Berlin wieder mit zwei Teams im
Schach-Oberhaus
Von Dagobert Kohlmeyer
In der kommenden Spielzeit werden wieder
zwei Mannschaften aus der Hauptstadt die Figuren in der 1. Schach-Bundesliga
setzen. Nachdem das Team des SK König Tegel, dem eigenen Fahrstuhl-Prinzip
folgend, seinen Wiederaufstieg erwartungsgemäß geschafft hatte, lag es nun an
den Schachfreunden Berlin, den Verbleib im Oberhaus an diesem Wochenende aus
eigener Kraft zu sichern. Notwendig war dazu allerdings noch ein erfolgreicher
Stichkampf mit der SV Griesheim. Der Bundesliga-Neuling aus Hessen wies nach dem
letzten Spieltag kurioserweise die gleiche Anzahl von Mannschafts- und
Brettpunkten wie die Berliner auf. Was sich so leicht liest, war dann ein ganz
hartes Stück Arbeit, ehe die Schachfreunde nach über sechs Stunden Spielzeit am
Ziel ihrer Wünsche waren.
„So eine Situation hat es bis dato noch
nicht in der Geschichte der 1. Bundesliga gegeben, dass zwei Teams ein Stechen
gegen den Abstieg bestritten“, sagte uns Spielleiter Jürgen Kohlstädt, der es
sich nehmen ließ, Hamburg am Samstag zu verlassen, um das Duell im Rathaus
Schöneberg zu verfolgen.
Der 67-jährige frühere Diplomingenieur ist
seit vielen Jahren als wichtiger Regisseur aus der Schach-Bundesliga nicht mehr
wegzudenken.
Die Flagge mit dem Berliner Bären wehte
stramm über dem Schöneberger Rathaus, als beide Teams am Samstagnachmittag ab 14
Uhr um den letzten noch vakanten Bundesliga-Platz der nächsten Saison stritten.
Der Reporter musste sich erst durch das
Gewimmel auf dem traditionellen Flohmarkt vor dem imposanten Gebäude kämpfen,
ehe er ins erste Stockwerk steigen konnte, wo der Kennedy-Saal Schauplatz des
Schachgeschehens war.
Schiedsrichter Matthias Möller nahm die
Auslosung der Brettfarben vor, wonach die Schachfreunde am ersten Brett Weiß
hatten.
Sodann erläuterte er noch kurz die Berliner Wertung, wonach es bei einem 4:4 für
einen Sieg an Brett 1 acht Punkte und dann abwärts für einen Sieg am Brett 8 nur
einen Punkt gibt.
Griesheim trat in gleicher Aufstellung an
wie beim letzten Mal, bei den Schachfreunden fehlte Normunds Miezis. Dennoch
waren die Berliner auf Grund ihrer nominellen Stärke und größeren
Bundesliga-Erfahrung natürlich Favorit. Zudem hatten sie den direkten
Saison-Vergleich mit 5,5:2,5 souverän gewonnen. Aber wie beim Pokal haben solche
„Endspiele“ natürlich ihre eigenen Gesetze, und nach vier Stunden sah es
überhaupt nicht nach einem Sieg der Schachfreunde aus. Da führten die Gäste aus
Hessen überraschend mit 2,5:1,5. Im Live-Ticker von Wolfram Burckhardt las sich
das so:
Grabarczyk-Berndt
Jan Markos
17:10 Griesheim geht in Führung. Was Sb3 für
Tazbir in Hamburg war, ist heute Tfe8 für Martin Krämer, der eine starke Saison
gespielt hat, aber ausgerechnet heute unter die Räder gerät. Das macht die
Ausgangslage für die Schachfreunde nun sehr schwer. Zwar haben wir an einigen
Brettern Vorteile, aber diese sind noch nicht solchen Ausmaßes, dass die Ernte
nur noch eingefahren werden müsste. Meine Hoffnungen ruhen vor allem auf Andrei
und Ilja. Zu Rainers Partie habe ich noch nichts geschrieben, wohl aus dem
Grunde, weil sie noch in der Schwebe steht und sich auf beide Seiten der Waage
neigen kann.
