ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024
ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan
Nach den Zügen 1.e4 e5 2.Sf3 kann Schwarz durch 2. ... d6 dem Weißen die Tour vermasseln, wenn dieser gerne Spanisch, Schottisch, Italienisch oder das Evans-Gambit spielt. Der Preis, den er dafür zahlt, besteht in einer etwas beengten Stellung, weil der Bauer d6 den Läufer f8 am Herausziehen hindert. Dass dies nicht unbedingt viel heißen muss, zeigt die beeindruckende Bilanz von Weltmeister Alexander Aljechin (1892 - 1946) mit dieser Eröffnung. Wie spielte Aljechin die Philidor-Verteidigung und warum war er damit so erfolgreich?
Als ich neulich in der ersten deutschen Ausgabe des Standardwerks "Moderne Schacheröffnungen" von Walter Korn und Larry Evans aus dem Jahre 1967 blätterte, stieß ich auf folgende, erstaunliche Behauptungen:
"Philidor hat die Philidor-Verteidigung nie gespielt! Nimzowitsch (ausgerechnet er!) fand, sie sei zu exzentrisch! Und Aljechin erlebte mehr als einmal das Schlimmste, wenn er sie spielte." (a)
Das klingt ja nicht gerade einladend. Wenn man den Autoren glauben möchte, scheint Philidor so wenig Vertrauen in seine eigene Eröffnung gehabt zu haben, dass er sie selbst niemals spielte. Und Aljechin, oh je, dem muss es ja wirklich an den Kragen gegangen sein, wenn er sie anwandte. Doch ich bin von Natur aus skeptisch und halte mich hier wie auch sonst gerne an einen nützlichen, von dem russischen Meister E. A. Snosko-Borowsky aufgestellten Grundsatz, der da lautet: "Nimm nichts auf Treu und Glauben hin, sondern prüfe und überlege selbst!" (b) Fragen wir uns daher: Stimmt das alles?
Der Komponist und Musiker André Danican Philidor (1726 - 1795) galt als der stärkste Schachspieler des 18. Jahrhunderts. Er bevorzugte einen positionellen Spielstil und legte besonderen Wert auf die richtige Bauernführung. Von ihm stammt der Ausspruch "Die Bauern sind die Seele des Spiels". Kombinatorisch stand er nicht auf der gleichen Höhe und verpasste mitunter günstige taktische Gelegenheiten. Gegen das Königsspringerspiel 1.e4 e5 2.Sf3 empfahl er die Verteidigung 2. ... d6, die er für so stark hielt, dass er davon abriet, 2.Sf3 zu spielen. Sollte er tatsächlich seine eigene Verteidigung nie gespielt haben?
In der MEGA Database von ChessBase fand ich insgesamt 39 Partien, in denen Philidor Schwarz hatte. Leider sind 27 von ihnen Vorgabe-Partien. In den meisten von ihnen spielte Philidor entweder mit einer Figur weniger oder ohne den Bauern f7. Durch dieses damals gängige Verfahren versuchte man, Unterschiede in der Spielstärke auszugleichen. Damit bleiben allerdings nur noch 12 reguläre Partien übrig, von denen noch dazu keine einzige mit dem Königsspringerspiel eröffnet wurde. Fünfmal sehen wir das Königsläuferspiel 2.Lc4, dreimal das Königsgambit 2.f4. Dreimal verteidigte sich Philidor Sizilianisch 1.e4 c5, und einmal kam das angenommene Damengambit 1.d4 d5 2.c4 dxc4 aufs Brett.
Aufgrund dieser spärlichen Datenbasis zu schlussfolgern, dass Philidor niemals seine eigene Verteidigung spielte, erscheint mir jedoch zumindest abenteuerlich. Philidor hat in seiner langen Laufbahn sicher mehr als nur 12 Partien ohne Vorgabe mit Schwarz gespielt, von denen die meisten entweder nicht aufgezeichnet wurden oder jedenfalls nicht erhalten geblieben sind. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit befanden sich darunter auch etliche, die mit 1.e4 e5 2.Sf3 d6 begannen. In seinem 1749 erschienenen Werk "Analyse du jeu des Echécs" (Analyse des Schachspiels) bringt er jedenfalls vier Musterpartien, die allesamt mit einem Sieg von Schwarz endeten, ohne jedoch anzugeben, von wem diese gespielt wurden. (c) Es würde mich nicht wundern, wenn er eigene Partien zur Grundlage seiner Ausführungen genommen hätte.
