Der Beitrag erschien zuerst auf Conrad Schormanns Blog: Perlen vom Bodensee
Ob Marco Caro kann?
Früher, als alles besser war, kommentierte Marco Baldauf regelmäßig Schachpartien für die deutsche ChessBase-Website. Jede dieser Partien ist ein kleiner Quell des Schachwissens, eine kleine Schachlektion, die die zu besprechende Partie zum Lehrobjekt erhebt. Wenn Großmeister Baldauf Schach kommentiert, dann will er in erster Linie Ideen zeigen, von denen das Schach seiner Leser profitieren kann.
Nach dem Erwerb des Großmeistertitels hat der Physiker und Philosoph Marco Baldauf einen ehrenwerten Beruf ergriffen, außerdem bewegen ihn neben unserem Spiel andere Interessen. Wenn Baldauf von der Arbeit kommt, dann flaniert er in der Gedankenwelt Wittgensteins oder stöbert in Luhmanns Zettelkasten. So jemand stellt zwangsläufig das Schach zurück. Marco Baldauf kommentiert kaum noch Partien, eine tragische Entwicklung.
Am Bodensee brach Jubel aus, als im Lauf des vergangenen Jahres unsere Freunde von ChessBase die frohe Botschaft verkündeten, eine Baldauf-DVD sei in Arbeit. Nicht irgendeine, sondern eine über die Caro-Kann-Verteidigung.
Früher, als der Schreiber dieser Zeilen ein Eröffnungsrepertoire hatte, diente ihm Caro-Kann meistens als Haupt-, mindestens als Sekundärwaffe gegen 1.e4. Und nun sollte es eine DVD seines Lieblingsautors über seine Lieblingseröffnung geben! In den Monaten nach der Ankündigung dieses Werks verstopfte eine Vielzahl quengelnder Mails vom Bodensee André Schulz' E-Briefkasten: Wann es denn nun so weit sei, ob sich da nicht vorab etwas machen lasse und so weiter.
Nebengleise mit Substanz
Mittlerweile liegt die DVD in digitaler Form seit Monaten vor, und wir schulden André und seinen Brötchengebern seit Monaten eine Rezension. Warum die noch nicht geschrieben ist, hat einen einfachen Grund: Baldaufs Werk ist zu gut.
Immer wenn wir kurz reinschauen wollen, um danach darüber zu schreiben, gucken oder klicken wir uns fest, erfreuen uns an den komprimierten Aha-Momenten, und, schwups, schon ist die eigentlich fürs Schreiben reservierte Zeit abgelaufen.
Baldauf macht auf seiner DVD genau das, was er auch beim Partiekommentieren macht: Ideen aufzeigen, typische ebenso wie originelle Strukturen, Pläne und Motive beleuchten. Mehr als allen anderen deutschsprachigen Schachpublizisten ist Baldauf daran gelegen, seine Leser zu besseren Schachspielern zu machen, indem er ihnen hilft, Schach besser zu verstehen. Dieses Prinzip zieht er Kapitel für Kapitel durch.
Natürlich kommt „Berliner Geheimvarianten“ als komplettes Anti-e4-Repertoire daher. Die dargebotenen Varianten beinhalten manche originäre Idee des Autors, die es dem Schwarzen erlaubt, den Weißen auf Nebengleise zu führen, ohne dass es dem schwarzen Spiel an Substanz fehlen würde.
Marco Baldauf, denkend | Foto: Pascal Simon
Das Short-System der Caro-Kann-Vorstoßvariante zum Beispiel bereitet den Schwarzen seit Jahren Bauchschmerzen.
So viele Figuren, die es auf limitiertem Raum zu koordinieren gilt! Das ist dermaßen heikel, der Schreiber dieser Zeilen war tatsächlich geneigt, sich das schreckliche 3…c5 anzuschauen und zu prüfen, ob es womöglich doch eine Alternative zu 3…Lf5 sein könnte. Dann kam Baldauf. Er zieht 3…Lf5 und zeigt ein eher seltenes, aber einleuchtendes Konzept auf, das schwarze Spiel auf gesunde Füße zu stellen. Danke, Marco!