Martin Krämer
Murdzia-Lauber
17:46 Oh je! Hatte ich noch beim letzten Mal
das Wunder von Hamburg gepriesen, so droht es heute das "blaue Wunder" von
Berlin zu werden. Innerhalb der letzten Stunde haben sich nahezu alle Stellungen
verschlechtert, und auch der sicher geglaubte Sieg von Andrei ist aus den Händen
gerutscht. Nach den gegenwärtigen Auspizien spricht vieles dafür, dass die
Schachfreunde in der nächsten Saison zweitklassig sein werden ...
18:03 Dieser Kampf ist der schlichte
Wahnsinn. Eben sah alles noch nach dem Untergang aus, doch irgendwie hat die
Schachgöttin einen Sinn für Dramatik. Oder nüchterner: Alles Nervensache! Lars
steht mittlerweile auf Gewinn und auch Andreis Gegner hat ihn aus dem
Dauerschach entwischen lassen. Hier könnten zwei Punkte herkommen. Ilja hat
zumindest ein Remis, aber ob es zum Gewinn reicht, ist fraglich; genauso
fraglich, ob Arnd seine Stellung remis halten kann. Vielleicht muss gar am Ende
die Berliner Wertung herhalten. Ich werde mal rechnen, Rainer ist da
optimistischer und tippt auf einen Gewinn.
Ilja Schneider
18:28 Nach Berliner Wertung hätte Griesheim
durch den Sieg am zweiten Brett die besseren Karten, und es ist schwerlich
anzunehmen, dass Arnd seine Partie gewinnen wird. Es müssen also 3 volle Punkte
her. Lars wird mit höchster Sicherheit dazu seinen Beitrag leisten, kaum
anzunehmen, dass er sich das aus den Fingern gleiten lässt (wenngleich die
Genese dieser Partie sehr außergewöhnlich war, sah es doch lange Zeit keineswegs
so aus, als würde dieser Sieg in dieser Form zustande kommen). Andreis Chancen
sind inzwischen wieder gut, aber angesichts des Partieverlaufes bleiben
Restzweifel. Fehlen noch Ilja und Arnd, die zusammen einen Punkt ergattern
müssen. Das scheint machbar!“
20:08 HURRA! Um zahlreiche graue Haare
vermehrt und nach einer regelrechten Nervenschlacht haben die Schachfreunde das
blaue Wunder abgewendet und stattdessen das Wunder von Berlin geschafft und
bleiben in der ersten Schachbundesliga. Ilja spielt remis und damit ist der
4,5-Sieg nun auch offiziell. Ich verabschiede mich erschöpft, aber glücklich und
freue mich auf ein weiteres Jahr tollen Schachs mit spannenden, hoffentlich
weniger nervenaufreibenden Partien. Allen Schachfreunden im engeren wie weiteren
Sinne einen schönen Abend und einen sonnigen Ersten Mai.“
Cockpit für die Live-Übertragung
Auch wir gratulieren den Schachfreunden Berlin herzlich!
Nach mehr als sechs Stunden war die längsten
Partien Maksimenko – Jakubowski (1:0) und Schneider – Bulski (Remis) zu Ende,
und die Berliner können sich auf ein weiteres Jahr im Schach-Oberhaus freuen.
Andrei Maksimenko
Zwischendurch war Gelegenheit zu einem
Gespräch mit Jürgen Kohlstädt, in dem der verdienstvolle Schachfunktionär uns
erzählte, wie es zu seiner Laufbahn als Spielleiter kam:
„Zum Schach bin ich durch meine Frau
gekommen. Sie hat verhältnismäßig stark gespielt und jung verheiratet, bin ich
aus Eifersucht mit gerannt, weil sie oft unterwegs war. Und dann habe ich
gemerkt, das ist alles ganz harmlos. Das Schach hat auch mir Spaß gemacht.
Allerdings merkte ich recht schnell, dass meine Fähigkeiten als Schachspieler
nicht so toll sind und sagte mir: du wirst kein Großmeister. Mehr reizte mich
das Organisatorische. In Hamburg spiele ich in einem ganz kleinen Verein, der
sich TV Fischbek nennt.
