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Zum 100. Geburtstag
von Michail Botwinnik
Von Dagobert Kohlmeyer
Er war eine der legendärsten Gestalten der Schachgeschichte. Als sechster Weltmeister trug Michail Botwinnik 15 Jahre lang (mit zwei Unterbrechungen) die Krone.
Von Beruf war der Russe Elektroingenieur und arbeitete als Doktor der technischen Wissenschaften viele Jahre daran, einen „künstlichen“ Schachspieler zu schaffen. Über die enorme Rechenleistung von „Fritz“ würde der Übervater des sowjetischen Schachs heute sicher staunen. Seinen wertvollsten Beitrag aber leistete er als Schachpädagoge. In Botwinniks berühmter Moskauer Schule studierten unter anderen die späteren Weltmeister Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik.
Das Erbe Botwinniks wird heute von seinem Neffen Igor verwaltet.
Der 61-jährige leitet den Botwinnik-Fond in Moskau, der bereits 15 Jahre existiert. „Wir sind gemeinnützig, ich bekomme für meine Arbeit kein Geld. Alle Einnahmen von uns stecken wir in die Herausgabe von Büchern, die mit Botwinniks Schaffen zu tun haben.“ Es geht darum, sein Vermächtnis zu bewahren. Viele Dokumente, darunter wichtige Manuskripte oder Briefe von ihm, müssen gesichtet und erhalten werden. Und es werden neue Bücher über sein Schaffen herausgeben, auch in deutscher Sprache. Igor Botwinnik betreibt eine Schachschule, die den Namen Michail Moisejewitschs trägt. Er hat langjährige Erfahrungen damit und arbeitet schon seit 1969 als Schachtrainer mit Kindern zusammen. „Das tue ich sehr gern. Damit begann ich bereits in Weißrussland. In Moskau bin ich jetzt fast 30 Jahre. Ich assistierte meinem Onkel in seiner Schule, als dort zum Beispiel Wladimir Kramnik, Wladimir Akopjan, Alexej Schirow und andere Stars von heute den Unterricht besuchten.“
Die Schüler lauschten stets mit Spannung den Erzählungen Botwinniks, der die Großen der Zunft von einst, also Lasker, Capablanca oder Aljechin persönlich kannte und auch besiegen konnte. Unvergessen ist seine Partie gegen Capablanca beim AVRO-Turnier 1938 in Holland, wo er mit dem grandiosen Läuferopfer auf a3 einen der schönsten Züge der Schachgeschichte aufs Brett zauberte.
Botvinnik,Mikhail - Capablanca,Jose Raul [E49]
AVRO Holland (11), 22.11.1938
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 d5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 c5 7.cxd5 exd5 8.Ld3 0–0 9.Se2 b6 10.0–0 La6 11.Lxa6 Sxa6 12.Lb2 Dd7 13.a4 Tfe8 14.Dd3 c4 15.Dc2 Sb8 16.Tae1 Sc6 17.Sg3 Sa5 18.f3 Sb3 19.e4 Dxa4 20.e5 Sd7 21.Df2 g6 22.f4 f5 23.exf6 Sxf6 24.f5 Txe1 25.Txe1 Te8 26.Te6 Txe6 27.fxe6 Kg7 28.Df4 De8 29.De5 De7 30.La3 Dxa3 31.Sh5+ gxh5 32.Dg5+ Kf8 33.Dxf6+ Kg8 34.e7 Dc1+ 35.Kf2 Dc2+ 36.Kg3 Dd3+ 37.Kh4 De4+ 38.Kxh5 De2+ 39.Kh4 De4+ 40.g4 De1+ 41.Kh5 1–0
Partie (kommentiert von Kasparov) nachspielen....
Über die Begegnungen mit dem deutschen Weltmeister Emanuel Lasker berichtete
Botwinnik wie folgt:
„Wenn wir unsere Partien analysierten, versetzten mich seine Gedankengänge und seine Einschätzungen nicht selten in Staunen. Während ich die Stellung für aussichtslos hielt, zeigte er sich bereit, diese zu verteidigen. Dabei legte er eine phantastische Zähigkeit an den Tag. An und für sich war mein Urteil richtig. Doch Lasker hatte nicht minder im Recht, weil er die Meinung vertrat, dass bei spannendem Kampf Zeitnot und Müdigkeit entscheidend in die Waagschale fallen können. Eben deswegen gelang es Lasker nicht selten, sich in wahrhaft aussichtslosen Situationen aus der Affäre zu ziehen. Ich empfehle euch ein tieferes Studium von Laskers Partien. Besonders die, in denen er sich verteidigen musste. Überhaupt ist es von großem Nutzen, die Partien der großen Schachspieler zu studieren. Jeder von ihnen hatte seine typischen Spielpläne, beliebte Stellungen, technische und taktische Kniffe. Lernt ein Schachspieler das alles kennen, so bereichert er damit seine Bibliothek des Wissens.“
1948 hatte Michail Botwinnik die Schachkrone zum ersten Mal erobert. Sein letztes WM-Duell spielte er im Frühjahr 1963 in Moskau gegen Tigran Petrosjan, der ihm den Titel entriss. Damit war Botwinniks 15-jährige Herrschaft auf dem Schachthron beendet. Nach dem Wettkampf setzte sich der geschlagene Weltmeister mit den Ursachen seiner Niederlage auseinander, die er in einem Artikel mit der Überschrift „Warum ich das Match verlor?“ analysierte. Dort schreibt Botwinnik ganz offen von seiner schlechten Verfassung, die ungünstig für das schachliche Schöpfertum war. Besonders die achte Partie hätte dies unterstrichen. „Leider war mein Spiel auch in einigen anderen Partien vom Standpunkt der Harmonie des Schöpfertums so hilflos.“ Botwinnik versuchte, die Niederlage auch mit den Besonderheiten des Stils von Petrosjan zu erklären. Dieser messe der Verteidigung besondere Bedeutung bei. Sich diesem Stil anzupassen, sei keine einfache Sache. Botwinnik kommt zu dem Schluss, dass die etwas ungewöhnliche Spielweise Petrosjans ihn in dem WM-Kampf aus dem Gleis geworfen hat.
