917 fingen die Engländer ein verschlüsseltes Telegramm des deutschen Außenministers Zimmermann ab, in dem dieser Mexiko zu einem Angriff auf die USA bewegen wollte. Ziel war es, die Amerikaner zuhause zu beschäftigen und vom Kriegseintritt in Europa fernzuhalten. Das Gegenteil wurde erreicht. Die englische Codebreakers von „Room 40“ entschlüsselten die Botschaft und legten sie den Amerikanern vor, die daraufhin Deutschland den Krieg erklärten. Bis 1923 ahnten die Deutschen nicht, wie die Zimmermann-Depesche in die Hände des Feindes geraten waren. Erst als die Royal Navy die offizielle Geschichte des Ersten Weltkrieges veröffentlichte, worin auch die Entschlüsselung der Zimmermann-Depesche erwähnt wurde, kam die Wahrheit ans Tageslicht. Die Veröffentlichung dieser Fakten erzeugte bei den deutschen Militärs zwar die Einsicht, dass eine bessere Verschlüsselung nötig war. Dies führte dann zwar zur Einführung der Enigma, die ab 1925 in Serie gefertigt wurde und von der man insgesamt über 30.000 Exemplare baute. Doch gleichzeitig lullte die Enigma und ähnliche Maschinen die deutsche Kriegsleitung ein, die tatsächlich glaubte, das Problem ein für alle mal gelöst zu haben.

Die vollständige Geheimhaltung um „Ultra“ dauerte bis weit nach dem Krieg an. Erst nachdem der ehemalige Secret Service-Mann Frederick Winterbotham 1974 sein Buch „Ultra“ veröffentlichte, wurde sie aufgegeben. Viele Zeitzeugen sind inzwischen gestorben, ihre Erinnerungen verloren. Viel verbleibt im Dunkel. Den Helden von damals blieb die öffentliche Anerkennung versagt. Erst heute weiß man, welchen Dienst Alan Turing und seine Mitstreiter Europa und der Welt erwiesen haben.

Man sollte denken, dass ein Genie wie Turing mit diesen Verdiensten von seinem Heimatland hoch dekoriert und geehrt werden würde. Doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Turing war homosexuell, eine Eigenschaft, die unter den Intellektuellen Englands, von denen die meisten in gleichgeschlechtlichen Internaten aufgewachsen waren, nicht eben selten war. Aber man gab es nicht öffentlich zu, denn es war gesetzlich verboten. Turing machte aus seiner Veranlagung jedoch kein Geheimnis und wurde für die Behörden dadurch zu einem Sicherheitsrisiko. Nach dem Krieg wurde er nach einem Zwischenfall mit einem seiner Geliebten zu einer Hormonbehandlung gezwungen und sah sich Nachstellungen des Secret Service ausgesetzt.

Turing, der eine unglückliche Kindheit in englischen Internaten verbrachte, während seine Eltern in Indien im Kolonialdienst arbeiteten, dessen erste große Liebe, ein Mitschüler, überraschend an Tuberkulose starb und der seine größten Erfolge als Wissenschaftler im Geheimen erzielen musste, hatte bestimmt kein märchenhaftes Leben. Doch er setzte diesem ein solches Ende. Am 7.Juni 1954, heute vor 50 Jahren, aß er einen vergifteten Apfel.

Am 23.Juni 2001, Turings Geburtstag, wurde in Manchester im Auftrag des Alan Turing Memorial Fund ein von Glyn Hughes geschaffenes Denkmal aufgestellt.

Nachprogrammierung der Turing-Engine

Seit Turing wird die Leistungsfähigkeit von Computern, ihre „Intelligenz“, mit der Spielstärke im Schach gemessen. Turings „Collossus“, der erste programmierbare Computer, wird derzeit in England rekonstruiert. Turings Schachprogramm, das erste Schachprogramm der Welt, war ein Papierprogramm, für das es damals noch keinen Rechner gab. Turing selbst simulierte in der einzig übermittelten Partie den Computer und errechnete die Züge anhand seiner Programmierung. 

Mathias Feist ist Co-Autor der Schachengine von Fritz und hat mit Hilfe von Ken Thompson, dem Miterfinder des Betriebsystems Unix, die Turing-Engine in moderne Maschinensprache übersetzt und als Schachengine für die Fritz-Schachoberfläche programmiert. Wer das Schachprogramm Fritz (ab Version 6) hat, kann die Turing-Engine downloaden und gegen das Programm spielen, das Alan Turing wahrscheinlich in seiner Zeit in Bletchley Park entwickelt hat, wenn er nicht gerade an der Entschlüsselung der Enigma tüftelte. Die Turing-Engine ist der Beginn maschinellen Denkens, das kybernetische erste Rad. „Es ist keine sehr gute Engine, aber auf den heutigen Rechnern erreicht sie Suchtiefen, an die Turing wahrscheinlich nie gedacht hat. Einfach zu schlagen ist sie ganz bestimmt nicht,“ meint Mathias Feist.

Material:

Texte zur Turing-Engine und zu dessen Nachprogrammierung...
Die erste Partie der Turing-Engine zum Nachspielen...
Die Turing Engine als Fritz-Engine zum Download auf der Downloadseite ...
 

Links:

Bletchley Park...
Alan Turing Homepage...
Alan Turing Project...
Das Zimmermann-Telegramm...

 

 

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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