Der Beitrag erschien zuerst in Conrad Schormanns Blog "Perlen vom Bodensee"
Als Jana Schneider Eröffnungstheorie schrieb und sie niemand verstand
Eine Stellung aus der Zweispringer-Variante der Caro-Kann-Verteidigung. Weiß am Zug, was würdest du ziehen?
9.hxg3? Damit bist du in guter Gesellschaft. Weltmeister Magnus Carlsen hat so gespielt, WM-Kandidat Alexander Grischuk und Weltklasse-Coach Rustam Kazimdzhanov ebenso. Wir schlagen Richtung Zentrum, logisch. In seinem (ansonsten) exzellenten Caro-Kann-Repertoire erwähnt Marco Baldauf die Alternative nicht einmal. 9.hxg3 sieht ja aus wie der normalste Zug der Welt.
Als Jana Schneider 2015 bei der Deutschen Ländermeisterschaft diese Stellung auf dem Brett hatte, entschied sie sich für 9.fxg3 – seinerzeit eine Neuerung, die nicht viele Nachahmer fand, weil sie auf den ersten Blick ein bisschen krumm daherkommt.
Fünf Jahre später: Jana Schneider hatte doch recht
Das Schlagen Richtung Zentrum ist dem normalen Vereins- wie dem Top-Ten-Spieler in Fleisch und Blut übergegangen. Carlsen, Grischuk&Co. blieben bei 9.hxg3, die Normalsterblichen sowieso.
Fünf Jahre später sieht es aus, als solle Jana Schneider Recht behalten. Bis zum August 2019 dauerte es, dass ein Weltklasse-Spieler Schneiders 9.fxg3 wiederholte, der WM-Kandidat Maxime Vachier-Lagrave nämlich. Nach dessen Weißpartie gegen Hikaru Nakamura beim Sinquefield-Cup mochte sich plötzlich kaum noch ein Schwarzer auf diese Variante einlassen, so gut ist Jana Schneiders Zug – und so schwierig.
Mehr als vier Jahre brauchten die Herren aus der 2800-Elo-Abteilung und ihre Supercomputer, um zu begreifen, was die Nummer 14 der deutschen Frauen-Rangliste 2015 am Brett ausgeklügelt hatte. Nun, MVL-approved, hat Schneiders Zug die Theorie der Zweispringer-Variante umgekrempelt.
2017 wurde Jana Schneider als 14-Jährige Deutsche Meisterin der Frauen, und der Bayerische Rundfunk entsendete ein Fernsehteam, um darüber zu berichten.
Diese Theorie ist nach jahrzehntelangem Stillstand seit einigen Jahren gewaltig im Fluss, dazu kommen wir gleich. Erst einmal gehen wir 100 Jahre zurück.
Anfang des 20. Jahrhunderts begannen immer mehr Schachmeister, Caro-Kann mit 2.Sc3 und 3.Sf3 (oder andersherum) zu bekämpfen. Unser Freund Siggi Tarrasch zum Beispiel fand den Ansatz einleuchtend: Weiß beschleunigt seine Entwicklung und bleibt derweil flexibel mit dem d-Bauern.
1931 im slowenischen Luftkurort Bled (von dem noch zu reden sein wird) war Salo Flohr der erste Weltklassespieler, der sich dagegen mit 3…Lg4 zur Wehr setzte.
Während 3…Lg4 im Lauf der 50er-Jahre zum Hauptzug gegen die Zweispringer-Variante wurde, wuchs im New Yorker Stadtteil Brooklyn ein außergewöhnliches Schachtalent namens Robert James Fischer heran. Dieser Junge pflegte seine Partien mit 1.e2-e4 zu eröffnen. Den Doppelschritt des Königsbauern hielt er für den klar besten Eröffnungszug („Best by test“), hatte aber noch kein ausgefeiltes Eröffnungsrepertoire.
