Chinaschach in der Schweiz

von ChessBase
02.02.2005 – Als Beat Sprenger seinerzeit in der Schweiz den Xiangqi-Verband gründete, war er Präsident, einziges Mitglied und außerdem bester Xiangqi-Spieler des Landes. Im letzten Jahr wurden aber sogar Schweizer Landesmeisterschaften im Chinaschach mit mehr als einem Teilnehmer durchgeführt und Beat Sprenger strebt nun die Teilnahme an der Weltmeisterschafte an. Dr.René Gralla führte ein Interview für Neues Deutschland, das wir an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Autors nachdrucken, der außerdem noch einmal Parallelen und Unterschiede zwischen dem europäischen und dem chinesischen Schach deutlich macht. Interview mit Beat Sprenger in Neues Deutschland...Nachdruck und Partien...

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Das Interview erschien im Original bei Neues Deutschland. Nachdruck mit Genehmigung des Autors.
 

 

Jamaika-Trick auf Chinesisch

Mit einer Schachvariante aus Fernost gegen das Remisunwesen im Westen

Von Dr. René Gralla

Hand auf’s Herz: Fast jeder Amateur ist mit einer leicht größenwahnsinnigen Vision gestartet – einmal Champ zu sein in seinem Lieblingssport. Das bleibt meist nur ein heimlicher Wunsch, es sein denn, man kopiert den „Jamaika-Trick“. Das war der Plot einer sehr erfolgreichen Kinokomödie vor wenigen Jahren: Ein paar Freunde, die in Kingston von Olympia träumen, melden sich für die Winterspiele – und starten dort mit einem Bob, in den Nationalfarben ihrer Karibikinsel. Ein findiger Schweizer adaptiert das Jamaika-Prinzip jetzt für den Denksport: Beat Sprenger aus Zürich, dessen Karriere im üblichen Schach um Dame und König nicht richtig von der Stelle kam, hat die chinesische Variante Xiangqi in die Eidgenossenschaft importiert. Zuerst als One-Man-Show: Der angehende Wirtschaftsinformatiker war zugleich Gründer des Schweizerischen Xiangqi-Verbandes, SXV-Präsident und einziges Mitglied in Personalunion – und nebenbei noch die selbst ernannte Nr. 1 zwischen Genf und Appenzell. Inzwischen aber nimmt die Sache Formen an: An einem Spätherbstsonntag im November vergangenen Jahres haben die Uhren wie losgelassen getickt bei der zweiten „Schweizermeisterschaft 2004“ in Wettingens alter Spinnerei, rund 30 Autominuten von Zürich entfernt.

Mittlerweile steuert Beat Sprenger im Xiangqi sogar die WM-Teilnahme 2005 an; und wie er das geschafft hat – übrigens unter freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe aus Deutschland - , das hat sich der Autor Dr. René Gralla vom 26-jährigen Wahl-Chinesen erklären lassen. Und Beat Sprenger hat gleich auch Vorschläge, was sich vom Xiangqi lernen lässt, um das Westliche Schach zu reformieren.

Herr Sprenger, in der Schweiz kraxelt man auf Almen oder läuft Ski. Warum wollen Sie ausgerechnet das Chinaschach in die Schweiz bringen?

Das normale Schach ist schön, aber zu langsam. Nachdem ich beim Surfen im Internet die Alternative Xiangqi entdeckt habe, versuche ich nun, diese asiatische Schachvariante auch in meiner Heimat bekannt zu machen.

Die Anfänge waren allerdings mühsam. Sie sind gleichzeitig Erfinder des Schweizerischen Xiangqi-Verbandes und Präsident Ihres SXV gewesen – und riefen sich obendrein provisorisch zum Meister der Eidgenossenschaft aus. Gab es wegen dieser Ämter- und Titelhäufung Proteste aus den übrigen Sportverbänden?

Nein, nein, eben nicht. Obwohl das eigentlich das Ziel gewesen ist …

… Ihre gezielte Provokation sollte also Aufmerksamkeit erregen …

… ja, ich hoffte darauf, dass jemand kommt und sagt: „Nein, das stimmt nicht, ich bin ja der Schweizer Meister im Chinesischen Schach.“ Aber zunächst hat mir niemand den Titel streitig gemacht.

 

Damit wollten Sie sich aber nicht abfinden – und luden die Xiangqi-Fans zur ersten Bundesmeisterschaft. Allerdings nicht nach Zürich, sondern ins deutsche Hockenheim. Warum dieser ungewöhnliche Umweg über das Nachbarland?

Die deutsche Chinaschach-Szene ist im Vergleich zur Schweiz schon etabliert und ein großes Vorbild. In Mannheim leitet der gebürtige Vietnamese Cuong Truong einen sehr aktiven Verein, von dort hat es deswegen auch die ersten Reaktionen auf meine Website gegeben. Und so organisierten dann die Mannheimer im Spätsommer 2003 für mich ein Turnier, das zugleich auch als erste Schweizer Meisterschaft ausgeschrieben wurde.

In der Gründungsmeisterschaft belegten Sie Platz eins  – obwohl Sie Letzter wurden. Das müssen Sie uns erklären!

Außer mir ist kein Schweizer nach Hockenheim gereist. Da die übrigen Turnierteilnehmer Nicht-Schweizer waren, konnten die logischerweise auch nicht Schweizer Meister werden. Also habe ich mangels Konkurrenz meinen Titel verteidigt.

Eine richtige Schweizer Meisterschaft quasi als Auswärtsspiel – und dann auch noch in Deutschland. Hat denn das kein böses Blut gemacht? Wegen verletzter nationaler Gefühle?

So nicht, nein. Tatsächlich hat das Turnier in Hockenheim nur Positives in Bewegung gesetzt: Mittlerweile haben sich neue Interessenten für das Xiangqi gemeldet – und die sind beinahe ein bisschen ehrfürchtig, dass ich schon mal in Deutschland ein Turnier gespielt habe. Das ist vielleicht ein wenig so, wie wenn ein Fußballer nach Italien wechselt.

Und in Wettingen 2004 sogar die sensationelle Steigerung der Titelanwärter bei der zweiten Schweizer Meisterschaft – um schier unglaubliche 1200 Prozent.

Genau. Sieben Leute hatten sich bereits im Vorfeld angemeldet, am Ende sind es dann sogar 12 geworden. Wir haben aber auch viel Werbung gemacht in asiatischen Lebensmittelgeschäften und chinesischen Vereinen: mal schauen.

Sie selber haben Ihren Titelgewinn von 2003 in Wettingen 2004 nicht wiederholen können. Sind Sie enttäuscht?

Enttäuscht nicht, nein. Das ist für mich eben ein Ansporn, die diesjährige Meisterschaft 2005 zu gewinnen. In Wettingen ist es für mich eben nicht einfach gewesen, gleichzeitig das Turnier zu organisieren, Schiedsrichter zu sein und obendrein selber noch um den Titel zu spielen. Deswegen hoffe ich, dass auch mal jemand anders ein die Organisation übernimmt.  

Sie haben eingangs erwähnt, dass die chinesische Variante schneller sein soll als das bei uns altbekannte Schach. Woran liegt das?

Das ist vor allem eine kulturelle Frage: Das Xiangqi stammt aus Asien, und die Chinesen spielen von Haus aus einfach schneller. Sie prägen entsprechend den Stil des Denksports - und der Rest der Welt zieht nach. Zumal niemand die großen Chinesen schlagen kann: Gegen die Chinesen hat man auch dann nicht mehr Erfolg, wenn man sich deutlich mehr Bedenkzeit am Brett nimmt. Außerdem ist die Anlage des Xiangqi erheblich dynamischer als das westliche Schach: Bereits die Anfangsstellung ist sehr offen, die Gegner können nicht mauern, sondern müssen voll auf Angriff setzen. Nicht zu vergessen: Das Xiangqi-Brett hat mehr Felder – nämlich 90 im Gegensatz zu den 64 Feldern im bekannten Schach – für die selbe Anzahl von jeweils 32 Steinen für Weiß und Schwarz zusammen genommen; da können die Figuren im Chinaschach viel freier operieren.

Last not least kennt das Xiangqi-Arsenal noch eine modern anmutende Waffe, die Kanone …

… exakt, und die Kanone ist richtig spannend: Sie springt hin und her über das Feld, und sie kann nicht nur nach vorne, sondern auch rückwärts zuschlagen. Und überraschend eine Figur erwischen, die man gar nicht mehr im Auge hat.

Aktuell wird wieder über die Krise im Westlichen Schach diskutiert: zu langweilig, zu viele Unentschieden – gerade nach dem Remisgeschiebe während des WM-Kampfes zwischen Wladimir Kramnik und Peter Leko im Herbst 2004 in Brissago. Könnten sich die Reformer da Tipps aus China holen?

Ja. Vor allem, weil zwei Arten des Unentschieden im Xiangqi ausgeschlossen sind: Das Patt ist kein Remis, sondern verloren für denjenigen, der sich nicht mehr bewegen kann und Patt ist; ferner rettet die dreimalige Zugwiederholung, zum Beispiel durch Schachgebote hintereinander, keine Punkteteilung. Danach muss sich der Angreifer eben etwas Neues einfallen lassen – oder sein Gegner hat gewonnen. Das prägt die Haltung am Brett: Wenn weniger Remismöglichkeiten zugelassen sind, dann ist es auch weniger üblich, sich auf Remis zu einigen. Wenn es nicht Kultur ist, dass man häufig und schnell Remis macht, dann kann man nicht der Erste sein, der der große Spielverderber ist und als erster Unentschieden anbietet. Ergebnis: Im Chinesischen Schach sind Remisschlüsse die große Ausnahme.

Außerdem kämpfen Chinesen am Brett jede Partie aus. Das ist Ehrensache: Selbst wenn sie eine Figur weniger haben, geben sie nicht gleich auf.

Das ist auch ein Punkt. Wenn man im Westlichen Schach in einer Partie nicht so gut manövriert und zum Beispiel bereits ein Pferd weniger hat, dann hat man eigentlich praktisch schon verloren – sofern die Stellung nicht wahnsinnig besser ist. Aber wenn man im Chinesischen Schach ein Pferd weniger hat, soll man ruhig weiterspielen: Das Blatt kann sich noch wenden.

Die Besonderheiten des Xiangqi – insbesondere, dass Patt und Zugwiederholungen kein Unentschieden nach sich ziehen - : Sollte man die für das Westliche Schach übernehmen, um wenigstens einen Teil der Remismöglichkeiten auszuschließen?

Grundsätzlich keine schlechte Idee. Allerdings muss man vorher natürlich genau abklären, ob das mit der Struktur und den sonstigen Regeln des FIDE-Schachs kompatibel ist.

Sofern die Reform nicht vorankommt: Sollten Leute, die über die Verflachung des Westlichen Schachs jammern, mal die Alternative Chinesisches Schach ausprobieren?

Ja. Selbst wenn im Xiangqi momentan noch die materiellen Anreize wie im Westlichen Schach fehlen: Es gibt keine hohen Preisgelder.

Dafür gibt es aber einen immateriellen Anreiz: Da im Westen nicht so viele Menschen Xiangqi spielen, kann jemand quasi aus dem Stand in der Nationalauswahl landen. Und bei der nächsten WM starten, die interessanterweise ab Ende Juli 2005 in Paris stattfinden soll – und damit übrigens zum ersten Mal außerhalb von Asien.      

Richtig.

Wollen Sie bei der WM mit einer eidgenössischen Delegation antreten?

Ich plane das. Vorher müssen wir aber noch dem Weltxiangqiverband WXF beitreten. Und suchen einen Sponsor – für die 500 Euro Mitgliedsbeitrag.

Falls ein Spieler vom Westlichen Schach zum Xiangqi wechseln will: Ist das verwirrend, wegen der anderen Optik und der teilweise unterschiedlichen Regeln für die Figuren?

Nein, überhaupt nicht. Das, was vielleicht am meisten abschrecken könnte, ist die Besonderheit des Xiangqi, dass anstelle von Figuren mit runden Plättchen gespielt wird; chinesische Schriftzeichen geben die unterschiedlichen Kampfwerte an. Aber das hat man schnell gelernt.

Obendrein lassen sich doch die Züge dieser Steine nicht 1:1 vom Westlichen Schach ableiten und direkt auf das Xiangqi übertragen?!

Korrekt. Trotzdem kann man Xiangqi viel besser lernen, wenn man bereits vorher Westliches Schach gespielt hat.

Verwirrt das denn nicht, wenn anstelle des Läufers ein Elefant über das Brett turnt?

