Büsum 1968: Erinnerungen von Robert Hübner

von Johannes Fischer
20.09.2018 – Das Turnier in Büsum 1968 war eines der ersten internationalen Turniere in der Bundesrepublik Deutschland. Turniersieger wurde der damals 19-jährige Robert Hübner. 50 Jahre später erinnert sich Hübner in einem schönen Buch an das Turnier – und an den bekannten deutschen Großmeister Friedrich Sämisch, dessen Geburtstag sich heute, am 20. September, zum 122sten Mal jährt. | Foto: Robert Hübner 1983, Dutch National Archive

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Büsum 1968

Das Turnier in Büsum 1968 war gut besetzt, aber kein Spitzenturnier. Und doch erscheint jetzt, 50 Jahre später, ein Buch über dieses Turnier. Geschrieben hat es der Turniersieger Robert Hübner und diese Erinnerungen sind lesenswert und interessant. Gespielt wurde in Büsum vom 9. bis zum 24. Mai 1968 und der damals 19-jährige Hübner stand am Beginn einer glanzvollen Karriere. Nur zwei Jahre später, 1970, landete er beim Interzonenturnier in Palma de Mallorca zusammen mit Bent Larsen und Efim Geller auf dem geteilten zweiten bis vierten Platz – 3½ Punkte hinter Turniersieger Bobby Fischer – und qualifizierte sich erstmals für die Kandidatenwettkämpfe.

Robert Hübner, der beste deutsche Schachspieler nach dem Zweiten Weltkrieg

In seinen Erinnerungen konzentriert sich Hübner auf die Teilnehmer des Turniers, auf die Offiziellen und die Partien. Er schreibt:

Wenn ich versuche, mir Bilder von meinem Aufenthalt in Büsum vor Augen zu rufen, ist alles von hellem, strahlendem Licht übergossen: aber ich stoße kaum auf feste Formen. Nur an die Spaziergänge auf dem Damm vor dem Watt mit Aussicht auf die Priele erinnere ich mich mit einiger Schärfe. (S.6)

Umso schärfer erinnert Hübner die Teilnehmer, die Offiziellen und die schachlichen Höhepunkte des Turniers. Er charakterisiert jeden der 16 Teilnehmer mit einer kurzen Zusammenfassung der Schachkarriere des jeweiligen Spielers und einer Beschreibung seines Spielstils, oft ergänzt um eine Einschätzung dessen Charakters. So schreibt Hübner über den holländischen Großmeister Jan Hein Donner:

In seinem Spiel zeigte er gutes strukturelles Verständnis, aber auf taktischem Gebiet war er unsicher. Insbesondere pflegte er häufiger Opfer recht durchsichtiger Fallen zu werden. Er äußerte sich gerne öffentlich und liebte es dabei, spielerisch zu provozieren. Dadurch hatte er in den Niederlanden einige erbitterte Feinde; aber im Wesen war er ein gutmütiger Riese von fast zwei Metern Länge. (S.8)

Weniger wohlwollend fällt Hübners Urteil über Turnierleiter Willi Fohl (1894-1981) aus. Noch 50 Jahre nach dem Turnier spürt man Hübners Erbitterung über den damals einflussreichen Funktionär:

[Fohl] besorgte unter den Präsidenten Dähne und Schneider viele Jahre lang ganz allein den gesamten Schriftverkehr des Deutschen Schachbundes und trat bei allen Veranstaltungen von bundesweiter Bedeutung als Turnierleiter auf. Er tat dies ehrenamtlich, ohne jede Besoldung. Als einziges ausführendes Organ war er vielleicht der wichtigste Mann im Deutschen Schachbund; er war unvermeidbar und unersetzlich.

Bei seinem Auftreten achtete er auf ein gepflegtes Äußeres. Stets war er in Anzug mit dazu passender Weste und Krawatte gekleidet, und sein weißes Schnurrbärtchen auf der Oberlippe war sorgfältig gestutzt. Nie fehlt seine gedrungene Gestalt auf den Photographien, mit denen man das gesamte Teilnehmerfeld einer Veranstaltung festzuhalten pflegte.

Weniger überzeugend war sein Reden und Handeln. Er erfüllte genau die schablonenhafte Vorstellung, die man mit dem Begriff ‚Feldwebel‘ verbindet. Er sprach stets im militärischen Schnauzton und duldete keinerlei Einwände.

Er war unfähig, die damals wichtigste Aufgabe eines Turnierleiters zu erfüllen, die Überwachung von Zeitnotschlachten. ... Fohl konnte sich auf den 64 Feldern nicht so schnell zurechtfinden, als daß (sic; Hübner ist Anhänger der alten deutschen Rechtschreibung) er den Partieverlauf hätte festhalten können, und die für das Verhalten der Spieler und des Schiedsrichters für Zeitnotfälle festgelegten Regeln waren ihm gänzlich unbekannt. ...

Das Wesen und die Bedürfnisse der Schachspieler waren ihm völlig fremd. ... Wer nicht in seinen Machtbereich fiel, betrachtete ihn als lächerliche Figur; wer aber abhängig von ihm war, besah ihn mit Abneigung und Furcht. Er war wohl frei von Bösartigkeit; aber auf Grund seiner tiefen inneren Unsicherheit, gepaart mit nicht geringer Eitelkeit, traf er Entscheidungen, die anderen beträchtlichen Schaden zufügen konnten. Heute ist er vergessen; aber der Charaktertypus ist nicht ausgestorben. (S. 6-8)

Ganz anders fallen Hübners Erinnerungen an Friedrich Sämisch aus. Sämisch wurde am 20. September 1896 geboren und war beim Turnier in Büsum bereits 71 Jahre alt und eine lebende Legende.

Friedrich Sämisch (* 20. September 1896 in Charlottenburg bei Berlin; † 16. August 1975 in Berlin-Wannsee)

Hübner scheint tief beeindruckt von Sämisch gewesen zu sein und widmet ihm ein eigenes Kapitel. Dabei folgt er den Mustern der Kurzbiographien der Teilnehmer: Einem kurzem Abriss der schachlichen Karriere folgen eine Charakterisierung des Spielstils sowie persönliche Eindrücke und Beobachtungen:

Seinen größten Turniererfolg erzielte Sämisch im Turnier von Baden-Baden 1925. Er wurde Dritter mit 13½ aus 20 hinter A. Aljechin 16 und A. Rubinstein 14,5 vor Boguljubow, Marshall, Tartakower, ..., Nimzowitsch, so gut wie allen führenden Spielern der damaligen Zeit außer Capablanca und Lasker. ...

Im Stellungsaufbau zeigt Sämisch tiefe Einsichten und Originalität, aber dann beginnt er oft zu zögernd und zu vorsichtig zu operieren.

Nach Karlsbad 1929 nahm Sämisch nicht mehr an Spitzenturnieren teil, erreichte jedoch gute Plazierungen in bescheidenen Turnieren. .... Schon zu Beginn seiner Schachlaufbahn war er darauf erpicht, die strukturellen Besonderheiten einer jeden Stellung in aller Tiefe zu ergründen, so daß er oft in Zeitbedrängnis kam. In der Spätphase seiner Schachlaufbahn waren ihm Ergebnisse gleichgültig geworden, und er verlor die meisten Partien durch Zeitüberschreitung. ... Es gibt ein Bündel von Anekdoten über Sämisch, die ihn als exzentrischen Mann schildern, der keinerlei Empfinden für die Lage seiner Mitmenschen hatte. Dies entspricht in keiner Weise meinen eigenen Erfahrungen. Er paßte sich nicht an die Forderungen der Gesellschaft an, und deren Wertvorstellungen waren ihm fremd; aber im persönlichen Umgang war er rücksichtsvoll und bescheiden. ...

In ihm griffen in einzigartiger Weise selbstgewählte Begrenzung und Beschränkung mit Unabhängigkeitswillen und Weite des Empfindens in einander. Er war von gewinnendem Wesen. (S. 13-18)

Zur Illustration der Spielweise von Sämisch zeigt Hübner die Partie Sämisch gegen Grünfeld aus dem Turnier in Karlsbad 1929.

 

(Ausführliche Kommentare zur Partie findet man in Hübners Buch.)

Bei der Schilderung des Turniergeschehens in Büsum folgt Hübner dem Turnierverlauf Runde für Runde, indem er auf Höhepunkte – oder fehlende Höhepunkte – der jeweiligen Runde verweist und mit Partien und Analysen ergänzt. Nun gelten Hübners Analysen als legendär ausführlich, aber hier beschränkt er sich darauf, die wichtigen Momente der von ihm vorgestellten Partien zu besprechen, was den Zugang zu den Partien erheblich erleichtert ohne die Qualität seiner Kommentare zu beeinträchtigen.

Die Entscheidung über den Turniersieg fiel erst in der letzten Runde, in der Partie zwischen Donner und Hübner. Der Schluss dieser Partie macht einmal mehr deutlich, wie wertvoll persönliche Erinnerungen sind. Nach 25 Zügen stand in der Partie folgende Stellung auf dem Brett:

 

Hier spielte Hübner 25...c3, was Weiß mit 26.Dxb4? beantwortete. Hübner kommentiert. "Donner glaubte ... auf Gewinn zu stehen, weil seine schweren Figuren das Zentrum kontrollieren. Er hielt den Vorstoß für eine Verzweiflungstat und schlug ohne langes Nachdenken den ungedeckten Bauern." (S.51)

Doch dabei übersah Donner eine wichtige taktische Ressource des Schwarzen. Nach 26...Tab8 27.Dxc3 Db6+ 28.Tc5 Txc5 29.Dxc5 verzichtete Weiß auf den Bauerngewinn mit 25...Dxb2, sondern spielte stattdessen 29...Tc8 und gewann die Partie. 0-1.

