Benjamin und Brecht - Extremdenker beim Schach

von Peter Muender
08.01.2018 – In der Berliner Akademie der Künste wird noch bis Ende Januar eine Ausstellung über die beiden "Extremdenker" Bertolt Brecht und Walter Benjamin gezeigt. Auch das Schachspiel spielte bei beiden eine Rolle. Peter Münder beleuchtet anlässlich der Ausstellung, wie sich ihre Art zu Denken auch im Schachspiel wiederfindet. (Foto: unbekannter Fotograf, © Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv)

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Offensiver Sponti gegen grüblerischen Ermüdungstaktiker

Die Berliner Ausstellung über die „Extremdenker“ Bertolt Brecht (1896-1956) und Walter Benjamin (1892-1940) würdigt in einer separaten Abteilung auch die beiden Schachspieler

Lässig zurück gelehnt, die Zigarre in der linken Hand, starrt Brecht seinen intensiv aufs Brett blickenden Gegner Benjamin an: Das Photo der beiden Schachspieler, aufgenommen im Sommer 1934 im dänischen Svendborg auf Fünen, wo Brecht bis 1938 im Exil lebte (danach in Schweden, Finnland und Kalifornien, nach Kriegsende in Ost-Berlin), zeigt das unterschiedliche Naturell der beiden Kontrahenten auf den ersten Blick. Den unter miserablen Bedingungen im Pariser Exil lebenden Kulturphilosophen Benjamin hatte Brecht für den Sommer in sein beschauliches dänisches Domizil eingeladen: Nicht nur, weil er ihm in dieser Notlage helfen wollte, sondern auch, weil ihm die öden Kartenspiele wie etwa 66, die er mit Helene Weigel wie einstudierte Rituale absolvierte, auf die Nerven gingen und seine schachspielende Mitarbeiterin Margarete Steffin viel zu selten eine Partie mit ihm spielen konnte.

Das Svendborger Photo illustriert jedenfalls: Der offensive Dynamiker Brecht will den ganz auf zermürbende Ermüdungstaktik setzenden Benjamin ohne langwieriges, genau berechnetes Brüten locker überrollen. Sie spielten ohne Uhr im sommerlichen Garten; nach ausführlichen Diskussionen über ihre neuesten Projekte und Möglichkeiten zur literarischen Zusammenarbeit war die tägliche Schachpartie für beide eine willkommene Abwechslung. Für den auf sportlichen Wettkampf und aufs agonale Prinzip fixierten Brecht, der schon in seiner frühen "Baal"-Phase Gedichte über Boxer und Radrennen schrieb, war ein Sieg jedenfalls wichtiger (oder natürlicher) als für den introspektiven Benjamin.

Beeindruckende Ausstellung in Berlin

In der beeindruckenden Ausstellung in der Akademie der Künste "Denken in Extremen" beleuchten Texte, Photos, Filmaufnahmen und Tondokumente nicht nur die biographischen Schnittstellen des Duos, sondern auch ihre Affinität zum Schachspiel in einem separaten Saal. 32 Aufnahmen der beiden Künstler Adam Bromberg und Oliver Chanarin zeigen die Holz-Figuren zum dazu gehörigen ebenfalls ausgestellten Brechtschen Schachbrett, während ein Schach-Automat die ersten zwölf Züge der damals unter dem Birnbaum gespielten Partie reproduziert. Was trotz fehlender Notation nur möglich war, weil die einzelnen Züge dieser Französischen Partie aufgrund der damals gemachten Photos notiert werden konnten.

Schachbrett aus dem Besitz von Bertolt Brecht (Foto: Marwan Bassiouni, © Akademie der Künste, Berlin, Brecht-Weigel-Gedenkstätte)

So bewegen sich also die Figuren wie von Geisterhand unter einer Plexiglas-Haube und kriechen auch gelegentlich quer über das Brett zum Abstellfeld am Rand, wenn sie geschlagen wurden. Betrachtet man den Ablauf dieser Eröffnung, merkt man schnell, dass beide Hobbyspieler heute von durchschnittlichen Clubspielern jederzeit besiegt werden könnten- offenbar war die Entwicklung der Figuren, eine Zentralisierung oder ein konkreter Plan für beide Spieler nur von sekundärer Bedeutung:


Brecht- Benjamin
Svendborg, Juli 1934
Französische Verteidigung

1. e4-e6
2. d4-d5
3. e5-c5
4. f4-c4
5. g3-Lb4#
6. Sd2-Ld2
7. Ld2-f6
8. ef6-Df6
9. Le3-Se7
10. h4- Sf5
11. Lf2-Sc6
12. c3

 

(Der weitere Verlauf der Partie ist nicht zu ermitteln)

Der offensive Power-Player Brecht hasste alles Statische ebenso wie langfristig angelegte komplexe Strategien. In dieser Partie wollte er offenbar auch mit Weiß für offene Linien und durchlässige Flanken sorgen, um so irgendeinen spontanen Angriff einzuleiten. Außerdem hatte sich Brecht auch Gedanken über eine Art "Turbo-Dynamisierung" und Wertveränderung der Figuren gemacht, wie Benjamin in seinen Svendborger Notizen damals festhielt: Dem Dramatiker schwebte nämlich ein Spiel vor,

"wo sich die Stellungen nicht immer gleich bleiben; wo die Funktion der Figuren sich ändert, wenn sie eine Weile auf ein und derselben Stelle gestanden haben: sie werden dann entweder wirksamer oder auch schwächer. So entwickelt sich das ja nicht; das bleibt sich zu lange gleich".