Wenn wir uns Aljechins Behandlung der Philidor-Verteidigung ansehen und sie mit der von Philidor empfohlenen vergleichen, so bemerken wir einen grundlegenden Unterschied. Philidor spielte 2. ... d7-d6, um anschließend mit 3. ... f7-f5 fortzusetzen und auf diese Weise das weiße Zentrum zu erschüttern. Die moderne Eröffnungstheorie weiß, dass dies zu riskant ist. Kein Wunder, denn f7-f5 schwächt den Königsflügel, und Schwarz spielt als Nachziehender auch noch mit einem Tempo weniger! Das kann nur gut gehen, wenn Weiß nicht die stärkste Fortsetzung trifft, was bei dem damaligen Niveau der Schachspieler sicher häufig vorkam.
Aljechin dagegen vermied ein frühzeitiges f7-f5 und deckte stattdessen den Bauern e5 durch Sb8-d7, wodurch Schwarz unter einigen Mühen seinen Zentrumsstützpunkt behauptet. Dieses Verfahren im Zusammenhang mit den weiteren Zügen c7-c6 und Dd8-c7 wurde ursprünglich von dem Amerikaner J. M. Hanham (1840 - 1923) empfohlen. Es ist damit weitaus defensiver als Philidors ursprünglicher Plan. Wenn wir diese Vorgehensweise als die "moderne" Behandlungsweise verstehen, so lässt sich schon eher behaupten, dass Philidor die Philidor-Verteidigung (in ihrer heutigen Form) wahrscheinlich niemals spielte. Warum wohl?
Auf den ersten Blick sieht die nach 1. ... e7-e5, 2. ... d7-d6 und 3. ... Sb8-d7 entstehende Stellung wie ein schlechter Witz aus. Schwarz schließt freiwillig beide Läufer ein, nur um auf e5 einen Bauern im Zentrum zu behaupten. Die damaligen Schachspieler hätten so eine verkniffene Eröffnung wohl kaum ernst genommen, galt es doch, den Angriff und das "freiere Spiel" zu erlangen. Wenn man bedenkt, dass Aljechin am Brett erheblich stärkeren Gegnern gegenübersaß als seinerzeit Philidor, würde es niemanden wundern, wenn er mit so einer Strategie "mehr als einmal das Schlimmste erlebte". Wenn man sich jedoch seine Partien ansieht, so ergibt sich ein völlig anderes Bild.
Alexander Aljechin | Foto: Wikimedia
Ob Großmeister Aaron Nimzowitsch (1886 – 1935) die Philidor-Verteidigung für "zu exzentrisch" hielt, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er sie laut der MEGA Database von ChessBase in Turnieren und Wettkämpfen (mindestens) 13-mal mit Schwarz gespielt und dabei ein Ergebnis von +4 -3 =6 erzielt. Noch weitaus erfolgreicher war allerdings Weltmeister Alexander Aljechin: In den mir zugänglichen Quellen (4 Bücher von Aljechin, MEGA Database und ChessBase DVD "Weltmeister Aljechin" von Robert Hübner) fand ich insgesamt 15 Partien, in denen Aljechin die Philidor-Verteidingung anwandte, davon zehn in Turnieren und Wettkämpfen gespielte. Von diesen zehn Turnier- und Wettkampfpartien gewann Aljechin sieben, remisierte zwei und verlor nur eine einzige. Ein solches Ergebnis von 80 % aller möglichen Punkte kann sich sehen lassen!
Die übrigen fünf Partien, darunter zwei Fernpartien, eine Schaupartie, eine Simultan- und eine Blindpartie, gewann Aljechin allesamt. Das macht zusammen 12 Siege bei nur einer Niederlage, und das mit Schwarz und der Philidor-Verteidigung! Wenn dies alle Partien sind, in denen er sich dieser Verteidigung bediente, dann hätte Walter Korn unrecht, wenn er behauptet, dass Aljechin "mehr als einmal das Schlimmste erlebte, wenn er sie spielte". Kennt irgendein Leser eine zweite Verlustpartie? Zweimal ist ja immerhin mehr als einmal, aber so schlimm wäre das auch wieder nicht und sicher kein Argument gegen die Philidor-Verteidigung.
Sehen wir uns eine typische Aljechin-Partie mit dieser Eröffnung an. In der folgenden Wettkampfpartie wird der ursprünglich aus Polen stammende und später in Moskau ansässige Meister und Schachtheoretiker Benjamin Blumenfeld (1884 - 1947) Opfer eines überraschenden Mattüberfalls, den Aljechin mit einem Damenopfer krönt:
Blumenfeld war kein schwacher Spieler. 1906 belegte er bei einem Turnier in Moskau hinter Georg Salwe den geteilten zweiten Platz, punktgleich mit Großmeister Akiba Rubinstein. Von ihm stammt das Bauernopfer 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 c5 4.d5 b5!? ("Blumenfeld-Gambit"), das Aljechin selbst im Jahre 1922 gegen den deutschen Großmeister Dr. Siegbert Tarrasch mit Erfolg anwandte.