Karlsbader Strukturschule
Oder nehmen wir die Nebenvariante 2.d3. Die sehen wir alle Jubeljahre einmal, das haben wir uns nie ernsthaft angeguckt. Mit dem Ergebnis, dass wieder die Bauchschmerzen zu spüren sind, sobald 2…d5 3.Sd2 e5 4.Sgf3 Ld6 5.d4! auf Brett steht. Baldauf kennt das Gegenmittel: 5…exd4 6.exd5 Sf6!, und Schwarz ist okay. Danke Marco!
Allein das Repertoire auf den DVDs wäre bemerkenswert und das Geld wert, aber es ist eben nur ein Teil des Gesamtwerks.
Einen Schachspieler, der nie einen Karlsbad auf dem Brett hat, gibt es wahrscheinlich nicht. Wie viele von denen haben je von „Nimzowitschs Stein“ gehört? Der Schreiber dieser Zeilen jedenfalls nicht – bis ihm Baldauf eben jenen Stein vor die Nase setzte, ein fundamentales Konzept, das Spieler kennen sollten, die gelegentlich per Damengambit, Nimzo-Indisch oder eben Caro-Kann in einem Karlsbad landen.
Waffe statt Ausgleichsmaschine
Jeder dieser Spieler kann das Kapitel über die zuletzt so populäre Caro-Kann-Abtauschvariante mit Gewinn studieren. Abseits des konkreten Repertoires würde es auch als Karlsbader Strukturschule durchgehen.
Baldaufs Repertoire ist als Waffe konzipiert, nicht als Ausgleichsmaschine. Dynamischer Ausgleich ist das Ziel, Schwarz soll auf drei Ergebnisse spielen können. In der einen oder anderen Caro-Kann-Stellung ist das nicht so einfach, vor allem in dieser Panow-Stellung nach 1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.c4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Sf3:
6… Lg4 ist gut und bewährt, aber nach dem mehr oder weniger forcierten 7.cxd5 Sxd5 8.Db3 Lxf3 9.gxf3 e6 10.Dxb7 Sxd4 11.Lb5+ Sxb5 12.Dc6+ Ke7 13.Dxb5 Dd7= geht es geradewegs ins bekannte Endspiel, das Schwarz kaum verlieren, aber eben auch nicht gewinnen wird.
Schwarz kann auch 6…e6 ziehen und wird dann meistens eine gängige Isolani-Stellung verwalten. 6…g6 im Grünfeld-Geiste geht auch. Oder eben Baldaufs optisch etwas krummes, taktisch geprägtes 6…Le6!?, das zu einem konkreten Kampf führt, den derjenige gewinnen wird, der sich besser auskennt. An so einer Stelle muss man Baldauf nicht folgen, aber wer sich gezielt auf einen Panow-Spieler vorbereiten kann, dem gibt Baldauf eine Waffe an die Hand, die eher als alle Alternativen zu einem vollen Punkt führen wird.
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Wenn Weiß ein dummes Gesicht macht
So sehr sich Baldauf auch bemüht, sich zu uns Normalsterblichen hinabzubegeben, um uns das Einmaleins zu erklären, er kann nicht gänzlich raus aus seiner Großmeisterhaut. Wenn wir Normalsterblichen vom Bodensee nämlich prüfen, was gegen die Abtauschvariante zu tun ist, dann fällt uns als erstes dieses auf:
Weiß muss hier 7.0-0 ziehen, dann De1, f3, Dh4. Großmeister wissen das, Baldauf sowieso.
Der Amateur hat aber 6.Se2 gespielt, um per Lf4 den Kampf um die Lebensader h2-b8 aufzunehmen. Nun hat Schwarz per 6…Lg4 diesen Springer gefesselt, also zieht der Amateur 7.f3, um die vermeintliche positionelle Drohung Lf4 zu erneuern. Weiter geht’s mit 7…Ld7 8.Lf4 e5!=+, und der Weiße macht ein zunehmend dummes Gesicht, während ihm aufgeht, dass er, wenn überhaupt, bereits um Ausgleich kämpft.
Baldaufs großmeisterhafte Gegner tappen nicht in diese Falle. Normalsterbliche Weißspieler fallen reihenweise rein, wie die Online-Datenbank zeigt.