Da ergibt sich dann auch die Frage, ob Brecht die differenzierte Hierarchie der Figuren überhaupt richtig einschätzen und ihr Zusammenspiel beurteilen konnte? Und wie sollte diese Neubewertung der Figuren in der Praxis durchgeführt werden? Mit Spezial-Uhren für die Kontrolle stillstehender Figuren?

Schach als Teil der bürgerlichen Sozialisation

Für Brecht und Benjamin war das Schachspiel Teil ihrer bürgerlichen Sozialisation gewesen; Benjamin hatte als Jugendlicher regelmäßig mit seinem jüngeren Bruder Georg gespielt, der ein wesentlich begabterer und theoretisch versierterer Spieler war.
Wie Bernd-Peter Lange in seinem fundierten Katalog-Beitrag „Französische Verteidigung“ bemerkt, konnte sich Georg Benjamin bei einer Simultan-Veranstaltung mit Emanuel Lasker um 1920 sogar gut gegen den Weltmeister behaupten.

Auch der jüdische Religionsphilosoph Gershom Scholem war Benjamins Schachpartner gewesen- beide "ohne übermäßige theoretische Durchbildung", konstatierte Scholem später in seinem Rückblick "Walter Benjamin -die Geschichte einer Freundschaft".

Brecht hatte schon als Schüler ein Faible für Schach. Er hatte es vom Vater gelernt, als Tertianer jeden Mittwoch mit einer kleinen Clique zu Hause gespielt und dann auch im neu gegründeten Schulverein "Die lustigen Steinschwinger", der jedoch bald verboten und aufgelöst wurde. Über seinen stark ausgeprägten Ehrgeiz liefert er selbst in einer Tagebuchnotiz von 1913 Auskunft:

"Gegen Kölbig verlor ich 2:8, ein unerklärlicher Fall, da ich viel besser spiele als er", schrieb er am 21. Mai.

1934 in Dänemark stellte die tägliche Schachpartie nach dem Mittagessen im Brecht-Haus vor allem eine Art Sedativum dar: Am Brett fand man Ablenkung und Spannung, die bedrohliche Lage in Nazi-Deutschland konnte man vorübergehend ausblenden. Für den freien Autor und Literaturkritiker Benjamin, der seit 1926 Mitarbeiter der "Literarischen Welt" war und 1928 "Einbahnstraße" sowie "Ursprung des deutschen Trauerspiels" veröffentlicht hatte, war die finanzielle Lage trotzdem prekär: Denn die Arbeit an seinen großen Projekten über die Pariser Passagen, Baudelaire oder über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" kam nur schleppend voran, Honorare flossen nur spärlich und die Zusammenarbeit mit Adorno und Horkheimer vom New Yorker Institut für Sozialforschung gestaltete sich schwierig.

Der wesentlich prominentere, erfolgreichere und besser vernetzte Brecht war dagegen optimaler aufgestellt: Er hatte mit seinen frühen Stücken "Baal“, "Trommeln in der Nacht" und ,"Im Dickicht der Städte", Aufsehen erregt und 1928 mit der "Dreigroschenoper" den großen Durchbruch geschafft. Er erhielt Einladungen nach Schweden, England und Finnland, wo er Theaterprojekte und Diskussionen durchführen konnte und Stücke und Gedichte schrieb.

Freundschaftliche Rivalität

Die freundschaftliche Rivalität, die sich in ihren Partien am Brett manifestierte, zeigte sich auch in banalen Details, die für Brecht aber nicht unwichtig waren: Die schönen Figuren, mit denen sie spielten, hatte Benjamin aus Paris mitgebracht, auf Fünen nun wurden für Brecht ganz ähnliche Figuren hergestellt, "die Benjamins an Größe und Schönheit gleich kamen", wie Brecht in einem Brief an seine Mitarbeiterin und gelegentliche Schachpartnerin Margarete Steffin in einem Brief schrieb.

Schach mit Margarete Steffin (+1941, Moskau) (Unbekannter Fotograf)

Im kalifornischen Exil spielte Brecht noch Partien mit Hanns Eisler; er berief sich später sogar auf seine Schach-Aktivitäten, als er im Verhör durch das Komitee für unamerikanische Aktivitäten darauf verwies, mit Eisler nur Kontakt gehabt zu haben, um mit ihm Schach zu spielen.

Walter Benjamin spielte noch 1940 auf der Flucht nach Spanien im unbesetzten Teil Frankreichs in den Internierungslagern mit anderen Exilierten- etwa mit Arthur Koestler, Gisele Freund und Hannah Arendt, deren Kommentar zu den beiden schachspielenden Extremdenkern wir in der Ausstellung als eingespieltes Ton-Dokument hören können.

Nach Benjamins Suizid (mit Morphium-Tabletten) an der spanischen Grenze am 26. September 1940, von dem Brecht erst sechs Monate später in seinem kalifornischen Exil erfuhr, erinnerte er noch in seinem Nachruf an ihre damals im dänischen Idyll gespielten Partien:

 

An Walter Benjamin,
der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte

Ermattungstaktik war's, was dir behagte
Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten
Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte
Läßt sich von unsereinem nicht ermatten.

 

Benjamin und Brecht- Denken in Extremen. Ausstellung Akademie der Künste Berlin bis 28. Januar 2018, Hanseatenweg 10, Berlin Tiergarten.

Katalog (Hrsg. Erdmut Wizisla), Suhrkamp Verlag Berlin 2017, 284 S., 32,- Euro

 

Akademie der Künste, Hanseatenplatz Berlin, Google Streetview

Link:

Akademie der Künste...

 


Peter Münder, Anglist, Pinter-Biograph und begeisterter Schachfreund spielt beim Hamburger SK.

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