28.02.2022 – Wie in jedem Jahr spielten auch diesmal beim Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee einige vielversprechende Talente mit. Am erfolgreichsten war Arjun Erigaisi, der das Challenger Turnier auf herausragende Weise dominierte. Nachwuchs-Scout Thorsten Cmiel hat seinen Weg verfolgt. | Foto: ChessBase India
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Der Dominator
Das Challengers in Wijk aan Zee 2022
Arjun Erigaisi (3. September 2003) stand lange Zeit im Schatten der drei etwas jüngeren ehemaligen indischen Wunderkinder: Nihal Sarin (2004), Praggnanandhaa (2005) und Gukesh (2006). Dann gewann Arjun im letzten November in Mumbai das Tata Steel Schnellschachturnier mit einem Punkt Vorsprung und fast hätte er, als Ersatzmann eingesprungen, das Blitzturnier gleich noch hintendran gehängt. Er verlor dann jedoch denkbar knapp in der Armageddon-Partie im Stichkampf gegen Levon Aronian.
Foto: ChessBase India
Wie die meisten indischen Talente ist Arjun ein ruhiger Spieler, dem man nicht ansieht, ob er verloren oder gewonnen hat. Bei Turnieren kann man gelegentlich zerknüllte Partieformulare sehen, wenn man sich wie der Autor nicht im Griff hat, zertrümmerte Gegenstände wie beim Tennis sind dann eher eine Seltenheit. Erstmals ist mir der Inder im Juli 2018 in Budapest aufgefallen. In der ersten Runde hatte unser Titelheld gegen einen Amerikaner die folgende Stellung mit Weiß. Ich stand zufällig neben seinem Brett als er den Zug 54. Te7 spielte
Was ist falsch daran, die Drohung eines Schachgebots auf e5 aufzustellen? Ich muss zugeben, dass für mich, wie für Arjun, der folgende Trick überraschend kam: 54….Dg1!!+ und Weiß muss Patt konzidieren. Was dann passierte war allerdings eine unglaubliche Selbstbeherrschung des Inders, zumindest für meine und neueste Tennis-Standards. Mit stoischer Ruhe führte Arjun die unweigerlichen Züge aus. Welch ein Champ. Später erfuhr ich von ihm, dass er seine Großmeisternormen bereits zusammen hatte. Er erzielte im Turnier ein ordentliches Resultat von Plus Drei in dem Großmeisterturnier.
Tata Steel 2002
Im Challenger Turnier in Wijk aan Zee war Arjun diesmal der am höchsten eingeschätzte Spieler. Für ihn betrug die Großmeiter-Norm, die natürlich für ihn keine Relevanz mehr hatte, Plus Drei. Der Inder erzielte ein Ergebnis von Plus Acht, übererfüllte die Anforderungen einer Norm also um satte fünf Siege. Solch ein Resultat lässt sich natürlich bei einer derart starken Gegnerschaft nur erreichen, wenn man etwas Glück im Verlauf hat. Die erste Runde verlief für Arjun als Anziehender alles andere als reibungslos. Der Youngster begann das Turnier mit einem Londoner System und kam nicht sehr erfolgreich aus der Eröffnung.
In dieser Stellung hatte Arjun zuletzt seinen Springer von b3 nach d4 gezogen. Es gibt hier eine Antwort, die sein Gegner, Lucas Van Foreest, in jeder Blitzpartie vermutlich in einer Sekunde gezogen hätte: 24...Lh7, sichert das Läuferpaar und bot sich an. Weiß verbleibt dann mit einer positionellen Ruine. Der Niederländer spielte stattdessen zunächst seinen schwarzfeldrigen Läufer nach f6. Danach konnte Arjun auf f5 nehmen und die meisten Probleme seiner Stellung waren gelöst. Er verliert zwar auf kurze Sicht den Bauern c3, aber die Stellung lässt sich vermutlich ohne größere Probleme halten. Arjun antwortete anders, indem er seinen Turm nach d1 zog. Der Niederländer bekam seine zweite Chance seinen Läufer zu behalten oder zunächst auf e5 zu schlagen. Stattdessen folgte sofort der Springerzug nach e4, Arjun ließ sich nicht erneut bitten und schlug den Läufer auf f5. Die erste Krise war überstanden und die Partie endete vergleichsweise ereignislos mit Remis.
