Aljechin rockt die Philidor-Verteidigung (2)

von Stephan Oliver Platz
23.02.2021 – Die alte Philidor-Verteidigung 2...d6 nach 1.e4 e5 2.Sf3 wurde auch früher schon gerne unterschätzt. Welche dynamischen Möglichkeiten in der Eröffnung stecken, zeigte schon Weltmeister Alexander Aljechin, der die Philidor-Verteidigung einige Male mit gutem Erfolg anwandte. Eine Beitrag von Stephan Oliver Platz.

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Aljechin rockt die Philidor-Verteidigung (2)

Nach den Zügen 1.e4 e5 2.Sf3 kann Schwarz durch 2. ... d6 dem Weißen die Tour vermasseln, wenn dieser gerne Spanisch, Schottisch, Italienisch oder das Evans-Gambit spielt. In einem ersten Beitrag zu diesem Thema beschrieb ich, dass der langjährige Weltmeister Alexander Aljechin (1892 – 1946) die Philidor-Verteidigung mehrfach spielte und mit ihr außerordentlich erfolgreich war. Da der Artikel auf lebhaftes Interesse stieß und auch einige ChessBase-Leser interessante Hinweise lieferten, möchte ich auf einige weitere Einzelheiten eingehen und noch einige spannende Aljechin-Partien mit dieser Eröffnung vorstellen.

Aljechins positionelle Meisterleistung gegen Eduard Lasker

Eine interessante Partie mit der Philidor-Verteidigung spielte der 15-jährige Alexander Aljechin mit Schwarz gegen Eduard Lasker in Düsseldorf 1908. Wieder wählt er die Hanham-Variante, in welcher Schwarz das Zentrum durch den schrägen Zug Sb8-d7 stützt, anstatt es durch e5xd4 aufzugeben oder mit f7-f5?! den waghalsigen Philidorschen Gegenangriff gegen den weißen Zentrumsbauern zu riskieren. Durch geschicktes Manövrieren gelingt es ihm, den weißen Königsläufer zu einem Statisten zu degradieren und scheinbar mühelos durch ein Springeropfer zu gewinnen.

Noch 1951, als sein Buch „Chess Secrets“ erschien, zeigte sich Eduard Lasker überzeugt, dass er Aljechin hätte schlagen können, wenn er im 6. Zuge d4xe5 und erst anschließend 7.Dd1-b3 gespielt hätte. Er schrieb dazu: „Ein Beispiel dafür, wie das Umstellen zweier Züge eine Gewinnposition in eine Verluststellung bringen kann.“ (a) Sollte Aljechin tatsächlich in der Eröffnung derart gepatzt haben? Bei Spielern, die sich wenig um die Eröffnungstheorie kümmern, könnte man so etwas in Betracht ziehen. Aber gerade Aljechin war bekannt für seine gute Eröffnungsvorbereitung, welche sicher auch viel zu seinem grandiosen Sieg im WM-Kampf 1927 gegen Capablanca beitrug. Fragen wir uns daher: Stimmt die Geschichte von der Gewinnstellung, die Weiß durch 6.d4xe5 angeblich erlangt?

Eduard Lasker irrte sich gewaltig

Tatsächlich zeigt die Analyse der nach dem fünften Zuge entstandenen Stellung, dass Schwarz den Zug 6.d4xe5 nicht zu fürchten braucht. Aljechin hätte danach nämlich sicher nicht arglos 6. ... d6xe5? gezogen sondern einfach 6. ... Sf6xe4 gespielt. Danach ist kein Weg ersichtlich, wie Weiß in Vorteil kommen könnte. Der ganze Partieverlauf zeigt deutlich, wie überlegen der erst 15-jährige Aljechin seinem Kontrahenten war, und zwar nicht nur in taktischer, sondern auch in strategischer Hinsicht:

 

Eduard Lasker (1885 – 1981) ist der Autor des bekannten Werkes "Moderne Schachstrategie", das erstmals 1911 in Leipzig erschien. Die 9. Auflage (Berlin und New York 1978) bearbeitete der inzwischen 92-jährige noch selbst.

Edward Lasker

1914 war er in die USA ausgewandert und gewann dort mehrere Male die US-Meisterschaft. Edward Lasker, wie er sich seitdem nannte, spielte neben dem Schach auch ziemlich gut Go und galt viele Jahre lang als der beste amerikanische Go-Spieler. Einen kleinen Wettkampf gegen Aljechin verlor er 1913 mit 0:3, ebenso zwei Turnierpartien (Düsseldorf 1908 und Scheveningen 1913). Lediglich beim Großmeisterturnier in New York 1924 schaffte er es, Aljechin zweimal ein Remis abzuringen.

