Baden-Baden 1925: Siegeszug der "Hypermodernen"

von Hartmut Metz
18.04.2025 – Baden-Baden hat eine lange Schachgeschichte, mit den großen Klassikern aus der Frühzeit des Turnierschachs, Baden-Baden 1870 und Baden-Baden 1925. Hartmut Metz lässt anlässlich des grenke-Opens noch einmal das Superturnier aus dem Jahr 1925 Revue passieren. Es ist die Zeit der "Hypermodernen".

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„Nitroglyzerin“ Aljechin vermisst nur Schönheitspreis

Vor 100 Jahren spiegelt das legendäre Turnier Baden-Baden 1925 die „glorreiche Zeit des Hypermodernen Schachs wider“

„Wenn es einen Wettbewerb gibt, der voll und ganz das Flair und die Spannung der glorreichen Zeiten des Hypermodernen Schachs widerspiegelt - dann muss das das Turnier in Baden-Baden 1925 sein“, befindet Buchautor Jimmy Adams. Vor 100 Jahren trafen sich bis auf Ex-Weltmeister Emanuel Lasker, sein Nachfolger José Raoul Capablanca und der spätere Champion Max Euwe nahezu alle Spieler mit Rang und Namen. Wie beim ersten legendären Turnier 1870 - damals siegte Adolf Anderssen - schrieb Baden-Baden 1925 erneut Schach-Geschichte. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums am 16. April 2025 soll diese glanzvollen Veranstaltung mit beeindruckenden Partien gewürdigt werden. Dabei gefällt nicht nur der Sieg von Turniersieger Alexander Aljechin über Richard Reti, den der spätere Weltmeister in seiner Partiensammlung von 1924 bis 1937 als die schönste seiner Karriere adelte. Die Partie gefiel Aljechin so gut, dass er einen fehlenden Schönheitspreis als einzigen Mangel des Turniers in der Kurstadt beklagte. Ja, das Kombinations-Genie forderte, bei jedem Turnier einen solchen Preis auszusetzen!  Das Archiv-Material zu dem Turnier vom 16. April bis 14. Mai ist umfangreich. In der Schach-Datenbank Chessbase finden sich alle 210 Partien, zudem wurden mehrere Bücher über Baden-Baden 1925 verfasst.

Nimzowitsch startet mit famoser Partie

Das schönste dürfte jenes 1991 bei Caissa Editions (USA) publizierte Werk sein, das zahlreiche Quellen sammelte. Dabei fügte Autor Jimmy Adams Analysen der damaligen Meister bei. Diese erschienen 1927 in der Sowjetunion in einem vorzüglichen Buch und wurden dabei ergänzt durch Anmerkungen dortiger Meister. Dr. Siegbert Tarrasch gedachte mit dem legendären Turnier 1925 den „Übelstand“ zu beseitigen, dass nach Mannheim 1914 kein bedeutendes Schachturnier in Deutschland mehr stattfand. Daher wandte sich der Nürnberger Arzt und Großmeister im Herbst 1924 an die „städtische Kurverwaltung der altberühmten Bäderstadt Baden-Baden, die ja von jeher für Sportzwecke viel ausgegeben hat“. Kurdirektor Duschl unterstützte das Ansinnen und wählte unter den Kostenvoranschlägen von 16.500, 10.000 und 7.000 Mark den mittleren aus.

Der „Praeceptor Germaniae“ (Lehrmeister Deutschlands) Tarrasch brachte auch bereits einen Monat nach Ende des glanzvollen Wettbewerbs einen Band mit sämtlichen Partien heraus. „Die Partien eines so bedeutenden und starken Turniers, wie es das eben beendete ist, nicht gesammelt herauszugeben, hieße eine Unterschlagung begehen. Ich habe aber davon Abstand genommen, die Partien zu glossieren, denn eine ausführliche Glossierung hätte zu viel Zeit gekostet, und eine oberflächliche - besser gar keine!“, schrieb Tarrasch in seinem Vorwort drei Tage nach Abschluss des Wettbewerbs. Gleich in der ersten Runde spielte einer der herausragenden Vertreter der Hypermodernen Schule, Aaron Nimzowitsch, eine famose Partie mit einer grandiosen Schlusspointe.

Nicht nur beim legendären Turnier Baden-Baden 1925 zählten Savielly Tartakower und Jacques Mieses zu den schillerndsten Vertretern, sie sind auch Farbtupfer in der Schach-Historie. Mieses wurde weniger durch seine Erfolge - sein größter war zweifellos der Sieg 1907 in Wien -, sondern mehr durch seine Schönheitspreise, die er seinem kompromisslosen Stil verdankte, berühmt. Auch in der Kurstadt remisierte er nur drei von 20 Partien! Sein Rivale in der siebten Runde, Tartakower, brachte es derweil auf 13. Der letztlich Fünftplatzierte (12,5 Punkte) schlug den Drittletzten (6,5) in nur 15 Zügen.

