Bücher, Bücher, Bücher

von Johannes Fischer
13.12.2020 – Jedes Jahr erscheinen zahllose Schachbücher, gute und vielleicht auch weniger gute. Mit Blick auf das Gute werden hier fünf bemerkenswerte Bücher, die im fast vergangenen Jahr 2020 erschienen sind, kurz vorgestellt.

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Fünf bemerkenswerte Bücher

Andrew Soltis: Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi: A Chess Multibiography with 207 Games, McFarland 2020

Tigran Petrosian (geboren am 17. Juni 1929 in Tiflis), Viktor Korchnoi (geboren am 23. März 1931 in Leningrad), Mikhail Tal (geboren am 9. November 1936 in Riga) und Boris Spassky (geboren am 30. Januar 1937 in Leningrad) gehören zu den bedeutendsten Schachspielern des 20. Jahrhunderts. Drei von ihnen waren Weltmeister, einer, Viktor Korchnoi stand zwei Mal knapp davor. Die vier kamen zwischen 1929 und 1937 zur Welt, waren Rivalen, Freunde, Feinde und Weggefährten und haben das Schach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.

In seiner faszinierenden Mehrfachbiographie erzählt Andrew Soltis die Geschichte dieser vier Spitzenspieler, ihre Entwicklung, ihren Aufstieg, ihre Rückschläge und Krisen, ihre Rivalität und Freundschaft – von 1929 bis zum Jahr 1972, als Spassky im WM-Kampf in Reykjavik den Weltmeistertitel verlor und erstmals seit 1948 kein Sowjetspieler Weltmeister war.

Soltis, Großmeister und im Januar 1971 die Nummer 74 der Weltrangliste, hat von 1969 bis 2014 für die New Yorker Tageszeitung New York Post gearbeitet und gilt als einer der renommiertesten Schachautoren der Welt. Er gilt außerdem als ausgezeichneter Kenner der sowjetischen Schachgeschichte und sein 1999 erschienenes Buch Soviet Chess 1917-1991 ist mittlerweile sowohl ein Klassiker als auch Standardwerk der Schachgeschichte.

Auch diese packend geschriebene Viererbiographie hat das Zeug zum Klassiker. In vielen Anekdoten und Geschichten zeigt Soltis die menschlichen Stärken, Schwächen und Eigenheiten dieser vier so unterschiedlichen Persönlichkeiten, und zugleich zeigt er, wie das sowjetische System sie geprägt und gefördert hat, und wie sie unter diesem System gelitten haben. 207 Partien, darunter viele weniger bekannte, illustrieren das schachliche Können und das schachliche Erbe von Petrosian, Tal, Spassky und Korchnoi.

Andrew Soltis: Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi: A Chess Multibiography with 207 Games, McFarland 2020 [2019, Taschenbuch 394 Seiten, ca. 35,00 Euro. (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicher von McFarland zur Verfügung gestellt.)

Jan Timman, Timman’s Triumphs: My 100 Best Games, New in Chess 2020

1982 lag Jan Timman (geboren am 14. Dezember 1951 in Amsterdam) auf Platz zwei der Weltrangliste und viele Jahre galt er als bester Spieler der westlichen Welt. Timman hat sich drei Mal für die Kandidatenwettkämpfe qualifiziert und im Laufe seiner langen Schachkarriere zahlreiche Spitzenturniere gewonnen.

Neben seinen Erfolgen als praktischer Spieler ist Timman auch leidenschaftlicher Studienkomponist und hervorragender Autor. Er ist Redakteur der holländischen Zeitschrift New in Chess und hat bereits zahlreiche ausgezeichnete Bücher vorgelegt. Zuletzt, 2017, Timman’s Titans, ein Buch, in dem Timman sich an seine Begegnungen mit den Schachweltmeistern erinnert, sowie das 2018 erschiene Buch The Longest Game, eine gut erzählte und gut analysierte Darstellung der fünf Weltmeisterschaftskämpfe zwischen Garry Kasparov und Anatoly Karpov.

In Timman’s Triumphs, seinem neuesten Buch, lässt der holländische Großmeister jedoch die eigene Karriere noch einmal Revue passieren und analysiert 100 ausgewählte eigene Partien. Das meiste Material in diesem Buch ist neu, lediglich zehn dieser Partien hat Timman bereits in seinen 1995 erschienenen Selected Games analysiert.

Timman analysiert locker, verständlich und gründlich, doch dieses Buch beeindruckt zudem noch durch die vielen unterhaltsamen Geschichten und Anekdoten aus Timmans langer Karriere. Nicht nur als Analytiker und Schachspieler, sondern auch als Erzähler ist Timman großartig. Das macht Timman’s Triumphs zu einem Hochgenuss.

Jan Timman, Timman’s Triumphs: My 100 Best Games, New in Chess 2020, 349 Seiten, ca. 32,00 Euro. (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.)

David Navara, My Chess World, Thinkers Publishing 2020

Als Timman 1982 auf Platz zwei der Weltrangliste lag, war David Navara noch gar nicht auf der Welt. Er wurde erst drei Jahre später, am 27. März 1985, geboren, und man könnte meinen, mit 35 Jahren sei Navara eigentlich noch zu jung, um eine über 600 Seiten starke Schachautobiographie vorzulegen. Und während Timman in seinen Erinnerungen nonchalant von Haschisch- und Weingenuss, Reisen durch Europa ohne Geld und mangelnde Trainingsdisziplin plaudert, sucht man solche Abenteuer bei Navara vergeblich. Dafür erzählt er mit feiner Selbstironie unterhaltsame Anekdoten von den vielen Turnieren und Wettkämpfen, die er gespielt hat und gibt aufschlussreiche Einblicke in seine Gedankenwelt.

Navara wurde drei Tage vor seinem 17-jährigen Geburtstag Großmeister und mit einer aktuellen Elo-Zahl von 2697 gehört er zu den besten 50 Spielern der Welt. Auf dem Schachbrett hat er also bereits einiges erlebt. Außerdem hat Navara ein Studium der Logik erfolgreich abgeschlossen und spricht mehrere Sprachen – und seine Leidenschaft für Sprache und spielerische Intelligenz zeugt auch das von Navara verfasste Schachgedicht am Ende des Bandes.

Den Hauptteil des Buches machen jedoch 64 Partien Navaras aus, die er ausführlich und dennoch unterhaltsam analysiert. Und so ist auch dieses Buch eine sehr gelungene Schachbiographie und gut analysierte Partiensammlung.

David Navara, My Chess World, Thinkers Publishing 2020, 616 Seiten, kartoniert, ca. 31,00 Euro. (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Willy Hendriks, On the Origin of Good Chess Moves: A Skeptic’s Guide to Getting Better at Chess, New in Chess 2020

Dieses Buch des holländischen IMs Willy Hendriks ist keine Biographie und keine Partiensammlung, sondern beschäftigt sich mit Schachgeschichte. Es beginnt mit einem interessanten Quiz – einer Partie und vier Fragen. Hier die Partie...

 

... und hier die vier Fragen:

  • Wie stark sind die Spieler dieser Partie?
  • Wo hat Schwarz einen Fehler gemacht?
  • Wann ungefähr wurde diese Partie gespielt?
  • Wer könnten die Spieler sein?

Wer die Partie nachspielt, sieht schnell, dass Weiß den Schwarzen positionell überspielt. Deswegen ist es vielleicht eine kleine Überraschung, wenn man erfährt, dass dies eine Begegnung zwischen Adolf Anderssen und Daniel Harrwitz ist, und zwar die erste Partie ihres Wettkampfs in Breslau 1848, der am Ende 4-4 unentschieden ausging.

Diese und andere Partien von Anderssen deuten an, dass das gängige Bild von Anderssen als einem Taktiker, der verwegen und ohne Rücksicht auf Materialverlust auf Angriff gespielt hat, zu einseitig ist. Ausgehend von diesem Gedanken betrachtet Hendriks die Schachgeschichte und vor allem die Darstellung der Schachgeschichte noch einmal neu. Er macht das, indem er sich Partien von Spielern wie Greco, Philidor, Staunton, Anderssen, Morphy und anderen anschaut und versucht, ihren jeweiligen Beitrag zur Schachgeschichte aus ihren Partien heraus zu begreifen. Dabei kommt Hendricks zu dem Schluss, dass die herkömmlich erzählte Schachgeschichte, in der Philidor als Erster die Bedeutung der Bauern erkannte, in der Anderssen ein typischer Vertreter des romantischen Opferspiels und Steinitz die Grundlagen des positionellen Spiels formuliert hat, durch das Partienmaterial und die Veröffentlichungen der alten Meister nicht gestützt wird.

Natürlich beschäftigt sich Hendriks auch mit der Frage, wie es denn kommen konnte, dass die Schachgeschichte so erzählt wird, wie sie erzählt wird, und ob es jemanden gibt, der diese Erzählung in die Welt gesetzt hat. Ohne zu viel verraten zu wollen – Hendriks zufolge hat Emanuel Lasker dabei eine entscheidende Rolle gespielt.

