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Der Artikel erschien in der Tageszeitung "Neues Deutschland".
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Anna Sharevich gewinnt 4.ND-Gala
Und plötzlich ist dann alles aus. Lange hat das Match auf der Kippe
gestanden, mal stürmen die Weißen, mal kontern die Schwarzen. Aber kurz vor
dem Abpfiff rast eine Gestalt im dunklen Trikot heran und grätscht in den
Strafraum der Verteidiger. Die Sensation ist perfekt, Anna Sharevich (23)
aus Belarus triumphiert bei der 4. Damenschachgala der Tageszeitung „Neues
Deutschland“ (ND). Vorjahressiegerin und Sechste der Weltrangliste, die
gebürtige Ukrainerin Anna Muzychuk (19), landet auf Platz 3, und erst weit
dahinter schafft es Deutschlands Vorzeigefrau Elisabeth Pähtz (24) völlig
abgeschlagen über die Ziellinie.
“Nichts ist unmöglich“, hat sich Anna Sharevich selbstbewusst schon vor
Turnierbeginn gegeben. Eine Ansage, die das Motto dieses Tages ist, wie auch
die der Papierform nach Beste der Republik bald erfahren soll. Eigentlich
will Elisabeth Pähtz unbedingt den Einzug ins Finale schaffen, nachdem sie
2008 den Hattrick mit einem dritten Gewinn des Wettkampfes in Folge knapp
verpasste. Ein ehrenvolles Ziel, aber leider out of reach: Die einstige
Erfurterin und jetzige Berlinerin kann, obwohl um mehr als 200 ELO-Punkte
besser, nicht verhindern, dass die Magdeburger Studentin Maria Schöne (22)
an ihr vorbeizieht. Enttäuscht muss Elisabeth Pähtz vom Katzentisch der
Trostrunde aus der davon geeilten Landsfrau zusehen, die mit Anna Sharevich
um den ND-Titel kämpft.
Arik Braun kommentiert
Eine Paarung, die zuvor wohl niemand unter den rund 150 Zuschauern im
Verlagsgebäude am Franz-Mehring-Platz erwartet hätte. Viel Prominenz aus der
Szene hat sich eingefunden. „Das ist ein Turnier, das auch Weltmeister
Lasker gefallen würde“, sagt Paul Werner Wagner, Vorsitzender der Emanuel
Lasker Gesellschaft, die Partner des ND bei der Realisierung der
Veranstaltung ist. „Lasker setzte sich stets für die Popularisierung des
Schachsports ein.“ Besonders breit strahlt Dr. Dirk Jordan, Mr.
Schacholympia Dresden 2008. Er hat die elektronischen Bretter von iChess
mitgebracht, auf denen die Blitzduelle ausgetragen werden. Bedient wird die
Hardware von deren Erfinder persönlich, dem jetzt in Erfurt lebenden
Österreicher Felix Fürnhammer. Aber Hand auf’s Herz: Ob der 45-jährige
ernsthaft den Kampf gegen den gegenwärtigen Marktführer DGT aufnehmen wolle?
„Ach nein“, wiegelt Fürnhammer im Gespräch mit dem ChessBase-Reporter ab,
„das ist für mich bloß ein Hobby, ich habe einen anderen Job.“ Wobei er
allerdings nicht zu erwähnen vergisst, dass die Performance seiner
Entwicklung robuster sei als die der Konkurrenz, weil er die Bretter mit
modernen Chips statt mit konventionellen Magneten hochgerüstet habe.
Diese Robustheit ist gleich beim Hammer-Showdown Anna Sharevich versus Maria
Schöne gefragt. Dicht umlagert wird die Bühne, als Anna Sharevich, immerhin
dreimalige Landesmeisterin von Weißrussland, und die vermeintliche
Außenseiterin Maria Schöne die Entscheidung unter sich klar machen. Eine
Rolle, die der jungen Deutschen ohnehin liegt, wie sie nach der Siegerehrung
resümiert: „Dann liegt der Druck auf der anderen Seite.“ Abgesehen davon hat
Maria Schöne, die das Diplom in Psychologie ansteuert, auf ihre mentale
Stärke vertraut. Schach sei eben keine pure Mathematik, so ihr Credo, und
„schlau“ sei es, „Varianten zu spielen, die meine Gegnerin nicht leiden
kann“.