Mieses war jedoch nicht nur Opfer, sondern heimste noch mit 80 Jahren - 1945 im Seebad Hastings - einen Schönheitspreis ein. Mit 62 spielte er in der deutschen Nationalmannschaft und absolvierte mit 78 noch eine Simultantournee durch England. Dort soll sich der folgende Dialog zugetragen haben: „Oh, Mister Meises“, lautete die Begrüßung, auf die der Schachjournalist konterte: „No, Meister Mieses!“

Tartakower auch abseits des Brettes immer schlagfertig

Noch weit schlagfertiger - auf dem Brett wie verbal - war Tartakower. Berühmt sind seine Aphorismen wie „Die Fehler sind da, sie brauchen nur gemacht zu werden“, „Der vorletzte Fehler gewinnt!“ oder „Es ist besser, die Steine des Gegners zu opfern!“ Seine Bezeichnung für die Eröffnung 1.b4 setzte sich ebenfalls durch und wurde populär: Nach einem vorherigen Besuch im Zoo fühlte er sich durch den ungewöhnlichen Partieauftakt an einen dort beäugten Orang-Utan erinnert! Der Pole war Korrespondent von 30 Zeitschriften, die ihn wegen seiner „Tartakowerismen“ alle gerne abdruckten. Bahnbrechend war sein Buch „Die Hypermoderne Partie“, das im Jahr des Baden-Badener Turniers erschien. Er würdigte dabei die neuen Ideen von Richard Reti und Gyula Breyer. In Tartakowers Brust schlummerten zwei Seelen: Einerseits wirkte der Doktor der Rechte sehr ausgeglichen, andererseits war er im Casino - wie schon manch anderer Großmeister und Baden-Baden-Besucher - ein Hasardeur. Gleichzeitig war der „Homer des Schachs“, wie ihn Weltmeister Emanuel Lasker einmal ehrfurchtsvoll nannte, zwar ein friedfertiger Spieler, aber auch ein furchtloser Kämpfer der französischen Résistance im Zweiten Weltkrieg.

„Im Mittelalter hätte man Zauberer Rubinstein verbrannt“

Nach vier Runden führten Alexander Aljechin und Akiba Rubinstein mit 3,5 Punkten. „Rubinstein ist in bester Form“, konstatierte Tarrasch als Chronist und Organisator des Wettbewerbs vor 100 Jahren. Der Pole Rubinstein zählte zu Beginn des Jahrhunderts zu den stärksten Spielern. Kennzeichnend für den genialen Meister war die „kolossale Länge seines Planes, der ihm als logische Brücke von der Eröffnung bis zum Endspiel dient“, äußerte Nimzowitsch äußerst angetan. Tartakower scherzte ob Rubinsteins virtuoser Behandlung von Turmendspielen: „Sie können von Glück sagen, dass Sie im 20. Jahrhundert leben, denn im Mittelalter hätte man Sie wegen Zauberei verbrannt. Was Sie aus Turmendspielen herausholen, ist einfach ein Wunder.“ Sein taktisches Geschick bewies der Führende ebenso in Runde vier - ausgerechnet gegen den auf diesem Gebiet besonders versierten Rudolf Spielmann.

Alexander Aljechin legte nach dem Auftaktremis gegen den 19-jährigen mexikanischen Wunderknaben Carlos Torre einen Glanzstart hin. Das russische Schachgenie gewann die nächsten neun Partien in Baden-Baden! Selbst Akiba Rubinstein konnte nicht mehr mithalten und lag mit acht Punkten zur Turnier-Halbzeit mit eineinhalb Zählern zurück. Als schachliches „Nitroglyzerin“ bezeichnete Korrespondent Savielly Tartakower seinen Rivalen am Brett.

1924 hatte Aljechin schon beim Turnier von New York 1924 seine bis dahin beste Partie gegen Richard Reti gespielt. Doch diesmal übertraf sich der angehende Weltmeister gegen Reti noch mehr: „Ich halte diese Partie und jene gegen Bogoljubow in Hastings 1922 für die glänzendsten meiner Schachkarriere“, bekannte der Champion, der 1927 den WM-Thron besetzte.

Sehr unzufrieden mit dem Verlauf des Turniers im Kurhaus war Nimzowitsch. Mit 11:9 Punkten landete er nur auf Platz neun unter 21 Teilnehmern. Derweil grämte sich Carl Carls weniger über seine leicht negative Bilanz von 9:11 Zählern. Der Bremer Bankdirektor war im Gegensatz zur Konkurrenz Amateur. Zu Ruhm brachte er es dennoch. Sein ganzes Leben zog er mit Weiß stets 1.c4. Die Eröffnung wurde daher auch lange Bremer Partie anstatt Englisch genannt. Einmal klebten Witzbolde vor einer Partie den Bauern auf c2 fest, um zu sehen, was passierte ...