Rückblickend auf die Schachgeschichte konstatierte der fünffache Weltmeister etwas resignierend: „Mir scheint, dass im Schach die Zeit der Genies abgelaufen ist. Morphy, Steinitz, Lasker, Capablanca und Aljechin haben ihre Zeitgenossen vor allem durch ihr Talent überragt. Heutzutage kommt man mit Talent allein nicht aus: man braucht die erforderliche Gesundheit, die für Schachwettkämpfe unabdingbar ist, einen kämpferischen Charakter und schließlich eine spezielle Vorbereitung. Vor einigen Jahrzehnten erfolgte die Auswahl der stärksten Schachspieler der Welt aus einem verhältnismäßig kleinen Kreis. Das waren nicht sehr viele, ihre Namen sind allen bekannt. Heute haben wir eine Massenbasis für solche Größen, es wurden viele sehr stark, der Platz auf dem Schacholymp wird eng.“
Botwinnik 1994
Jetzt sollen ehemalige Botwinnik-Schüler zu Wort kommen, deren Karriere ohne den großen Einfluss des Patriarchen nicht denkbar gewesen wäre.
Juri Rasuwajew über Botwinnik
Du bist ein ehemaliger Botwinnik-Schüler. Der Patriarch der sowjetischen Schachschule hat seinerzeit wohl als Erster in vollem Umfang erkannt, wie wichtig Schach für die Entwicklung der Persönlichkeit ist.
Er leistete Pionierarbeit. Ich war in den 1960er Jahren tatsächlich Schüler in Botwinniks erster Schule. Dort lernte ich gemeinsam mit Anatoli Karpow, Juri Balaschow und anderen Koryphäen. Zudem war ich fünf Jahre lang Assistent von Michail Moisejewitsch. Das war Ehre und Ansporn zugleich. Heute bemühe ich mich, vieles von dem zu vermitteln, was er lehrte.
War der sechste Schachweltmeister eine Art lebendes Denkmal für Euch?
Ich denke, Michail Botwinnik war eine der größten Persönlichkeiten des Schachs im 20. Jahrhundert. In der UdSSR ist er es auf jeden Fall gewesen. Er begründete eine legendäre Schule, und alle späteren Methoden fußen auf Botwinniks Lehre. Es gibt ein geflügeltes Wort Dostojewskis: „Wir alle kommen von Gogols Mantel her". Und Michail Tal sagte einmal ganz treffend, dass wir alle von Botwinnik herkommen, so wie die russische Literatur von Gogols Buch „Der Mantel“. Botwinnik lebt in jedem unserer Schachspieler.
Das klingt sehr begeistert und voller Bewunderung.
Michail Botwinnik war der Schach-Lehrmeister schlechthin. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich das Glück und die Möglichkeit hatte, von ihm zu lernen und mit ihm zu arbeiten. Es ist ganz wichtig, jetzt diese wertvollen Erfahrungen an die heutige Generation weiter zu geben.
Die berühmtesten Schüler Botwinniks waren, wie eingangs schon erwähnt, die späteren Schachweltmeister Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik. Letzterer sagte uns erst vor einem Monat am Rande der Dortmunder Schachtage:
Ich habe viele gute Erinnerungen an Michail Moisejewitsch, obwohl es schon sehr lange her ist, dass ich bei ihm Unterricht hatte. Damals war ich ein 12-jähriger Schüler und übrigens einer seiner letzten Zöglinge.
War Botwinnik ein strenger Lehrer?
Das würde ich nicht sagen. Es ist wohl mehr eine Legende. Er war gütig und verhielt sich auch so zu uns Schülern. Michail Botwinnik hatte ein ganz feines Gefühl für Humor. Das sind meine stärksten Erinnerungen.
Was hat die Schule dir gebracht?