1983 wurde ich Spielleiter vom Hamburger
Schachverband und 1985 Leiter der 2. Bundesliga Nord und der damals noch zwei
Oberligastaffeln des Nordens. Ab 1990 wurden es dann drei Staffeln. 1990 wurde
ich dann Spielleiter der Bundesliga und trat die Nachfolge von Hans-Adolf
Krützfeld an, der Sportdirektor wurde. Seit 1995 bin ich auch für den
Bundesliga-Ergebnisdienst zuständig, den ich für alle oberen deutschen Staffeln
von Hamburg aus mache.“
Das Reizvollste am Schach ist für Kohlstädt,
dass Jung und Alt und verschiedene Geschlechter miteinander spielen können. Das
gibt es in keiner anderen Sportart, dass ein Großvater sich mit seinen Urenkeln
messen kann.
Normalerweise leitet Jürgen Kohlstädt solche
Stichkämpfe selbst, aber um den Berlinern und Griesheimern weitere Kosten zu
ersparen, hatte er das den Schachfreunden in der Hauptstadt übertragen. Denn den
Vereinen, die unten in der Tabelle stehen, geht es finanziell ja meist nicht so
gut. Bisher hatten wir nur dreimal ein Stechen um den deutschen Meistertitel,
aber gegen den Abstieg mussten noch nie zwei Klubs in einem solchen Duell
spielen.
Die bisher für das Schach geleisteten
Stunden kann Jürgen Kohlstädt natürlich nicht mehr zählen. Bis vor zwei Jahren
hat er noch bei Airbus gearbeitet, jetzt kann er das Pensionärs-Leben genießen
und sich um Kinder und Enkel kümmern. Und natürlich weiter mit großem Engagement
um die Schach-Bundesliga.
Ein anderer verdienstvoller Funktionär aus
Berlin schaute sich das Stichkampf-Duell im Rathaus Schöneberg auch an. Für
Manfred Rausch, den Vorsitzenden von König Tegel, war es eine
Selbstverständlichkeit, trotz Gehbeschwerden zu kommen. Von Jürgen Kohlstädt
erfuhren wir noch, dass die Berliner Teams in der kommenden Bundesliga-Saison
den Hamburger SK bzw. den USV Dresden zum Reisepartner bekommen.
Griesheims Teamchef Benedikt Bayer sagte
uns, dass die Hessen das Jahr in der 1. Bundesliga sehr genossen haben und nicht
damit gerechnet hatten, überhaupt eine Chance zu bekommen, sogar drin zu
bleiben.
Benedikt Bayer
Der 73-jährige Schachfunktionär erklärte,
dass Griesheim keinen Sponsor habe und alle Kosten quasi vom Verein und dessen
Vorstandsmitgliedern getragen werden mussten, wodurch es am Ende finanziell
recht eng wurde. Um die überwiegend polnischen Spieler (7 von acht Brettern in
Berlin!) bezahlen zu können, mussten sie oft in die Privatschatulle greifen. Die
Kontakte nach Polen kamen durch die Städtepartnerschaft von Darmstadt zu Plock
zustande, eine Stadt 100 km nordwestlich von Warschau. Und Griesheim liegt in
der unmittelbaren Nähe von Darmstadt. In diesem Jahr hat die hessische Stadt mit
ihren ca. 28 000 Einwohnern Geschichte in der Schach-Bundesliga geschrieben.
Griesheim SF Berlin 3,5:4,5 Züge
Mista, A. Markos, Jan ½-½ 22
Tazbir, M. Kraemer, M. 1-0 24
Jakubowski Maksimenko 0-1 62
Murdzia, P. Lauber, Arnd ½-½ 51
Grabarczyk Polzin, R. ½-½ 29
Grabarczyk Berndt, S. ½-½ 25
Bulski, K. Schneider, I. ½-½ 80
Geske, J. Thiede, L. 0-1 48
Kurz nach dem Stichkampf hat Turnierleiter Jürgen Kohlstädt
die Reisepartnerschaften für die kommende Saison bekannt gegeben: