ARTE: Kasparov vs Deep Blue - Fiktion und Wirklichkeit

von Frederic Friedel
20.10.2024 – Der Wettkampf zwischen dem Computer Deep Blue und Garry Kasparov 1997 war ein Meilenstein der Computergeschichte, denn zum ersten Mal konnte hier ein Computerprogramm ein Match gegen den amtierenden Weltmeister gewinnen. Unter dem Titel "Rematch" zeigt der Fernsehsender ARTE jetzt eine Verfilmung dieses Wettkampfs. Frederic Friedel war 1997 im Team Kasparov dabei, und die Serie hat Erinnerungen bei ihm geweckt. In einem Artikel vergleicht er, was damals wirklich passiert ist und wo die Serie sich dichterische Freiheiten genommen hat.

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Vor dem eigentlichen Artikel, noch eine kleine Quizfrage: Was glauben Sie, welche Figur der Schauspieler im Bild rechts in der Serie verkörpert? Es ist jemand, den Sie ziemlich gut kennen. Die Antwort kommt später.

Die "Rematch"-Serie auf ARTE zu sehen, war für mich ein ganz besonderes Erlebnis. Denn ich gehörte damals während des Wettkampfs in Philadelphia und New York zu Garrys Team und war in fast jeder Szene dabei, auf die sich die Serie bezieht. Manchmal war es irritierend zu sehen, wie viel nicht ganz korrekt war. Aber natürlich weiß ich, dass die Serie die Wirklichkeit oft aus dramaturgischen Gründen geändert hat. Das ist auch gut so. Denn die Serie ist keine historische Dokumentation, die genau beschreiben will, was während des Wettkampfs zwischen Kasparov und Deep Blue passiert ist, sondern eine Serie, die wie "Queen's Gambit" ein Laienpublikum ansprechen soll.

Im Folgenden gebe ich Ihnen einige Beispiele dafür, was geändert wurde und was historisch nicht ganz korrekt ist. Schauen wir uns zunächst den Computer Deep Blue an:

So (links) wird der Computer im Film dargestellt, und so (rechts) sah er wirklich aus. Die blitzenden, blinkenden Lichter in der Filmversion sind definitiv beeindruckender.

Während ich mir die Serie anschaute, murmelte ich alle paar Minuten: "Das stimmt nicht" und "Das ist nicht passiert". Aber allmählich gewöhnt man sich daran. Viele Abweichungen vom tatsächlichen Geschehen sind unwichtig, manche von ihnen wirken dramaturgisch einfach besser. Ich habe begriffen, wie Dinge, die zu kompliziert oder zu unwahrscheinlich sind, ins Drehbuch eingebaut werden. Zwei Beispiele:

In der ersten Folge von "Rematch" trifft Garry CB Hsu (den sie "PC" nennen) und erwähnt ein Computerspiel, das er "vor zehn Jahren" gespielt hat. Hier ist der entsprechende Ausschnitt:

"Meinen ersten Computer habe ich vor zehn Jahren gesehen", sagt Garry. "Ich habe darauf immer 'Hopper' gespielt – das Videospiel mit dem kleinen Frosch, der eine Straße und einen Fluss überqueren muss. Mein Highscore waren 16.000 Punkte." PC antwortet, dass er "Hopper" kennt und geliebt hat. Aber sein Highscore waren 47.000 Punkte!

Niedlich. Aber erfunden. Den Ursprung der Geschichte findet man auf der ChessBase-Nachrichtenseite, auf der Auszüge aus Kasparovs Buch "Deep Thinking" veröffentlicht wurden. In den zitierten Passagen beschreibt Kasparov, wie er bei einem Besuch bei mir zuhause in Hamburg damit geprahlt hat, dass er in Baku der Champion im "Hopper" war - mit einem Highscore von 16.000 Punkten. Daraufhin habe ich gemeint, er könnte doch einmal gegen meinen dreijährigen Sohn Tommy antreten. Tommy kam auf 47.000 Punkte - genau wie PC in der Serie.

Aber natürlich konnte der Film nicht plötzlich in eine Kleinstadt in Norddeutschland verlegt werden, in der ein Dreijähriger in die Handlung eingeführt wird. So wie sie es gemacht haben, konnte die Hopper-Geschichte als amüsante kleine Episode in den Film einfügen.

Hier ein weiteres Beispiel für die Arbeitsweise der Filmproduzenten. In der vierten Episode gibt es eine Szene, in der Garry sich weigert, zu einer Partie zu erscheinen und stattdessen in der Stadt "verschwindet" (was in Wirklichkeit nie passiert ist). Ein Mitglied des IBM-Teams findet ihn zwischen 3rd Avenue und 48th Street, wo sich eines der größten Schachbretter New Yorks befindet. Als sie sich begegnen, gibt ihm das Mitglied des IBM-Teams ein Schachproblem zu lösen: Weiß zieht 1. e4 und Schwarz setzt mit Hilfe des Weißen im fünften Zug mit Springer schlägt Turm Matt. Wie lauten die Züge?

Garry lässt sich auf die Herausforderung ein. Schauen Sie zu, wie er denkt – die Episode enthält wunderbare animierte Grafiken von Garry, der nachdenkt, während die Züge blitzschnell auf dem Brett zu sehen sind. Er löst das Problem und geht dann zum Spielsaal zur vierten Partie.

Natürlich ist bei diesem Schachproblem etwas ganz Anderes passiert. Wie ich in einer Reihe von Artikeln geschildert habe, ist dies ein Problem, das ich Garry und Anatoly Karpov 1986 während einer Autofahrt nach Zürich gestellt habe. Sie konnten es nicht lösen. Einige Monate später rief mich Garry verzweifelt aus einem Kurs der Botvinnik-Schachschule an, den er geleitet hat. Er hatte seinen Schülern die Aufgabe gegeben, und sie - wie er und Botvinnik - konnten sie nicht lösen. Ich musste ihm die Züge durchgeben. Garry, der wie alle anderen in der Schachschule davon überzeugt war, dass ich das Problem falsch formuliert hatte, konnte nicht glauben, dass er und seine Schüler die Lösung nicht gefunden hatten. Hier ist ein Artikel (aus dem Jahr 2013), der die ursprüngliche Geschichte erzählt.

Auch hier mag die Verwendung der Geschichte in der Serie überflüssig erscheinen, aber ich habe nichts dagegen: Den Produzenten gefiel die Geschichte, aber natürlich konnten sie den Erzählfluss nicht unterbrechen, um zu erzählen, wie Garry tatsächlich mit dem Schachproblem gekämpft hat.

Aber ein paar Dinge taten dann doch ein wenig weh. Als Garrys Manager sein Schach auffrischt und eine Übungspartie gegen Garry spielt, wird er in zwei Zügen matt gesetzt – nachdem er 1. g4 und 2. f3 gespielt hat. Aber vermutlich findet ein absoluter Laie das bemerkenswert.

Eine andere absurde Geschichte ist, dass Garry sich auf seine nächste Partie gegen Deep Blue vorbereitet, indem er von seinem Hotelzimmer aus online gegen Hunderte von Amateuren spielt. Aber natürlich ist das nie passiert - und so bereitet man sich auch nicht auf eine wichtige Partie vor.

Und dann gibt es Momente, in denen maßlos übertrieben wird. In dieser Szene erklärt PC seinem Kollegen, dass Deep Blue (die in der Serie übrigens eine Frau ist) in der Lage sein sollte, selbstständig zu lernen. "Wir müssen ihr nur alle Partien zeigen, die gegen Kasparow gespielt wurden. Sie wird Garrys Schwächen entdecken und sie dann ausnutzen. Sie wird Kasparovs Niveau schnell erreichen und ihn dann übertreffen. Das wäre wie tiefes Lernen." Ja, das wurde tatsächlich möglich – dreißig Jahre später!

Doch wer war der Schauspieler, der am Anfang dieses Artikels erwähnt wurde? Sie werden es wahrscheinlich nicht erraten haben: Es soll Anatoly Karpov sein, 1985, während des WM-Kampfs gegen Kasparov.

Allerdings besteht zwischen dem Schauspieler und Karpov nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit!

Christian Cooke, der Darsteller von Garry, ist ein englischer Schauspieler und Regisseur, und sein Porträt Kasparovs ist viel überzeugender. Wenn man ihm fünf Stunden lang zusieht, gewöhnt man sich langsam an ihn und sieht wirklich Garry. Die Eigenheiten und Garrys Akzent, die Cooke sorgfältig studiert hat, sind ziemlich gut getroffen.

Mehr Informationen über den Wettkampf und seine Verfilmung gibt es in einem SPIEGEL interview.


Chefredakteur der englischen ChessBase-Seite. Hat in Hamburg und in Oxford Philosophie und Linguistik studiert und sein Studium mit einer Arbeit über Sprechakttheorie und Moralsprache abgeschlossen. Eine Karriere an der Universität gab er auf, um Wissenschaftsjournalist zu werden und Dokumentationen für das deutsche Fernsehen zu produzieren. Er ist einer der Mitbegründer von ChessBase.
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knight100 knight100 vor 7 Stunden
Interessante Einblicke von Frederic Friedel:

"Deep Blue (die in der Serie übrigens eine Frau ist)"

Ist das in der englischen bzw. französischen Sprachversion genauso?
joscho joscho vor 11 Stunden
Danke für den Artikel. Ich war natürlich 1997 nicht dabei sondern saß zu Hause vor meinem PC. Viele der Gedanken von Frederic Friedel hatte ich beim Sehen trotzdem - und finde seine Kommentare wirklich hilfreich, denn der simple Gedanke „das ist falsch“ ist zu kurz gesprungen. Auch ich hatte nach einer Eingewöhnung das Gefühl, dass Christian Cooke Kasparov gut trifft und sofort, dass Karpov ein Scherz ist.
Wirklich misslungen fand ich einzig die Erklärung, wie h6 in der letzten Partie zustande kam. Diese Geschichte war mir zu absurd und ich erkenne auch keinen dramaturgischen Gewinn.
Insgesamt ist die Miniserie empfehlenswert und dank Arte-Mediathek jederzeit verfügbar.
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