1910 verlor Aljechin tatsächlich einmal mit der Philidor-Verteidigung, und zwar gegen den WM-Kandidaten Carl Schlechter:
Eine interessante Partie, welche schön die Ausützung positioneller Schwächen (schwarze Felder, 8. Reihe) zeigt. Die moderne Theorie hat, wie wir in der Analyse gesehen haben, inzwischen eine Verstärkung des schwarzen Spiels gefunden. Aber auch sonst brauchte sich Aljechin über diese Niederlage nicht allzusehr zu grämen, denn der Wiener Großmeister Carl Schlechter (1874 – 1918) spielte damals in der Form seines Lebens. Im selben Jahr hielt er einen Wettkampf um die Weltmeisterschaft gegen Emanuel Lasker unentschieden, führte vor der letzten Runde sogar mit 1:0 bei 8 Remisen.
Im Dezember 1919 nahm Aljechin außer Konkurrenz an der Moskauer Schachmeisterschaft teil. Dabei erzielte er ein phänomänales Ergebnis von 11:0. Keine einzige seiner Partien endete remis! Sehr turbulent ging es dabei in seiner Schwarz-Partie gegen Boris Lyubimov zu. Erneut kam dabei die Philidor-Verteidigung zum Einsatz:
Woran liegt es, dass Aljechin mit der Philidor-Verteidigung so erfolgreich war? An ihm oder an der Eröffnung? Wenn man bedenkt, dass Aljechin 1927 den als unschlagbar geltenden kubanischen Weltmeister José Raúl Capablanca (1888 - 1942) mit 6:3 bei 25 Remisen niederrang und unzählige weitere Turnier- und Wettkampfsiege erzielte, so liegt die Antwort am nächsten, dass ein starker Spieler mit jeder halbwegs passablen Eröffnung erfolgreich sein kann. Auch der deutsche Weltmeister Dr. Emanuel Lasker (1868 - 1941) spielte des öfteren und mit großem Erfolg Eröffnungsvarianten, die als ungünstig galten. In seinem Werk "Der Weg zur Meisterschaft" beschäftigte sich der holländische Internationale Meister Hans Bouwmeester mit diesem Phänomen: "Etwas besser oder schlechter stehen - was ist das eigentlich? - sei für einen starken Spieler nicht so wichtig, meint Lasker. Die meisten Partien würden gewonnen durch Aufmerksamkeit und Genauigkeit in den kritischen Phasen." (c)
So wird es wohl auch in den Partien Aljechins gewesen sein. Gerade in den komplizierten und unübersichtlichen Stellungen wie sie sich nach der Deckung des Bauern e5 durch d7-d6 und Sb8-d7 ergaben, fand er sich besser zurecht als die meisten seiner Gegner.
Aljechin (links) und Capablanca | Foto: Wikimedia
Alles Wissenswerte zur Philidor-Verteidigung und über Weltmeister Alexander Aljechin enthalten die folgenden Chessbase-DVDs:
Master Class Band 3: Alexander Aljechin
Phantastische Taktik und glasklare Technik. Das waren die Markenzeichen auf Aljechins Weg zum WM-Titel 1927. Das Team Rogozenco, Marin, Reeh und Müller stellt Ihnen den 4. Weltmeister und sein Schaffen vor. Inkl. interaktivem Test zum Mitkombinieren!
Fast alle verfügbaren Partien von Philidor, Aljechin und Nimzowitsch enthält die MEGA Database:
(a) Walter Korn, "Moderne Schacheröffnungen", erste deutsche Ausgabe, Hamburg 1967, S. 112. Großmeister Larry Evans ist insoferne als Co-Autor anzusehen, da die deutsche Übersetzung auf der von ihm bearbeiteten englische Ausgabe beruht.
(b) E. A. Snosko-Borowsky, "So darfst Du nicht Schach spielen", Düsseldorf 1986, S. 17.
(c) Mir liegt das Werk in einer englischen Übersetzung vor: A. D. Philidor, "Analysis of the Game of Chess", London 1777, S. 32 – 48. Die insgesamt vier Beispielpartien mit der Philidor-Verteidigung sind im "Third Game" zusammengefasst (ein Hauptspiel mit drei zusätzlichen "Back-Games").
(d) Hans Bouwmeester, "Der Weg zur Meisterschaft", Heidelberg 1980, S. 23.