II. Internationales Julius
Breyer-Memorial – Schachturnier Bad Pistyan 1922
Von Johannes Fischer
Sucht man heute nach Informationen über den Kurort Bad Pistyan (Piestany)
in der Slowakei , erfährt man rasch, dass es hier bis zu 67° Grad heiße
natürliche Heilquellen gibt, deren Reize Berühmtheiten wie die schwedische
Nobelpreisträgerin für Literatur Selma Lagerlöf, Edvard Beneš, den Namensgeber
der berüchtigten Beneš-Dekrete, Jaroslav Hasek, den Schöpfer des "braven
Soldaten Schwejk", aber auch Claudia Cardinale, Claudia Schiffer und David
Coulthard angelockt haben. Wahrzeichen des 20.000-Einwohner Kurorts ist der
"Krückenbrecher", die Statue eines athletisch gebauten jungen Mannes, der eine
Krücke entzwei bricht, die für die Besucher der Heilquellen der Stadt ja nun
unnötig geworden ist.
Schachspieler erinnern Bad Pistyan dagegen als Austragungsort zweier bedeutender
Turniere. Das erste fand 1912 statt und wurde von Akiba Rubinstein vor Rudolf
Spielmann und Frank Marshall gewonnen. Zehn Jahre später kam es zum II.
Internationalen Julius Breyer-Memorial Schachturnier Bad Piestany 1922, benannt
nach Gyula – dem ungarischen Äquivalent zu Julius – Breyer. Es war das erste
große Turnier nach dem Ersten Weltkrieg und signalisierte ein wieder erwachendes
Schachleben im Europa der Nachkriegszeit. Zugleich etablierten sich hier zwei
spätere WM-Kandidaten, die aus Russland bzw. der Ukraine nach Westeuropa
emigriert waren, an der Spitze des europäischen Schachs.
Der Namensgeber und Initiator des Turniers
Gyula
Breyer war nicht nur einer der stärksten ungarischen Schachspieler, sondern vor
allem ein prominenter Vertreter der Hypermodernen Schachschule. Als Freund und
Analysepartner Rétis machte er sich Gedanken über "Die neuen Ideen im
Schachspiel", die er mit provokanten Aphorismen propagierte. "Nach 1.e4 liegt
Weiß bereits in den letzten Zügen" lautet ein Ausspruch von ihm. Außerdem
glänzte der 1893 in Budapest geborene Breyer als Problemkomponist und hielt nach
einer Veranstaltung im Jahre 1921, bei der er gegen 25 Gegner gleichzeitig
angetreten war, eine Zeitlang auch den Weltrekord im Blindsimultanschach.
Kosice liegt nicht weit von Bratislava entfernt,
und dorthin war Breyer nach Ende des Ersten Weltkriegs gezogen, da er gehofft
hatte, dort leichter Arbeit zu finden. Doch diese Hoffnung erwies sich als
trügerisch und das von ihm gegründete Ingenieurbüro brachte so wenig ein, dass
Breyer in bitterer Armut lebte und gezwungen war, sich mit Schachunterricht,
Simultanveranstaltungen und durch Turnierpreisgelder mühsam über Wasser zu
halten. Ohnehin war Schach Breyers Leidenschaft. So regte er im Kosicer
Schachverein die Durchführung eines zweiten internationalen Schachturniers in
Bad Pistyan an, zehn Jahre nach dem ersten Turnier, bei dem Breyer als junges
Talent einen hervorragenden achten Platz belegt hatte. Leider erlebte er die
Verwirklichung seiner Idee nicht mehr, denn am 10. November 1921 erlag er mit
nur 28 Jahren einem Herzleiden. Ihm zu Ehren wurde das Turnier, das vom 7. bis
zum 29. April 1922 stattfand, Julius Breyer-Memorial getauft.
Ein Weltklasseturnier
Wie
das Turnierbuch schreibt, sollte das Turnier "nach dem Plan Breyers" ein
"wirkliches Friedensturnier werden, an dem viele Meister teilnehmen und eben
deshalb ihre Kräfte leichter messen konnten als in den kurzen Turnieren der
letzten Jahre, wie z.B. Göteborg, Berlin, Budapest und Haag" (Bernhard Kagan,
[Hrsg.], II. Internationales Julius Breyer-Memorial Schachturnier Bad
Piestany 1922, Zürich: Edition Olms, 1987, S.6.). So lud mit man Ausnahme
des Weltmeisters Capablanca fast alle Spitzenspieler der damaligen Zeit ein.
Geza Maroczy, Milan Vidmar und Jacques Mieses sagten wegen Zeitmangels jedoch
ab, Aaron Nimzowitsch, Emanuel Lasker, Richard Teichmann und Oldrich Duras
reagierten auf die Einladung nicht, während Akiba Rubinstein spielen wollte,
aber wegen einer Magenkrankheit in letzter Minute verhindert war.