Nein. Sicher, anfänglich gibt es kleine Verwirrungen: dass man die Bauern nicht blockieren kann, weil sie im Xiangqi nicht schräg seitlich schlagen, sondern vorwärts – so dass man in eine böse Falle tappen kann, falls man einen chinesischen Wagen, der dem westlichen Turm entspricht, direkt vor einen Bauern stellt; denn der Bauer kann den Wagen einfach aus dem Spiel werfen, und alles ist aus. Aber das sind Kleinigkeiten, die man beim Fehlermachen lernt – und dann nie mehr vergisst. Ansonsten kriegt man das Chinaschach nach dem Eselsbrücken-Prinzip drauf: Entweder sind die Züge einer Xiangqi-Figur mit dem westlichen Gegenstück identisch – wie beim erwähnten Wagen und seinem FIDE-Verwandten, dem Turm - , oder sie sind leicht abgewandelt. So dass man sich die Regel gerade aus dem Gegensatz zum westlichen Schach merkt - wie beim Pferd: Das bewegt sich vom Prinzip her wie ein Springer, kann aber über einen blockierenden Stein gerade nicht hüpfen.

Chinesische Kinder lernen Xiangqi sehr früh. Meist mit fünf oder sechs Jahren, erst später wechseln sie zum Westlichen Schach. Entsprechend ist schon behauptet worden, dass die Chinesen im westlichen Schach deswegen in den letzten Jahren so stark geworden sind, weil die Asiaten quasi flächendeckend Xiangqi spielen. Ist da was dran: Wird man besser im westlichen Schach durch Chinaschach?

Das glaube ich schon. Woran das liegt, kann ich nicht genau erklären. Ich vermute, dass man mehr abstrahiert, wenn man sich zusätzlich mit Xiangqi beschäftigt. Nehmen wir die Leibwächter des Königs: Die sind historisch gesehen Vorläufer der Dame, sind in ihrer Beweglichkeit aber stark eingeschränkt. Sie sind allein dafür da, den König in der zentralen Zone, dem Palast, zu verteidigen – den weder König noch Leibwächter verlassen dürfen; außerdem ziehen diese Mandarine, wie sie auch heißen, im Palast bloß ein Feld schräg. Indem der Spieler das aber weiß – während ihm gleichzeitig eben bewusst ist, dass diese Leibwächter trotz aller großen Unterschiede der Dame im westlichen Schach korrespondieren - , entsteht eine neue Abstraktionsebene. Das trainiert den Spieler, genauer zu analysieren – und das hilft dann indirekt wieder beim Westlichen Schach.

So dass es einem in Fleisch und Blut übergeht, einfach genauer hinzusehen – weil man, wenn man Xiangqi und Westliches Schach parallel betreibt, sich eben nicht mehr darauf verlassen kann, quasi „blind“ zu erkennen, was in einer konkreten Situation auf dem Brett gerade droht?

Genau.

Wenn ein Spieler Xiangqi und Westliches Schach gleichzeitig pflegt: Ist das mit dem Mathe-Unterricht in der Schule zu vergleichen? Dort lernen die Schüler, wenn sie fortgeschritten sind, erst simples Rechnen, später Algebra, Geometrie und Vektorrechnungen; nur wenn sie verschiedene Zweige der Mathematik betreiben, kommen sie weiter. Das wirkt wie ein Gehirnjogging – und das gilt vielleicht auch im Schach?! Erst kennt man nur die eine Variante, dann aber lernt man Xiangqi – und plötzlich rattert es wie geölt im Schädel, viel schneller, als wenn man bloß auf eine Variante fixiert ist?  

Das ist sicher so. Und hinterher kommt man auch mit der alten Variante besser klar, mit dem Westlichen Schach. Das Xiangqi gibt neue Impulse, die zu frischem Denken auch im bekannten Schach befähigen.

Wie oft trainieren Sie Xiangqi?

Pro Woche ungefähr drei Stunden.

Hat Ihre Freundin schon Chinaschach gelernt?

Nein. Sie findet Xiangqi okay – so lange ich nicht ausschließlich Chinesisches Schach spiele. Manchmal sagt sie sogar, dass sie auch mal Xiangqi lernen will – aber da glaube ich doch nicht so recht dran.




Das älteste Schach – ist das schnellste Schach

Dynamisch und spannend, so sei das Xiangqi; deswegen könne man das als echte Alternative zum hierzulande üblichen Mehrheitsschach betrachten. Das sagt Beat Sprenger, Mastermind der wachsenden Asia Chess-Community in der Schweiz. Schauen wir uns an, ob die Realität am Brett eine derart enthusiastische Einschätzung rechtfertigt.

Die erste Konfrontation mit einem Xiangqi-Brett ist für viele Interessierte oft jedoch eine herbe Enttäuschung: Wenn der Neuling dann vor der Startposition steht - erkennt er zunächst gar nichts: bloß runde Plättchen mit rätselhaften Zeichen. 

                                                                                                                                               

Wo sind denn bloß die sagenhaften Elefanten, Kampfwagen und Kanonen geblieben? Eine berechtigte Frage - aber der Antwort kommen wir näher, sobald wir uns anschauen, wie sich die Lage auf dem 90-Schnittpunkte-Brett darstellt, nachdem die Symbolsteine und deren chinesische Namen in die korrespondierende Optik nach dem Design des Staunton-Schachs transformiert worden sind.

Plötzlich wird deutlich, dass Chinaschach tatsächlich zur Schachfamilie gehört - auch wenn die Züge vieler Figuren keine 1:1-Übersetzungen der entsprechenden Möglichkeiten ihrer Gegenstücke aus dem FIDE-Chess sind. Aus dem Morgennebel Asiens aufgetaucht sind überdies die beiden roten Kanonen (auf den Positionen b3 und h3) sowie die zwei schwarzen Geschütze (b8 und h8; ausnahmsweise werden hier die Anfangsstellungen aus der Blickrichtung des Nachziehenden abgebildet).

Und der Rest der Xiangqi-Clique - Elefanten, Mandarine pp. - samt deren Playground (Paläste und Fluss) lässt sich identifizieren nach einer Transformation des Xiangqi-Szenarios in ein Setting, das die tatsächliche Dimension des Geschehens einer Partie plastisch macht.

Aha, da trompeten sie: die Elefanten auf c1 & g1 (Rot) bzw. c0 und g0 (Schwarz); die insgesamt vier Mandarine (hier Symbolsteine für die notorisch intriganten Großohrenträger) auf d1 & f1 (Rot) bzw. d0 und f0 (Schwarz) scharen sich um die zwei Generäle (Rot: auf e1; Schwarz: auf e0), die, dem heftigen Geschehen am Huanghe angemessen, beide einen Helm tragen. Auf den Einsatzbefehl warten - in den bekannten Turmpositionen - die Kampfwagen a1 & i1 (Rot) respektive a0 & i0 (Schwarz). Die zentralen Festungszonen heben sich vom übrigen Gelände an; durch die Mitte des Theatre of Operations fließt breit und träge der Huanghe. Gut zu erkennen sind die Sandbänke an den Furten zwischen den Geländepunkten a5 & a6, b5 & b6, c5 & c6, d5 & d6, e5 & e6, f5 & f6, g5 & g6, h5 & und h6 und i5 & i6.

Nein, die Fans des Xiangqi haben doch nicht zu viel versprochen - das Battlefield of Xiangqi ist wirklich schön plastisch. Schauen wir uns also an, was im Quadranten a1-i1-i0-a0 alles passieren kann; dafür hier zunächst  eine Zusammenfassung der Regeln.

Das Xiangqi-Brett weist deutliche Ähnlichkeiten zu einem Schachplan auf, mit zweimal 36 Feldern, die durch den Grenzfluss Huanghe voneinander getrennt werden. Die Xiangqi-Steine ziehen aber gerade nicht von Feld zu Feld, sondern von Schnittpunkt zu Schnittpunkt der Vertikalen und Horizontalen (sowie ggf. Diagonalen).

Die zweimal fünf Soldaten – Abk.: >>B*<< – , insofern jeweils drei weniger pro Partei (bezogen auf das FIDE-Chess), ziehen wie Bauern jeweils einen Schnittpunkt vorwärts, starten aber bereits von Reihe 4 (Rot) bzw. 7 (Schwarz) aus. Die Soldaten schlagen aber, wie sie ziehen – das heißt: ausschließlich vorwärts, wenn sie den Fluss noch nicht überschritten haben (wie westliche Bauern dürfen sie nicht rückwärts marschieren), und in beide Richtungen seitwärts nach Querung des Huanghe. Diese zusätzlichen Zugmöglichkeiten – horizontal auf dem Ufer des Gegners (und zwar hin und her, abhängig von den Entscheidungen der Spieler in der konkreten Gefechtslage) – sind die Kompensation dafür, dass das Xiangqi keine Promotion kennt, sofern die Soldaten die feindliche Grundreihe (im Xiangqi die Laterale Nr. 10/Rot respektive 1/Schwarz) erreicht haben. Dort können die Infanteristen fortan bloß noch lateral hin und her ziehen und gelten deswegen als müde „alte“ Soldaten.