Dieses Defizit offenbarte sich, als der 16-jährige Fischer 1959 in Bled zum Kandidatenturnier antrat. Gegen die Caro-Kann-Verteidigung hatte er einzig die Zweispringer-Variante mitgebracht. Obwohl die Ergebnisse ausblieben, obwohl die Großmeisterkollegen ihn wegen seiner Erfolglosigkeit verulkten, blieb Fischer seinen zwei Springern bis zum Ende des Turniers treu.
Strategische Musterpartien gelangen 1959 in Bled nur Fischers Gegnern. Wer sich heute als Schwarzer mit 3…Lg4 4.h3 Lxf3 verteidigt, der sollte die beiden Schwarzpartien Petrosians gegen Fischer aus dem Kandidatenturnier 1959 zumindest gesehen haben.
Nach dem Kandidatenturnier Bled 1959 galt 3…Lg4 endgültig als der gute und zuverlässige Hauptzug gegen die Zweispringer-Variante, die fortan ein Dasein als nicht allzu ergiebiges weißes Nebensystem gegen Caro-Kann fristete. Eine Nebendebatte entspann sich um das zu forciertem Spiel führende 4.h3 Lh5 (statt 4…Lxf3), die sich mit dem Aufkommen der Rechenknechte erledigte: Wenn Schwarz ein Computer ist, kann er mit 4…Lh5 remis machen. Wenn er ein Mensch ist, sollte er die Finger davon lassen.
In den 2000er-Jahren entdeckten die Weißspieler die Zweispringer-Variante neu – und die oben erwähnte Flexibilität der weißen Partieanlage. Objektiv-theoretisch ist Schwarz okay, aber in der Praxis bieten sich dem Weißen dutzende von Möglichkeiten, sich aufzubauen, alle davon nachhaltig. Die weiße Seite spielt sich leichter, und so gingen die Schwarzen auf Suchen nach Alternativen zu 3…Lg4.
Im Lauf der 2010er-Jahre kam 3…Sf6 auf. Das führt nach 4.e5 Se4 5.Se2 Db6 6.d4 zu einer putzigen Konstellation: Schwarz hat einen Gaul im weißen Lager eingepflanzt, und der Weiße entdeckt eben diesen Gaul als Ziel. Nach 4…Se4 dienen alle weißen Züge der Idee, dem Se4 Rückzugsfelder zu nehmen, um ihn einfangen zu können.
Tatsächlich sind dem Se4 schon an dieser Stelle die Felder ausgegangen, aber da Weiß ihn nicht unmittelbar angreifen kann, hat Schwarz einen Zug Zeit, um seinerseits Dinge voranzutreiben. Das auf der Hand liegende 6…c5 (das schon Fischer beim Kandidatenturnier 1959 auf dem Brett hatte) ist nicht gut. Der deutsche Magnus hat neulich bei der nationalen Internetmeisterschaft gezeigt warum:
Per 7.dxc5 kann Weiß einen antifranzösischen Springer auf d4 einbetonieren, und das wird ihm anhaltenden Vorteil verschaffen (auch wenn diese Partie für Weiß verlorenging). Darum sollte Schwarz besser 6…e6 spielen, auch wenn das ein bisschen weh tut, weil die Idee von Caro-Kann ja eigentlich ist, den Lc8 mitspielen zu lassen, anstatt ihn einzusperren.
Weiß hat dem Se4 alle Felder genommen, wie sorgt er nun dafür, dass er ihn angreifen kann? Genau, mit dem auf den ersten Blick kuriosen Zug 7.Sfg1. Das zwingt Schwarz zu 7…f6, damit der Gaul e4 auf g5 ein Feld findet, und nach 8.f3 Sg5 9.exf6 gxf6 10.f4 kreiste in den späten 2010er-Jahren die theoretische Debatte darum, ob nun 10…Sf7 oder 10…Se4 angesagt ist. Wer dazu mehr wissen möchte, schaut hier oder in der BodenseeBase.