Dennoch kam ein illustres Feld zusammen und
machte Bad Pistyan zu dem ersten großen Schachturnier nach dem Ersten Weltkrieg:
Neben Efim Bogoljubow und Alexander Aljechin waren u.a. Rudolf Spielmann,
Savielly Tartakower, Ernst Grünfeld, Siegbert Tarrasch, Georg Marco, Ladislav
Prokes und Max Euwe am Start. Insgesamt nahmen 19 Spieler in Bad Pistyan teil,
und da jeder gegen jeden spielen musste, waren insgesamt achtzehn Partien zu
absolvieren. Eine Runde war spielfrei.
Preise und Modus
Das Turnier fand in Bad Pistyan und der
Tschechoslowakei breite Unterstützung, und zahlreiche Spenden sorgten für einen
großzügigen Preisfonds. Für den ersten Platz gab es 5000 Kc (tschechische
Kronen), für den zweiten 3.400, dann 2.000, 1.500, 1.000, 800 und 600 für die
nachfolgenden Ränge. Die von dem Präsident der tschechischen Republik Masaryk
gestifteten Schönheitspreise wurde den Siegern der Partien Aljechin – Wolf,
Bogoljubow – Wolf und Hromadka – Tarrasch verliehen, der Preis für "die beste
slavische Partie" ging an Aljechin für seinen Erstrundensieg gegen Dr. Tarrasch,
während Réti für seinen Sieg gegen Grünfeld den Schönheitspreis des Schachklubs
Bratislava zugesprochen bekam.
Turnierlokal war das Grand Hotel Royal, "das
inmitten des Kurparkes, nahe am herrlichen Waldrand liegt" und so schwärmt das
Turnierbuch: "Wenn Äußerlichkeiten die Kraftentfaltung des Schachspielers
überhaupt anfachen können, so wären hier alle Möglichkeiten gegeben, um
exzeptionelle Leistungen hervorzubringen" (Kagan, Einleitung).
"Gespielt wurde nach den üblichen Turnierregeln,
nur probierte man eine beachtenswerte Neuerung des Turnierleiters Dr. Vécsey
aus, nach welcher in den ersten zwei Stunden 25 Züge und dann 15 Züge pro Stunde
geschehen müssen. Zu diesem Versuch bewog den Turnierleiter die Erfahrung, daß
die modernen Meister in der Eröffnung häufig ganz neue Wege einzuschlagen
pflegen, so daß man in diesem Teil der Partie nicht selten mehr Bedenkzeit als
im Mittel- und Endspiel braucht." (Kagan, S.6)
Turnierverlauf
Hatten die Veranstalter gehofft, mit dieser
Bedenkzeitregelung den Vertretern der Hypermoderne mit ihren subtilen
Eröffnungsexperimenten im Defensivschach bessere Chancen zu geben, so wurden sie
durch den Turnierverlauf enttäuscht, denn von Beginn an beherrschten drei
Angriffsspieler das Turnier: Alexander Aljechin, Efim Bogoljubow und Rudolf
Spielmann. Sie legten ein furioses Tempo vor, setzten sich schnell an die Spitze
der Tabelle und machten den Sieg unter sich aus. Wie groß der Unterschied
zwischen diesen drei Spielern und dem Rest des Feldes war, zeigt der Umstand,
dass Platz drei und Platz vier in der Schlusstabelle dreieinhalb Punkte
trennten.
Der Kampf um den Sieg blieb jedoch bis zur
letzten Runde spannend. Zur Halbzeit lag Bogoljubow mit 8 aus 9 einen halben
Punkt vor Aljechin und Spielmann, die beide 7,5 Punkte aufwiesen. Aber nach
Bogoljubows Niederlage gegen Tartakower in der 13. Runde übernahm Aljechin die
Spitze mit 10 Punkten aus 12 Partien, gefolgt von Bogoljubow mit 9,5 und
Spielmann mit 9 aus 12. Doch während Bogoljubow und Spielmann in den nächsten
fünf der sechs verbleibenden Runden beide nur ein Remis abgaben und 4,5 Punkte
holten, musste Aljechin zwei Mal in die Punkteteilung einwilligen und brachte es
"nur" auf 4 Punkte. Damit lagen Bogoljubow und Aljechin vor der letzten Runde
mit je 14 Punkten gleichauf, gefolgt von Spielmann mit 13,5. Und während
Spielmann und Bogoljubow in der Schlussrunde beide mit Schwarz souverän
gewannen, wirkte Aljechin mit Weiß gegen Réti unentschlossen und machte nach nur
27. Zügen Remis. Dadurch wurde Bogoljubow alleiniger Erster.
Alle Partien...
Aljechins Weißschwäche
Aljechins Schlussrundenremis gegen Réti war
symptomatisch für seinen misslungenen Endspurt, bei dem er vor allem mit Weiß
ungewöhnlich kraftlos wirkte. In der 15. Runde stand er mit Weiß gegen
Bogoljubow auf Verlust und konnte sich nur durch einen Schwindel retten, in
Runde 17 gab er mit Weiß nach nur 14 Zügen gegen seinen direkten Konkurrenten
Spielmann Remis und in der letzten Runde leistete er sich dann das erwähnte
Unentschieden gegen Réti.
Tatsächlich spielte Aljechin in diesem Turnier mit
Schwarz erfolgreicher als mit Weiß. Bei nur einem Remis gewann er acht seiner
neun Schwarzpartien, mit Weiß hingegen gewann er vier Partien, machte vier Remis
und verlor eine. Bei Bogoljubow war es genau umgekehrt: Er gewann alle seine
neun Weißpartien, gab jedoch mit Schwarz vier Remis ab und verlor eine Partie.
Sowohl Bogoljubow als auch Aljechin erlitten ihre einzige Niederlage gegen Savielly Tartakower. Spielmann blieb verlustpunktfrei, remisierte jedoch sieben
Mal.
Bogoljubows Glück
Seinen Turniersieg verdankte Bogoljubow
allerdings nicht nur seiner Weißstärke, sondern auch seinem Glück. In etlichen
Partien vergaben seine Gegner ganze oder halbe Punkte:
In Runde vier übersah Grünfeld gegen Bogoljubow
einen Gewinn, vertauschte dann bei einer taktischen Abwicklung die Züge und
verlor sogar.
In Runde acht brachte Bogoljubow gegen Sämisch
ein spekulatives, objektiv gesehen nicht korrektes, Figurenopfer, das aber nach
ungenauer Verteidigung von Sämisch dennoch zum Sieg führte.
In Runde neun stand Bogoljubow mit Schwarz gegen
Réti auf Verlust, konnte sich aber ins Remis retten, nachdem Réti eine
Gewinnvariante übersah.
In Runde zehn überspielte Tarrasch Bogoljubow,
setzte aber im entscheidenden Moment nicht energisch genug fort, wonach ihm die
Kontrolle über die Partie entglitt, was schließlich zu einem taktischen Versehen
in immer noch ausgeglichener Stellung führte.
Und in Runde siebzehn gegen Treybal stand
Bogoljubow mit Schwarz nach der Eröffnung aussichtsreich, vergab dann jedoch
seinen Vorteil, profitierte aber kurz darauf von einem Versehen Treybals in
einer Stellung, in der Treybal das Gambitspiels Bogoljubows mit besserer
Verteidigung in Frage hätte stellen können.
(Siehe auch die Anmerkungen zu den Partien).
Aber alle diese Fehler kamen nicht von ungefähr
und wurden von Bogoljubows aggressivem Spiel provoziert. Und so gilt für
Bogoljubow das, was Breyer nach einem Turniersieg einmal schrieb: "Ich weiß
selber nicht, wie, gelangte ich auf dem ersten Platz (sic). Mit Glück – sagte
man. Nach meinem Wissen haben nur die guten Spieler Glück." (Ivan Bottlik,
Gyula Breyer: Sein Leben, Werk und Schaffen für die Erneuerung des Schachs,
Unterhaching 1999: Fruth, S.99.
Aljechin hingegen spielte konstanter und hatte
eigentlich nur in seiner Partie gegen Bogoljubow Glück. Fast alle seine Siege
verdankte Aljechin seinem einfallsreichen Spiel, und es ist kein Zufall, dass er
die Partien gegen Tarrasch, Selesnieff, Johner, Wolf, Treybal und Hromadka
später in die Sammlung seiner besten Partien aufnahm.
Der für schwankende Ergebnisse bekannte Spielmann
startete gut in das Turnier und derart beflügelt spielte er auch weiterhin
selbstbewusst und stark. Sein kompromissloser Angriffsstil bescherte ihm dabei
glückliche Siege gegen Grünfeld, Johner und Euwe, drei Partien, die er ebenso
gut hätte verlieren können. Aber in der Schlussrunde, in der Spielmann mit
Schwarz unbedingt gewinnen musste, um seine Chancen auf den ersten oder den
geteilten zweiten Platz zu bewahren, besiegte er Treybal mit ruhigem
Positionsspiel.