Mit diesem Sieg gewann Hübner auch das Turnier. Im Turnierbuch erzählt er noch eine hübsche Anekdote über das Partieende:

Als [29...Tc8] auf dem Brett stand, brach ein sachkundiger, aber ungezogener Zuschauer in herzhaftes Gelächter aus. Donner nahm dies nicht krumm. ‚Man lacht mich aus‘, sagte er mit weinerlicher Stimme, aber unbewegter Miene, während er die Hand zum Zeichen der Aufgabe herüberreichte. (S.51)

Hübner gehörte fast 20 Jahre lang zu besten Spielern der Welt, nahm vier Mal an den Kandidatenwettkämpfen teil und lag im Juli 1981 hinter Karpov und Kortschnoi auf Platz drei der Weltrangliste. Hübners Analysen sind legendär und mit seinen Untersuchungen zu Wettkämpfen von Steinitz, Lasker, Schlechter, Aljechin, Capablanca und Bobby Fischers Buch Meine 60 Denkwürdige Partien hat er Schachgeschichte geschrieben und die Schachgeschichte bereichert. Aber oft sind es die „kleineren“ Arbeiten und Aufsätze – zu denen auch dieses Turnierbuch über Büsum 1968 gehört – in denen Hübners stilistische Brillanz, seine Sorgfalt, sein tiefes schachliches Wissen und nicht zuletzt sein feiner Humor und sein Sinn für Ironie am besten zur Geltung kommen.

Endstand nach 15 Runden

Rg. Titel Name Land 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Pkt.
1 GM Robert Huebner
 
½ ½ ½ ½ ½ ½ 1 ½ 1 1 ½ 1 1 1 1 11.0 / 15
2 GM Georgi Petrov Tringov
 
  ½ ½ 1 ½ ½ 1 ½ ½ 1 ½ ½ 1 1 1 10.5 / 15
3 GM Bruno Parma
 
½   ½ ½ ½ ½ 0 ½ 1 1 ½ 1 ½ ½ 1 9.0 / 15
4 IM Atanas Stefanov Kolarov
 
½ ½   ½ ½ ½ ½ 1 ½ 1 ½ ½ ½ ½ 1 9.0 / 15
5 GM Arturo Pomar Salamanca
 
0 ½ ½   ½ ½ 1 ½ ½ ½ 1 1 ½ ½ 1 9.0 / 15
6 GM Hans Joachim Hecht
 
½ ½ ½ ½   ½ ½ ½ 0 ½ 1 1 1 ½ 1 9.0 / 15
7 GM Alberic O'Kelly de Galway
 
½ ½ ½ ½ ½   ½ ½ ½ ½ ½ ½ 1 1 1 9.0 / 15
8 GM Jan Hein Donner
 
0 1 ½ 0 ½ ½   0 ½ ½ ½ 1 1 1 1 8.0 / 15
9 FM Hans Besser
 
½ ½ 0 ½ ½ ½ 1   0 0 1 ½ ½ ½ 1 7.5 / 15
10 IM Borge Andersen
 
½ 0 ½ ½ 1 ½ ½ 1   ½ ½ ½ ½ 0 1 7.5 / 15
11 GM Mato Damjanovic
 
0 0 0 ½ ½ ½ ½ 1 ½   ½ ½ ½ ½ 1 6.5 / 15
12   Georg Pollak
 
½ ½ ½ 0 0 ½ ½ 0 ½ ½   ½ ½ 1 0 6.0 / 15
13 IM Dieter A Mohrlok
 
½ 0 ½ 0 0 ½ 0 ½ ½ ½ ½   1 ½ 1 6.0 / 15
14 IM Vojko Musil
 
0 ½ ½ ½ 0 0 0 ½ ½ ½ ½ 0   1 1 5.5 / 15
15 IM Antonio Angel Medina Garcia
 
0 ½ ½ ½ ½ 0 0 ½ 1 ½ 0 ½ 0   ½ 5.0 / 15
16 GM Friedrich Saemisch
 
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 ½   1.5 / 15

Partien

 

Büsum 1968: Erinnerungen von Robert Hübner, Berlin 2018: Edition Marco/Verlag Arno Nickel, gebunden, 54 Seiten, 18,80 Euro.


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

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