In der zweiten Runde erwies sich ein weiterer Niederländer, Max Warmerdam, als äußerst kooperativ.
In dieser bekannten Stellung nahm der Niederländer mit seinem Turm auf a6, um nach 16...Lxf2+ 17.Kxf2 festzustellen, dass er keine ausreichende Kompensation für die Dame hatte.
In seiner zweiten Weißpartie eröffnete Arjun diesmal mit seinem Königsbauern. Ohnehin wechselte Arjun zwischen seinem d- und e-Bauern hin und her. Eine Flexibilät, die sich Jungspieler früh erarbeiten sollten, wenn sie eine Chance haben wollen in die engere Weltspitze aufzusteigen. Von den aktuellen Talenten geht nur Vincent Keymer bislang einen anderen Weg. Am Ende gewann Arjun vier seiner sieben Partien mit Weiß.
In dieser Stellung zog Arjun seinen Springer nach e2 mit dem Zielfeld g3. Die Idee war es den Gegner in Zeitnot mit einem direkten Angriff zu konfrontieren. Der Belgier Daniel Dardha reagierte zunächst richtig mit Gegenspiel am Damenflügel, um dann später den Springer inkonsequenterweise doch zu nehmen und in der Folge schnell zu verlieren.
Der Spielstil von Arjun ist äußerst flexibel. Neben positionellen Partien greift der Inder gelegentlich wie gesehen kompromisslos an. Er wird aktuell von zwei Coaches betreut: Da ist zum einen der Inder Srinath Narayanan, der lange Zeit mit Nihal unterwegs war, und seit noch nicht so langer Zeit Rustam Kasimdzhanov. Wie regelmäßig die Zusammenarbeit erfolgt ist nicht bekannt. Der Inder sucht noch einen Sponsor und will sich auf Schach konzentrieren, hört man.
In der vierten Runde spielte Arjun gegen den Rovel Vogel einen königsindischen Aufbau und stand schnell etwas schlechter. Es war typisch für die Herangehensweise des Inders in Wijk 2022, dass er riskantere Spielweisen wählte, um sogar mit Schwarz auf Gewinn zu spielen. In der folgenden Stellung war der Deutsche mit Weiß am Zuge.
Nach 18.e4-e5 konnte er hier seine Spielweise krönen und die Stellung nach 18….dxe5 mit 19.d6 weiter öffnen. Die Verwicklungen danach bevorteilen Weiß. Stattdessen spielte der in Wijk etwa glücklos agierende Deutsche den unschönen Zug 18.Lf3 und geriet nach weiteren Ungenauigkeiten in der Folge schnell in Nachteil. Arjun wiederum ging mit Plus drei in den ersten Ruhetag.
Arjun wechselt nicht nur mit Weiß den Eröffnungszug, sondern mit Schwarz ist er ebenfalls flexibel unterwegs. Nach 1.e4 kann es zu einem klassischen Spanier oder zur Russischen Verteidigung kommen. Bei der gerade stattfindenden indischen Seniorenmeisterschaft (Senioren sind ab 18), spielte Arjun einen verzögerten Schliemann (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 f5!?), Schliemann – ohne die Züge a6 und La4 – hatte Arjun vor einem Jahr in einem Teamturnier gespielt. Seine Gegner müssen mit Französisch genauso rechnen wie mit jeder Art von Sizilianer (Najdorf, Drachen, Klassisch, Paulsen usw.). Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb Magnus Carlsen den Inder in Wijk mit einem Lob bedachte.
In der fünften Runde folgte eine bemerkenswerte Partie gegen Volodar Murzin, die wir schon bei dessen Porträt ausführlich betrachtet hatten. In der Partie zeigten sich zunächst eine Unsicherheit im Angriff und später Ungenauigkeiten (auf beiden Seiten) im Turmendspiel. In der sechsten Runde überrollte Arjun seinen indischen Großmeisterkollegen Surya Ganguly. Die beiden hatten während des Turniers gemeinschaftlich gegessen, was den Jüngeren aber nicht davon abhielt seinen fünften Sieg in Folge einzufahren. In der folgenden Stellung hatte Arjun zuletzt seinen g-Bauern gezogen und Surya ging in die Falle und spielte hier 21...Df3.