Entsprechend wenig zu lachen hat Anna Sharevich in den ersten beiden Treffen
der Endrunde. Vergeblich rüttelt die Weißrussin, die in Brest wohnt, wenn
sie nicht gerade zu Schachevents jettet, an der Position von Maria Schöne.
Zweimal Punkteteilung, das Publikum hält spürbar den Atem an: Stellt Maria
Schöne womöglich alle Prognosen auf den Kopf? Und der deutsche Meister Arik
Braun, der in einem Nebenraum das Brettgeschehen kommentiert, ist
fasziniert: „Maria Schöne dreht selbst schlechte Stellungen.“
Ein ähnliches Bild in den folgenden zwei Stichpartien, wieder fängt Maria
Schöne den permanenten Druck von Anna Sharevich ab. Drama im Tiebreak,
schließlich wartet nun der ultimative Test auf die Kandidatinnen: die
Feuertaufe des „Sudden Death“. Nach der Sonderregel „plötzlicher Tod“
bleiben Anne Sharevich als Schwarzspielerin bloß vier Minuten Bedenkzeit,
dafür reicht ihr ein Remis für den Erfolg, während Maria Schöne mit Weiß und
fünf Minuten auf der Uhr unbedingt gewinnen muss. DSB-Sportwart Horst
Metzing, der gleichzeitig als Schiedsrichter amtiert, gibt das Brett frei,
und rasch hält es niemanden mehr auf den Sitzen, alle sind aufgesprungen und
fiebern mit. In der schwarz-weißen Miniarena brennt es lichterloh an allen
Ecken und Enden, fast hätte Maria Schönes Überfall auf die schwarze
Rochadeburg die Besatzung kalt erwischt, im nächsten Augenblick freilich
entgeht ihrerseits die Deutsche bloß knapp einem Grundlinienmatt. Bis
unversehens ein Läufer von Anna Sharevich aus der Tiefe des Raums auftaucht
und, indem er sich selbstlos opfert, eine klaffende Bresche in Maria Schönes
Schanze reißt. Die Dame von Anna Sharevich proklamiert ewiges Schach, wieder
ein Unentschieden, aber ein Unentschieden der speziellen Art: das
Unentschieden des „Sudden Death“.
Spontaner Applaus setzt ein: für Anna Sharevich und für die ehrenvolle
Zweite Maria Schöne, die ohne Niederlage geblieben ist. Und die 13-jährige
Jenny Linh Vu Dieu, die das Duell der Stars verfolgt hat, ist tief
beeindruckt: „Unglaublich, wie schnell sich diese Frauen in neue Situationen
hineindenken können!“ Die Schülerin aus Friedrichshain-Kreuzberg nimmt mit
ihrem Bruder Johnny zum zweiten Mal an der ND-Gala teil, weil neben
Spitzensport gerade auch das Jugendschach den zweiten Schwerpunkt der
Veranstaltung bildet. „Schach ist der wichtigste Mindsport im
Wissenszeitalter“, betont ND-Geschäftsführer Olaf Koppe, und folglich freut
er sich ganz besonders, dass die Vereine SV Empor Berlin, SG Narva und
Schachpinguine Charlottenburg mit ihren Nachwuchstalenten massenhaft
vertreten sind.
Parallel zu den Qualifikationsläufen der Gala-Damen spielen sich die Teenys
warm in einem Blitzturnier. Der Jüngste, Vladimir Gorochov von SV-Empor,
zählt gerade mal sechs Jahre und wird trotzdem auf Anhieb Dritter. Mutter
Irina Gorochova, die momentan Philosophie studiert und später Journalistin
werden möchte, ist stolz auf ihren Sohn und beglückwünscht im gleichen
Atemzug die anderen Kinder, „die hier sehen, dass es sich lohnt, Schach zu
üben“. Eine Einschätzung, die von Raj Tischbierek, Redaktionsleiter des
Fachmagazins „Schach“, ohne Einschränkung geteilt wird: „Spitzenschach und
Einbindung der Kinder, diese Verbindung finde ich sehr gelungen.“
Ein Buffet lädt zur Stärkung ein, frische Energien sollen getankt werden,
schließlich startet in der Pause vor dem Galafinale das Kräftemessen Profis
gegen Amateure. Anna Muzychuk und Elisabeth Pähtz blitzen gegen ND-Leser,
die den Problemwettbewerb der Zeitung gewonnen haben, und Anna Sharevich
fordert im Tandem mit Maria Schöne die Berliner Schachkids simultan heraus.