Aljechin war auch ein genialer Schnell- und Blitzschachspieler

Wie stark Aljechin tatsächlich schon in jungen Jahren spielte, zeigt die folgende Geschichte, die Eduard Lasker in seinem Buch „Chess Secrets“ beschrieb. Sie handelt von einer Begebenheit, die sich wenige Tage vor der obigen Partie abspielte, nämlich kurz vor Beginn des 16. Kongresses des Deutschen Schachbundes, der 1908 in Düsseldorf ausgetragen wurde und zu dem auch der starke amerikanische Großmeister Frank James Marshall (1877 – 1944) eingeladen worden war: 

„Als ich zusammen mit den anderen Spielern aus Berlin in Düsseldorf ankam, erzählte uns das Mitglied des Empfangskommittees, das uns an der Bahnstation erwartete, dass Frank Marshall, der Favorit des Meistertuniers, bereits in der Stadt sei und mit einem jungen russischen Schüler trainiere, der für das Hauptturnier gemeldet habe. Dieser 15-jährige schien stark genug zu sein, um Marshall Bauern und Zug vorzugeben, zumindest in Schnellpartien (...) [Wir] fanden bald heraus, welche Art von Schach der Junge tatsächlich spielte, als wir ihn in einigen Blitzpartien 'in Angriff nahmen'. Er gewann sie alle. Zu jener Zeit bedeutete sein Name nicht viel für uns. Aber wir konnten uns von seiner Bedeutung anhand von Schachüberschriften in den nächsten dreißig Jahren überzeugen. Denn es war niemand anders als Alexander Alexandrovitsch Aljechin.“ (a)

Alexander Aljechin

Aljechins zweite Verlustpartie

Aljechins Verlustpartie gegen Carl Schlechter im Meisterturnier des 17. Kongresses des Deutschen Schachbundes 1910 in Hamburg hatte ich in meinem ersten Beitrag zu dem Thema bereits gebracht. Vielleicht lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass Aljechin zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt war. Da kann man schon mal gegen die Nr. 2 der Welt verlieren, nicht wahr? Durch den Hinweis eines ChessBase-Lesers wurde ich auf eine zweite Verlustpartie Aljechins mit der Philidor-Verteidigung aufmerksam gemacht, die ich in der Datenbank übersehen hatte, da sie durch eine Zugumstellung auf dem Umweg über die Wiener Partie (1.e4 e5 2.Sc3) zustande gekommen war. Sie wurde zwei Jahre früher in einem im Oktober 1908 ausgetragenen Wettkampf gegen den Moskauer Meister Vladimir Nenarokov gespielt. Also hatte Walter Korn doch recht, wenn er in „Moderne Schacheröffnungen“ schrieb, dass Aljechin „mehr als einmal das Schlimmste erlebte“, wenn er die Philidor-Verteidigung spielte, nämlich insgesamt zweimal. (b)

An der Eröffnung lag es jedenfalls nicht, dass Aljechin verlor, denn nach 15 Zügen stand das Spiel noch ausgeglichen. Dann ließ er ohne Not 17.Se5:! zu. Nenarokov spielte allerdings nicht optimal weiter und stand bereits nach 19. ... Lc4! schlechter. Daraufhin setzte er alles auf eine Karte und startete einen waghalsigen Opferangriff gegen den schwarzen König, der nur deshalb Erfolg hatte, weil der junge Aljechin für die gewonnene Figur keinen zweiten Bauern hergeben wollte (23. ... Db7! -/+).  Man erkennt daran, dass Nenarokov 1908 noch stärker spielte als Aljechin. Er gewann den Wettkampf denn auch mit 3:0. Sehen wir uns diese spannende Partie einmal an:

 

IM Vladimir Nenarokov (1880 – 1953) gewann viermal die Moskauer Meisterschaft (1900, 1908, 1922 und 1924). Er dürfte einer von wenigen Schachspielern sein, der gegen Aljechin eine positive Bilanz aufzuweisen hat. Neben den drei Wettkampfpartien 1908 hatte er auch 1907 im Herbstturnier eines Moskauer Schachclubs gegen ihn gewonnen. Aljechin revanchierte sich einige Jahre später, indem er Nenarokov in Moskau 1915 und in Moskau 1918 bezwang.