„War mir gar nicht sicher, ob ich gut stehe“
2015 bei der Deutschen Ländermeisterschaft hatte Jana Schneider 7.Sfg1 geplant. „Aber ich kannte meine Variante nicht mehr genau.“ Stattdessen erinnerte sie sich daran, dass an dieser Stelle auch 7.Sg3 gezogen worden war. „Also habe ich mich dafür entschieden.“
Um 7.Sg3 statt 7.Sfg1 zu ziehen, muss Weiß konzeptionell radikal umdenken (ein Grund, warum es so lange dauerte, bis sich Jana Schneiders Spielweise durchsetzte). Anstatt darauf zu spielen, den Se4 einzufangen, will Weiß dessen exponierte Position nutzen, um die Struktur zu seinen Gunsten zu verändern. Nur ist eben nicht so leicht zu sehen, wie günstig es ist, per 7.Sg3 und 8.Ld3 den Abtausch auf g3 zu erzwingen, weil die Stellung nach 9.fxg3 günstig für Weiß ist. Nebenbei geht ja auf d4 auch noch ein Bauer verloren.
„9.fxg3 erschien mir sinnvoller, als mit dem h-Bauern zu nehmen“, sagt Jana Schneider. „Es geht um Druck gegen f7. Trotzdem war ich mir während der Partie gar nicht sicher, ob ich gut stehe oder nicht, immerhin hatte ich erstmal einen Bauern weniger.“ Nach der Partie goutierte Schneiders Trainer Michael Prusikin die Spielweise Schneiders, auch er fand 9.fxg3 besser. Trotzdem hat Schneider die Variante bis heute nicht wiederholt.
So wird es nach 9.fxg3 wahrscheinlich bald stehen, und es scheint, dass diese Angelegenheit günstig für Weiß ist, sonst wäre 3…Sf6 nicht plötzlich fast aus der Meisterpraxis verschwunden. Ex-U16-Weltmeister Roven Vogel scheint trotzdem weiter an die schwarze Stellung zu glauben. Er hatte dieses schon zwei Mal als Schwarzer auf dem Brett, brachte jeweils seinen König per langer Rochade in Sicherheit und versuchte seinerseits, nach dem Hebel …f6 Spiel gegen den weißen Königsflügel zu bekommen.
Jetzt ist es wahrscheinlich zu spät. Die Weltklasse hat entdeckt, dass Schneiders Zug den Schwarzen vor erhebliche Probleme stellt, und die neuesten Engines bestätigen diese Einschätzung. Das hat dazu geführt, dass nach besagter Partie MVL-Nakamura vom August 2019 die Variante 3…Sf6 aus der Meisterpraxis verschwand.
„Diese fiese fxg3-Geschichte“
Aktuell versuchen die Schwarzen 3…dxe4 4.Sxe4 Sf6. Weil sich Schwarz 5.Sxf6 exf6 freien Spiels erfreuen würde (beide Läufer können laufen), geht es meistens mit 5.De2 Sxe4 6.Dxe4 weiter – was dem Schwarzen ein Ziel gibt, die exponierte weiße Dame nämlich.
Früher hetzten die Schwarzen diese Dame mit ihrer Dame so lange, bis sie sich einem Abtausch nicht mehr entziehen kann, beginnend mit 6…Dd5. Aktuell versuchen die Schwarzen eher 6…Da5, was neben 7…Df5 auch 7…Lf5 ins Auge fasst. Was davon am besten ist? Am Bodensee wissen wir das nicht, wir warten einfach, bis Jana Schneider in die theoretische Debatte eingreift.
Oder bis Marco Baldauf das angekündigte Update zur zweiten DVD seines Caro-Kann-Werks liefert. Sobald das da ist, können wir auch diesen zweiten Teil euphorisch und vorbehaltlos empfehlen.
Im ChessBase Shop kaufen...