Wer gegen einen Weißen mit weniger als 2400 Elo diese Stellung aufs Brett bekommt, der hat treffliche Aussichten, seinen Gegner schon hier straucheln zu sehen. Aber um diese Stellung aufs Brett zu bekommen, ist gegen Caro-Kann-Abtausch nach 1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.Ld3 die Zugfolge 4…Sc6 5.c3 Dc7 erforderlich.
Als Anand in Schwierigkeiten geriet
Baldauf möchte, dass wir 4…Sf6 ziehen, und erklärt, dass 5…Dc7 wegen des oben aufgeführten 7.0-0 nebst 8.De1! nicht so gut ist. Während seiner Ausführungen hält er sich an eine Anand-Partie, in der der fünffache Weltmeister mit Schwarz gegen einen No-Name (aus Anands Sicht) in Schwierigkeiten geriet. Nur hätte Anand besser spielen können. Statt 8…Ld6?! war 8…Sf6 erforderlich, und das führt zur eigentlichen kritischen Stellung dieses Abspiels nach 9.f3 Lh5 10.Dh4, die zwar höllisch kompliziert und heikel ist, aber objektiv okay für Schwarz. Wer es genauer wissen will, guckt hier oder in der BodenseeBase.
Baldauf möchte zeigen, dass 4…Sc6 nebst 5…Dc7 gegen die Abtauschvariante nicht gut ist, ignoriert aber die eigentlich kritische Stellung, diese nämlich nach 10.Dh4. Am Bodensee fühlen wir uns zu 10…h6 hingezogen. Schachfreund Dreev sagt, 10…Tg8 sei der Zug. Die Maschine hingegen hält 10…Lg6 mit ausgeglichener Stellung für am besten. Mehr dazu hier und in der BodenseeBase.
Baldauf wollte halt so gerne seinen eigenen Ansatz gegen die Abtauschvariante präsentieren. Der ist, mehr noch als vieles andere in seinem Repertoire, von bemerkenswerter Klarheit und gespickt mit einem originären Konzept, dessen Kenntnis den Baldauf-Schüler zu einem besseren Schachspieler macht. Aber das wäre auch so, hätte der Autor kurz seine Berliner Variantenbrille abgesetzt, um nicht zu Unrecht 5…Dc7 die Daseinsberechtigung abzusprechen.
Ein Fehler im Zweispringersystem
Am Bodensee halten wir es künftig so: So lange der Gegner ein Amateur ist, bleiben wir bei 5…Dc7 in der Hoffnung, den Gegner in unsere 8…e5!-Falle zu locken. Auf eine Weise ist das zwar Hoffnungsschach, aber 5…Dc7 ist auch ansonsten ein guter Zug. Sitzt auf der anderen Seite des Brettes jemand, der sich sogar auf Patzer wie den Schreiber dieser Zeilen seriös vorbereitet, probieren wir Baldaufs 4…Sf6.
Bis vor wenigen Tagen war diese Unwucht in der Präsentation seines Repertoires das einzige Haar in der Suppe, das wir in Baldaufs Doppel-DVD zu finden vermochten. Dann offenbarte sich uns eine eröffnungstheoretische Entwicklung, die unlängst die Zweispringer-Variante im Caro-Kann umgekrempelt hat. Auf Baldaufs DVD ist sie noch nicht berücksichtigt. Wer den dort gegebenen Empfehlungen folgt, riskiert ein Desaster.
Vorwerfen mögen wir Baldauf dieses Übersehen nicht. Das neue Abspiel gibt es schon seit 2015, aber es dauerte sogar vier Jahre, bis die Herren aus den Top Ten begriffen hatten, wie stark die neue Idee für Weiß ist. Und Baldauf, anders als die Superprofis, muss neben dem Caro-Kann ja noch Wittgenstein und Luhmann studieren. Da kann man schon mal etwas übersehen.
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Weil wir hier nicht so oft etwas eröffnungstheoretisch Relevantes präsentieren können, machen wir daraus einen Extra-Teil.
(Wird fortgesetzt – demnächst: Als Jana Schneider Eröffnungstheorie schrieb und die 2800er es vier Jahre lang nicht verstanden.)