Sehr viele Erkenntnisse. Denn dort arbeitete ja nicht nur der Patriarch des sowjetischen Schachs, sondern in den letzten Jahren unterrichtete auch Garri Kasparow gemeinsam mit ihm in der Schule. Das war für uns alle sehr wertvoll.
Welche nachhaltigen Erinnerungen hast du noch, und welche Eindrücke von der Schule werden für immer bleiben?
Allein Michail Botwinniks Anwesenheit war wichtig. Seine interessanten Erzählungen über das Schach, das alles hat mich sehr bereichert. Es war nicht so, dass ich nach seinen Lektionen in Moskau in diesem zarten Alter sofort viel besser spielte. Das kam erst später. Aber der instruktive Unterricht von Botwinnik und Kasparow gab einem als jungem Schachspieler für die Karriere natürlich sehr viel.
Hauptschiedsrichter Andrzej Filipowicz aus Polen, seit Jahren ein Stammgast beim Sparkassen Chess-Meeting in Dortmund, hat Michail Botwinnik fünfmal getroffen. Hier sind einige Erinnerungen des heute 72-jährigen Internationalen Meisters aus Warschau an den sechsten Schachweltmeister:
„Das erste Mal sah ich Michail Botwinnik bei der Schacholympiade in Leipzig 1960. Es war meine Olympia-Premiere, ich war damals 22 Jahre alt und habe den Maestro nur aus der Ferne bestaunt. Zwei Jahre später beim Turnier der Nationen in Varna konnte ich ihn dann persönlich begrüßen und einige Worte mit ihm wechseln. In sehr guter Erinnerung habe ich die Schacholympiade 1964 in Tel Aviv, wo Polen ein sensationelles 2:2 gegen die Sowjetunion gelang. Wir schafften vier Remis. Es spielten: Petrosjan - Bednarski, Sliwa - Botwinnik, Keres - Filipowicz und Balcerowski - Spasski. 1971 spielte ich bei einem internationalen Turnier in Dubna bei Moskau. Botwinnik war dort als Ehrengast. Wir sprachen damals über Schachcomputer, mit deren Entwicklung er sich als Elektroingenieur ja lange Zeit beschäftigte. 1992 schließlich gab es in Linares ein WM-Kandidatenmatch zwischen Vishy Anand und Wassili Iwantschuk. Botwinnik war im Appellationskomitee. Gemeinsam mit Smyslow und mir hat Michail Moisejewitsch alle Partien analysiert. Wir redeten auch viel über Politik. Es stellte sich heraus, dass Botwinnik noch immer ein überzeugter Kommunist war. Er lobte Lenin, aber kritisierte das Verhalten Stalins.“
Auch Rafael Waganjan, der am letzten Spieltag mit seiner Frau Irina im Dortmunder Schauspielhaus vorbeischaute, hat viele gute Erinnerungen an Botwinnik.
„Ich bin zwar nie sein Schüler in Moskau gewesen, aber Michail Moisejewitsch war hin und wieder in Jerewan. Dort gab er uns Schachtalenten einige Lektionen, die mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind. Er war ein großartiger Schachlehrer, der viel Charisma hatte und uns eine Menge beigebracht hat“, betonte „Mister Bundesliga“. Waganjan erzielte mit 14,5 Punkten aus 15 Partien die beste Saisonleistung aller Zeiten in der obersten deutschen Spielklasse. Der Armenier lebt seit mehr zwei Jahrzehnten in Köln, wo er viele Jahre in Diensten der SG Porz stand.
Gedenkturniere
Michail Botwinnik wird in diesen Tagen und Wochen in Russland mit einer Vielzahl Veranstaltungen und Turnieren geehrt. So treffen sich die ersten Vier der Weltrangliste, also Magnus Carlsen, Weltmeister Vishy Anand, Levon Aronjan und Wladimir Kramnik in zwei Wochen zu einem mit Spannung erwarteten Gedenkturnier in Moskau. (1.-5. September 2011).
Auch ehemalige Weggefährten Botwinniks setzen derzeit bei einem Turnier in Susdal die Figuren: Wolfgang Uhlmann aus Deutschland, Viktor Kortschnoi (Schweiz), Lajos Portisch (Ungarn), Borislav Ivkov (Serbien), Mark Taimanow, Jewgeni Wasjukow, Igor Saizew, Alexander Nikitin, Anatoli Bychowski und Oleg Chernikow (alle Russland). Boris Spasski kann aus gesundheitlichen Gründen leider nicht an dem Event teilnehmen.
Wolfgang Uhlmann betonte vor der Abreise, dass Botwinnik in der Jugend sein großes Schachidol gewesen sei und sein Sieg über den Russen bei der Schacholympiade 1962 in Varna zu den schönsten Erinnerungen seiner Karriere gehört.
Nach sechs Runden in Susdal führt Viktor der Schreckliche die Tabelle standesgemäß mit 5,0 Punkten an.
Stand nach 6 Runden:
1. Korchnoi - 5,
2-4. Portisch, Nikitin, Vasiukov - 3½,
5-9. Ivkov, Chernikov, Uhlmann, Bykhovsky and Zaitsev - 2½,
10. Taimanov - 2.