Tarrasch preist das „glänzend verlaufene Turnier“

Für den Initiator von Baden-Baden 1925, Siegbert Tarrasch, verlief das legendäre Turnier vor 100 Jahren nicht nach Maß. Der „Lehrmeister der Deutschen“, wie er ehrfurchtsvoll genannt wurde, hatte seinen Zenit schon lange überschritten. Zu seinen besten Zeiten galt der Nürnberger Arzt als würdiger Herausforderer von Weltmeister Emanuel Lasker. In der Kurstadt endete der 63-Jährige mit nur 7,5 Punkten als 16. unter 21 Spielern. Dennoch fiel das Fazit des früher so streitbaren Tarrasch, der gerne blumige Ausreden bei Schlappen erfand, äußerst positiv aus. „Nach mehr als vierwöchiger Dauer ist das in jeder Beziehung glänzend verlaufene Turnier zu Ende gegangen.“

Sieger Aljechin ein „furchtbarer Nebenbuhler“ von Weltmeister Capablanca

Besondere Lobeshymnen hat der Nürnberger für den Erstplatzierten parat: „Diesem glänzenden Verlauf des Kampfes entsprach auch der glänzende Erfolg des Siegers. Der russische Großmeister Alexander Aljechin hat von den 20 Partien nicht eine einzige verloren, 12 gewonnen und 8 unentschieden gemacht und somit eine erstaunliche Sicherheit gezeigt, die deshalb noch höher anzuschlagen ist, weil er nicht ein einziges Mal auch nur in einen größeren Stellungsnachteil geraten ist“, lobte Tarrasch nicht nur den Gewinner, sondern stellte ihn gleichzeitig auf eine Stufe mit José Raoul Capablanca. „Jedenfalls ist dem Weltmeister ein furchtbarer Nebenbuhler herangewachsen, der von Jahr zu Jahr an Stärke zunimmt“, schien Tarrasch zu ahnen, dass Aljechin 1927 Capablanca entthronen würde.

Tarraschs Hoffnungen erfüllten sich erst spät

Im Turnierbuch schloss Tarrasch mit den Worten: „Überall hat das Turnier großes Interesse erregt“, verwies der Großmeister auf weltweite Berichterstattung. „Infolge des allseitig befriedigenden Verlaufs der anregenden Veranstaltung ist eine Wiederholung des Turniers für das nächste Jahr, ja vielleicht sogar alljährlich geplant.“ Diese hehre Absicht wurde jedoch 1926 aus unbekannten Gründen nicht in die Tat umgesetzt. Erst ab 1980 sorgte Baden-Baden wieder in der Schachwelt für Aufsehen, sieht man von einer kurzen Station ab, als Aljechin seinen WM-Kampf gegen Jefim Bogoljubow (knapp hinter Fritz Sämisch Vierter des Turniers mit 13:7 Zählern) 1934 in der Kurstadt begann. Danach sorgte in den 90er Jahren Joachim Heiermann für schachliche Belebung an der Oos, vor allem mit dem Uhrensimultan von Weltmeister Garri Kasparow gegen die deutsche Nationalmannschaft. Der 3:1-Sieg der Legende brachte dem Russen eine BMW-Luxuskarosse im Wert von 70.000 Mark ein.

Wolfgang Grenke setzt die große Historie fort

Vor allem aber hat Wolfgang Grenke die große Schach-Tradition seiner Heimatstadt wiederbelebt. Auf Grund der historischen Turniere 1870 und 1925 brachte er Topschach an die Oos: Sein eigener Verein, die Ooser Schachgesellschaft (OSG) Baden-Baden mutierte in der Bundesliga zum Serien- und Rekordmeister. Über Ostern baute der erfolgreiche Leasing-Unternehmer auch ein Großmeister-Turnier auf, so dass sich auch Überspieler wie Magnus Carlsen und dessen Rivalen zum Stelldichein einfanden und der Norweger sich in die legendäre Liste der Sieger in Baden-Baden eintragen konnte. Der Erfolg der Beiturniere führte allerdings dazu, dass die Kapazitäten in der rund 56.000 Seelen zählenden Kurstadt nicht mehr ausreichten. Deshalb zog der große Schach-Zirkus ins nahe Karlsruhe um, wo sich jetzt über Ostern Carlsen und mehr als 3.000 Schachfreunde auf den 64 Feldern messen.

Zur Abrundung noch ein hübscher Sieg von Ernst Grünfeld in der 18. Runde. Der Namensgeber der Grünfeld-Indischen Verteidigung schlug Tarrasch mit einem spektakuläres Damenopfer.

Tabelle

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Hartmut Metz ist Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) mit Hauptsitz in Karlsruhe. Er schreibt außerdem unter anderem für die taz, die Frankfurter Rundschau und den Münchner Merkur über Schach und Tischtennis. Zudem verfasst der FM und Deutsche Ü50-Seniorenmeister 2023 von der Rochade Kuppenheim regelmäßig Beiträge für das Schach-Magazin 64, Schach-Aktiv (Österreich) und Chessbase.de.
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