Möglich, dass sowohl Bogoljubow als auch Aljechin
und Spielmann in Bad Pistyan besonders motiviert waren, weil sie bei diesem
ersten großen Schachturnier nach dem Ersten Weltkrieg zeigen wollten, was in
ihnen steckt. Spielmann, der während des Krieges als Soldat in der K.u.K. Armee
gedient hatte, trachtete danach, an seine Erfolge vor dem Krieg anknüpfen und
sein Leben als Schachspieler wieder aufzunehmen. Aljechin und Bogoljubow waren
jünger als Spielmann, aber mussten sich ebenfalls beweisen. Aljechin hatte durch
seine Heirat mit der Schweizer Journalistin Anneliese Rüegg, die er während
seiner Arbeit als Übersetzer für die Komintern kennen gelernt hatte, ein
Ausreisevisum aus der Sowjetunion erhalten. Im Juni 1921 begab er sich damit
über Lettland nach Westeuropa, um der Sowjetunion endgültig den Rücken zu kehren
und ein Leben als Berufsschachspieler in Europa zu beginnen. Sein erklärtes Ziel
war es, eines Tages Weltmeister zu werden, und nachdem er in den vergangenen
Monaten kleinere Turniere in Triberg, Budapest und Den Haag gewonnen hatte,
wollte er seinen Ruf in Bad Pistyan weiter festigen.
Bogoljubow hatte es bereits früher nach
Westeuropa verschlagen. Er stammte aus der Ukraine, ließ sich jedoch nach dem
Ende des Ersten Weltkriegs in Triberg im Schwarzwald nieder. 1914 wurde während
des Turniers in Mannheim interniert und kurz darauf in ein Lager in der Nähe von
Triberg gebracht. Dort verliebte er sich in die Tochter eines Lehrers aus dem
Ort, heiratete, bekam Kinder und blieb nach Kriegsende in Deutschland. Auch
Bogoljubow brauchte Erfolge, um nach dem Krieg ein Leben als Berufsschachspieler
führen zu können.
Sein Sieg in Bad Pistyan bot dafür eine gute
Ausgangsbasis, denn dadurch etablierte er sich endgültig in der Weltspitze, was
ihm weitere Einladungen zu Turnieren sicherte. Außerdem gewann er eine
ordentliche Summe Preisgeld. Eigentlich, so die Anekdote, wollte er seiner Frau
davon einen Pelzmantel kaufen, aber in einer Zeit galoppierender Inflation in
Deutschland entschloss sich das Ehepaar Bogoljubow für eine solidere
Investition. Sie kauften ein Haus in Triberg und richteten dort unter dem Namen
"Haus Bogoljubow" eine Pension ein. Das Haus steht heute noch.
Resümee
Bad Pistyan war das erste große Schachturnier
nach dem Ersten Weltkrieg und signalisierte eine Wiederbelebung des Schachlebens
in Europa. Im gleichen Jahr folgten bedeutende Turniere in London, Hastings,
Wien und Teplitz-Schönau. Spielmann zeigte in Bad Pistyan, dass er auch nach dem
Krieg zu den besten Spielern der Welt gehörte, was er in den nächsten Jahren
durch zahlreiche gute Ergebnisse bestätigte. Mit Bogoljubow und Aljechin
gelangten in Bad Pistyan zwei Spieler an die Spitze, die das Schach der zwei
kommenden Jahrzehnte entscheidend prägen sollten. Und auch wenn Aljechin
Bogoljubow in diesem Turnier den Vortritt lassen musste, so deutete sein
konstanteres Spiel doch an, dass er sich auf lange Sicht gesehen gegen diesen
Rivalen durchsetzen würde.
Quellen:
Alexander Alekhine, My Best Games of Chess
1908-1937, New York: Dover 1985.
Iván Bottlik, Gyula Breyer: Sein Leben, Werk
und Schaffen für die Erneuerung des Schachs, Unterhaching: Fruth 1999.
Michael Ehn, (Hrsg.), Rudolf Spielmann:
Portrait eines Schachmeisters in Texten und Partien, Koblenz: Verlag H.-W.
Fink, 1996.
Harry Golombek, Richard Rétis beste Partien,
Hollfeld: Beyer Verlag 2002.
David Hooper & Kenneth Whyld, The Oxford
Companion to Chess, Oxford University Press, 1996.
Robert Hübner, Weltmeister Aljechin,
ChessBase Monographie (CD), Hamburg.
Bernhard Kagan, (Hrsg.), II. Internationales
Julius Breyer-Memorial Schachturnier Bad Piestany 1922, Zürich: Edition Olms,
1987, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1923.
Leonard Skinner, Robert G.P. Verhoeven,
Alexander Alekhine's Chess Games, 1902-1946, McFarland 1998.
Sergei Soloviov, Bogoljubow: The Fate of a
Chess Player, Chess Stars 2004.