Wer bis dahin bezweifelt haben mag, dass Schach ein Sport sei, der wird
endlich eines Besseren belehrt: Im Laufschritt eilen die blonde Anna
Sharevich, in modisch langen Stiefeln fast permanent im Fokus der
Fotografen, und Maria Schöne die Tischreihen entlang, ziehen Figuren und
drücken Uhren. Die Champs der Zukunft halten tapfer das Tempo mit, und einer
beweist den längsten Atem: Leon Hertzfeld aus dem Empor-Kader. Als alle
anderen schon resigniert haben, knickt der 11-jährige immer noch nicht ein,
so dass ihm Anna Sharevich schwer beeindruckt das Unentschieden anbietet.
Das ist die zweite Riesenüberraschung, und Anna Sharevich ist des Lobes
voll: „Eine Zeitreise zurück zu meinen Anfängen, als ich mit den Meistern
üben durfte. Heute bin ich auf der anderen Seite, kann den Kindern etwas
zurückgeben. Ich liebe das.“
Anna Sharevich
Und dann setzt sie sich noch einmal hin und spielte eine Extrapartie
exklusiv mit der kleinen Luise Schnabel aus Treptow. Das Resultat ist zwar
am Ende eindeutig, doch das schockt die selbstbewusste Fünfjährige
keineswegs: „So gut wie Anna Sharevich werde ich auch mal. Ich habe schon
eine DWZ, ich habe DWZ 750!“
Einen völlig anderen Plan nach Hause nimmt Jenny Linh Vu Dieu. Vom 13. bis
zum 17. April 2010 soll, das hat der DSB-Vertreter Horst Metzing im
ChessBase-Gespräch angekündigt, ein gemischtes Damen-Herren-Team in Hanoi
einen Länderkampf gegen eine Auswahl der Gastgeber bestreiten. Und die
Vietnamesen haben vorgeschlagen, dass an Brett 1 nicht nach dem üblichen
FIDE-Kanon gefightet wird, sondern dass dort eine Partie ausgetragen wird im
chinesischen Schach „XiangQi“, das in Vietnam „Co Tuòng“ heißt, übersetzt
„Spiel des Generals“. Ein spektakulärer Test, dem sich auf Seiten der
Republik wahrscheinlich Dr. Robert Hübner stellen wird, immerhin ist der
Vielseitige in den 90-er Jahren bereits zu einer Chinaschach-WM nach Peking
gereist und hat dort einen furiosen Einstand gegeben.
East meets West kommenden April 2010 in Hanoi? Jenny Linh Vu Dieu findet das
ziemlich abgefahren. Und nimmt sich vor, noch am selben Abend ihren Vater zu
fragen, wie dieses ominöse „XiangQi“ aka „Co Tuòng“ eigentlich funktioniert.
Hinter’m Horizont – und sei es der vermeintlich unverrückbare Horizont des
64-Felder-Quadranten – geht’s immer weiter …
ERGEBNIS
4. Internationale ND-Damenschnellschachgala am 26.11.2009
STAND NACH DER VORRUNDE:
1. + 2. (geteilt) Maria Schöne 2 Pkt.
1. + 2. (geteilt) Anna Sharevich 2 Pkt.
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3. Elisabeth Pähtz 1,5 Pkt.
4. Anna Muzychuk 0,5 Pkt.
Die Plätze 1 und 2 qualifizieren sich für das Finale, die Plätze 3 und vier
spielen im kleinen Finale Platz 3 aus.
SCHLUSSSTAND NACH DEN FINALKÄMPFEN (GROSSES UND KLEINES FINALE)
1. Anna Sharevich 2,5 Pkt. (nach 0,5 Pkt./Remis mit Schwarz im „Sudden
Death“-Tiebreak)
2. Maria Schöne 2,5 Pkt. (nach 0,5 Pkt./Remis mit Weiß im „Sudden
Death“-Tiebreak)
3. Anna Muzychuk 2 Pkt.
4. Elisabeth Pähtz 0 Pkt.
Partien, soweit aufgezeichnet