Aljechin revidiert sein Urteil über die Philidor-Verteidigung

Ein ChessBase-Leser wies darauf hin, dass Aljechin in seinem Buch „Meine besten Partien 1908 - 1923“ über die Philidor-Verteidigung (mit dem Plan Sb8-d7) folgendes schrieb:

„Ich habe sie auch mehrfach angewendet, aber dann aufgegeben, da ich zu der Überzeugung gelangte, dass sie bei logischem Gegenspiel des Weißen mangelhaft ist.“ (c)

Hierzu sollte man bedenken, dass die Eröffnungstheorie in ständigem Wandel begriffen ist. Stets aufs Neue werden kritische Varianten einer Eröffnung widerlegt und wieder verstärkt. Deshalb ist auch dieses Urteil Aljechins nur als vorübergehend zu betrachten. Dass er es abgewandelt hat, erkennt man daran, dass er nach einer vorübergehenden Pause die Philidor-Verteidigung wieder spielte.

In der Mega Database von ChessBase fand ich aus späteren Jahren die folgenden Turnierpartien, in denen Aljechin die schwarzen Steine führte:

Sir George Thomas - Alexander Aljechin, Hastings 1933 (Remis nach 63 Zügen)

Lajos Steiner – Alexander Aljechin, Podebrady 1936 (0:1/30)

Friedrich Sämisch -  Alexander Aljechin, Prag 1942 (Remis nach 43 Zügen)

Jaromir Florian -  Alexander Aljechin, Prag 1943 (0:1/43)

Das sind 3 aus 4 (75 %), und das mit Schwarz und der Philidor-Verteidigung.

Aljechin zerlegt IM Lajos Steiner

In der folgenden Partie provoziert Aljechin den ungarischen Meister Lajos Steiner durch einen vorzeitigen Damenausflug und lässt sich dann sogar noch auf einen riskanten Bauernraub ein. Es kommt zu taktischen Verwicklungen, in denen Steiner den Faden verliert. Nach nur 30 Zügen muss er in aussichtsloser Stellung kapitulieren:

 

Lajos Steiner (1903 – 1975) war kein schwacher Spieler. In Kecskemét 1927 belegte er hinter Aljechin den zweiten Platz (geteilt mit GM Aaron Nimzowitsch). 1936 gewann er die ungarische Meisterschaft. 1939 wanderte er nach Australien aus und siegte dort mehrmals bei den australischen Meisterschaften. In zwei Turnierpartien konnte er gegen Aljechin remis halten (in  Kecskemét 1927 und auf der 6. Schacholympiade in Warschau 1935), während er vier andere gegen ihn verlor.

Die Eröffnungstheorie wird sich auch in Zukunft wandeln

Dass die Eröffnungstheorie im Wandel begriffen ist, erkennt man auch leicht an folgendem Umstand: In den drei anderen oben angeführten Turnierpartien spielte Aljechin nach 1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 sofort Sd7, obwohl er in seinem Buch „Meine besten Partien 1908 – 1923“ die Zugumstellung 3. ... Sf6 4.Sc3 Sbd7 als besser empfohlen hatte. Zu 3. ... Sg8-f6 schrieb er auf S. 109: „Dieser Zug, von Nimzowitsch in die Turnierpraxis eingeführt, gilt nicht ohne Grund für stärker als 3. ... Sb8-d7.“ (d) Also hat auch hier wieder eine Neubewertung stattgefunden und Aljechin ist zu dem Schluss gekommen, dass man Sb8-d7 auch ohne vorheriges 3. ... Sg8-f6 spielen kann. Wer die Philidor-Verteidigung in sein Eröffnungsrepertoire aufnehmen möchte, sollte daher auf dem laufenden bleiben und wissen, was die neueste Theorie dazu sagt.

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Quellen und Anmerkungen:

(a) Auszüge aus Edward Laskers Buch "Chess Secrets – I Learned From The Masters" wurden von Wolf-Dieter Raschke vorbildlich ins Deutsche übersetzt: http://www.schach-starter.de/Schach-Biografien.html Die Zitate sind diesem Beitrag entnommen.

(b) Walter Korn, „Moderne Schacheröffnungen“, erste deutsche Ausgabe, Hamburg 1967, S. 112. Großmeister Larry Evans ist insoferne als Co-Autor anzusehen, da die deutsche Übersetzung auf der von ihm bearbeiteten englischen Ausgabe beruht.

(c) Alexander Aljechin, Meine besten Partien 1908 – 1923, 3. Auflage, Berlin und New York 1978, S. 26/27.

(d) Alexander Aljechin, Meine besten Partien 1908 – 1923, 3. Auflage, Berlin und New York 1978, S. 109.

 

 

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Stephan Oliver Platz (Jahrgang 1963) ist ein leidenschaftlicher Sammler von Schachbüchern und spielt seit Jahrzehnten erfolgreich in der mittelfränkischen Bezirksliga. Der ehemalige Musiker und Kabarettist arbeitet als freier Journalist und Autor in Hilpoltstein und Berlin.

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