Allerdings ist Hendriks’ Buch weit mehr als eine historische Abhandlung. Vielmehr interessiert ihn die Frage, was der einzelne Spieler oder die einzelne Spielerin aus der Schachgeschichte lernen kann, um das eigene Schach und das eigene Schachtraining zu verbessern.

2012 veröffentlichte Hendricks Move First, Think Later, eines der interessantesten und anregendsten Bücher über das schachliche Denken. Auch in On the Origin of Good Moves, dessen Titel und Cover nicht ohne Grund auf Charles Darwins Entstehung der Arten anspielt, ist Hendricks ein interessantes, provokantes und anregendes Buch geglückt.

Willy Hendricks, On the Origin of Good Moves: A Skeptic’s Guide to Getting Better at Chess, 432 Seiten, kartoniert, New in Chess 2020, ca. 29,00 Euro. (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Schach Niggemann zur Verfügung gestellt.)

David Smerdon, The Complete Chess Swindler: How to Save Points from Lost Positions, New in Chess 2020.

Der Titel verspricht viel, das Buch ist phantastisch – und wurde nicht umsonst vom Englischen Schachverband zum Book of the Year 2020 gewählt. Der australische Großmeister David Smerdon, der zur Zeit an der University of Queensland in Australien lehrt, hat Wirtschaftswissenschaften studiert und 2017 an der Universität von Amsterdam und am Tinbergen Institut promoviert. Seine Doktorarbeit trägt den erfrischend unakademischen Titel Everybody’s doing it: Essays on trust, social norms and integration und das menschliche Verhalten steht auch im Mittelpunkt seines Buches über die Kunst des Schwindelns.

Der Begriff "Schwindeln" hat beim Schach allerdings eine andere Bedeutung als im Alltagsleben – beim Schach zu "schwindeln" bedeutet in der Regel, dass man eine objektiv sehr viel schlechtere oder sogar verlorene Stellung noch Remis hält oder sogar gewinnt.

Diese Kunst zu beherrschen ist in der praktischen Partie ungeheuer wertvoll, allerdings wurde sie außer von Simon Webb, der in seinem berühmten Buch Schach für Tiger ein paar Ratschläge zum erfolgreichen "Schwindeln" erteilt hat, kaum untersucht. Doch wie Smerdon zeigt, kann man das Schwindeln erlernen und damit vielleicht schon allzu siegessichere Gegner vor unerwartete Probleme stellen und den einen oder anderen Punkt retten.

Systematisch und mit vielen wunderbaren Beispielen erklärt Smerdon, welche psychologische Einstellung beim Gegner und bei einem selbst einen erfolgreichen Schwindel begünstigen, um danach tief in die Trickkiste erfolgreicher Schwindler zu greifen und zu zeigen, welche schachlichen Motive Schwindler – und diejenigen, die nicht beschwindelt werden wollen – kennen sollten.

Das liefert viel schönes und anschauliches Material, aber zu einem Genuss wird Smerdons Buch auch durch seinen Enthusiasmus, seinen Humor und seine Schachbegeisterung. Er schreibt anschaulich, witzig, klar, unterhaltsam und macht immer wieder Ausflüge in andere Bereiche, zum Beispiel, indem er im Kapitel über "Optimismus" über den Monty Python-Film Das Leben des Brian nachdenkt oder in einem anderen Kapitel kurz erwähnt, was nach dem heutigen Stand psychologischer Forschung das Geheimnis des Erfolgs ist.

Da ein erfolgreicher Schwindel immer eine irrationale Komponente hat – wenn beide Seiten die besten Züge spielen würde, könnte man eine objektiv verlorene Stellung nicht retten – enthalten viele der von Smerdon präsentierten Beispiele ungewöhnliche Motive, und gerade weil die Partien alles andere als perfekt sind, sieht man wunderbar irrationale Partieverläufe und Konstellationen, die in den üblichen Partiensammlungen bester Partien nur selten vorkommen – was erfrischend originell ist.

So ist Smerdon ein enthusiastisch und gut geschriebenes Buch voller origineller Beispiele gelungen, das zudem noch für den praktischen Schachspieler äußerst nützlich ist. Und so hat The Complete Chess Swindler trotz der vielen anderen guten Schachbücher, die dieses Jahr erschienen sind, den Preis als Book of the Year 2020 durchaus verdient.

David Smerdon, The Complete Chess Swindler: How to Save Points from Lost Positions, New in Chess 2020, 368 Seiten, kartoniert, ca. 25,00 Euro. (Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von New in Chess zur Verfügung gestellt.)


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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