Nach 22.Dh3 vermied Arjun natürlich den Damentausch, vertrieb die Dame mit seinem Läufer via e2 wieder und brachte sein Läuferpaar zur Geltung. 5,5 aus sechs Partien ist mal ein überzeugender Start. Sein nächster Gegner, der Kazache Rinat Jumabayev, war in der folgenden Stellung mit Weiß am Zuge.
Man sieht noch nicht wie Weiß hier weiter kommen will. Der Kazache zeigte in dieser Partie großen Kampfgeist, obwohl er mit erheblichem Zeitnachteil ausgestattet war. Der richtige Zug war hier 57.Kf5, um den eigenen König bei Bedarf auf e4 zu parken und später nach weiterer Vorbereitung (a3-a4) mit b3-b4 die Stellung zu öffnen. Später gab es eine weitere Chance für Arjuns Gegner, die dieser aber nicht nutzen konnte. Immerhin war die Siegesserie des Inders gestoppt. In der folgenden Partie unterlief dem Dänen Jonas Buhl Bjerre ein Fingerfehler und Arjun gewann einen Bauern und ohne größere Mühen die Partie. Mit sieben Punkten aus acht Partien folgte der zweite Ruhetag.
Gegen die Chinesin Jinher Zhu hatte Arjun mit Schwarz eine historische Variante gewählt und folgte Bobby Fischer aus einer Partie gegen Mikhail Tal. Nach 37 Zügen war hier Arjun am Zuge und wie in der Partie gegen Volodar Murzin fand er nicht den genauesten Weg und gab seiner Gegnerin eine Chance.
Der richtige Zug ist hier 37….Tb6. Nach Schlagen auf g7 geht der König nach b8 zurück und Schwarz droht nach Turmzug auf der sechsten Reihe einen Freibauern am Damenflügel zu bilden. Stattdessen „aktivierte“ Arjun seinen König, indem er diesen statt des Turm nach b6 zog.
In dieser Stellung muss die Chinesin mit Weiß ihren Kontrollzug ausführen. Sie entschied sich unglücklich für den Angriff von der Seite und spielte Tg5, um nach f5-f4 erneut mit dem Turm ziehen zu müssen. Der bessere Zug war in der Diagrammstellung 40.Tf6.
Die nächsten drei Runden verliefen für Arjun vergleichsweise unspektakulär. In der letzten Runde kam es dann zu einem weiteren Gewinnversuch des Inders, den der Inder angekündigt hatte, da er bereits uneinholbar und damit Turniersieger war.
In dieser Stellung sollte der jüngste Spieler im Feld, der Franzose Marc’Andria Maurizzi, Jahrgang 2007, mit seinem Läufer nach c3 ziehen und Arjun ein weiteres Vordringen mit dem König verweigern. Stattdessen nahm er auf g5 mit Schach und nach Kd4 konnte er die Stellung nicht mehr verteidigen.
Foto: Lennart Ootes (Tata Steel Tournament)
Fazit
Arjun ist ein echter Champ und könnte in den nächsten Jahren ohne Qualifikation ein Dauergast in Wijk werden. Die Schachfans dürfen sich dann auf einen der talentiertesten Jungstars aus Indien freuen. Seine aktuell einzige Schwäche ist vielleicht eine Unentschlossenheit in wenigen Momenten. Sein Eröffnungsrepertoire ist bereits sehr breit angelegt und dürfte der Weltelite genügend beschäftigen im Masters 2023. Arjun ist aus dem gleichen guten Jahrgang (2003) wie Alireza Firouzja und hat gerade in der Live-Liste den dritten Junioren-Platz erobert. Heute, nach fünf Runden bei der indischen Landesmeisterschaft, fehlen Arjun noch 33 Punkte, um die 2700 zu knacken. Es ist kaum vorstellbar, dass der junge Inder im nächsten Jahr diesen Meilenstein noch nicht genommen hat.
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