Die zweimal zwei Wagen pro Partei bewegen sich wie westliche Türme - wir kürzen sie hier deswegen, um die Vergleichbarkeit zum bekannten Schach zu zeigen, mit >>T<< ab.

Auch die zweimal zwei Pferde attackieren und retournieren wie Springer in  Rösselsprung-Manier, allerdings mit einer Einschränkung: Sie können nicht springen. Falls nämlich der direkt vor einem Gaul liegende Schnittpunkt (bezogen auf die Richtung, in die das Pferd galoppieren  will) von einem eigenen oder fremden Stein besetzt gehalten wird, ist der Hengst blockiert. Da die Pferde deswegen einerseits den Schach-Springern sehr stark ähneln, andererseits sich aber doch von ihnen unterscheiden, werden sie nachfolgend mit >>S*<< abgekürzt.

Kein Gegenstück im westlichen Schach kennen die zweimal zwei Geschütze – Abk.: >>G*<< – : Die Kanonen ziehen, wenn sie nicht schlagen, wie die Turm-Wagen. Wollen die Haubitzen aber einen feindlichen Stein beseitigen, benötigen sie als so genannte „Rampe“ einen weiteren Stein von fremder oder eigener Farbe, der zwischen Artilleriewaffe und angegriffenem Stein steht und über den diese sehr modern anmutende Cannon, einem Helicopter-Gunship nicht unähnlich, fliegend hinwegsetzt – analog der Art, wie im Damespiel geschlagen wird.

Wagen, Pferde und Soldaten können an jeder Furt den Gelben Fluss überschreiten; nicht dagegen Elefanten, Mandarine und Könige. Die zweimal zwei Elefanten dürfen nur bis zum Flussufer stampfen; dennoch sind die Rüsseltiere Vorgänger der modernen Läufer, weil sie in der Anfangsstellung die gleichen Positionen wie Diagonal-Bishops einnehmen und sich ausschließlich über die Schrägen fortbewegen. Allerdings zieht ein Elefant von dem Punkt, auf dem er postiert ist, allein zwei Schnittpunkte weiter, diagonal bis zum übernächsten Wegkreuz. Ist auf der Bewegungsschräge die Position dazwischen von einem eigenen oder fremden Stein besetzt, ist dem Dickhäuter dieser Weg verbaut. Konsequenz: Die roten Elefanten können nur die Punkte a3/c1/c5/e3/g1/g5/i3 erreichen; die schwarzen Artverwandten die Positionen a8/c0/c6/e8/g0/g6/i8. Abkürzung aufgrund der schachhistorischen Nähe zum Läufer: >>L*<<.

Was König und Mandarine angeht, so sind diese Figuren beschränkt auf die Sonderzonen d1-d3-e3-f3-f1-e1 (roter Palast) bzw. d0/d8/e8/f8/f0/e0 (schwarzer Palast). Der König – Abk.: >>K*<< – schreitet gemessen und zeremoniell exklusiv horizontal und vertikal durch die Szene, und zwar jeweils einen Schnittpunkt pro Zug; er darf – anders als der FIDE-König – sich nicht diagonal in die Büsche schlagen geschweige denn den Palast verlassen. Die Zuweisung der zentralen Zone als eine Art Zwangs-Arrest kann als obligatorische Rochade angesehen werden – aber leider eben in der Mitte des Brettes. Als Kompensation setzt der König, sofern sich eine Chance dafür bietet, eine laserwaffenartige Fernwirkung gegenüber dem gegnerischen Monarchen ein; hat der Herrscher nämlich eine offene, durch keinen weiteren Stein besetzte Senkrechte besetzt, sperrt er sie damit für den hochwohlgeborenen Amtsbruder Feind - weil seine so genannte „Telepotency“ (auf Deutsch auch „Todesblick“ genannt) diese Linie zur No-go-area für den anderen König macht.

Anstelle einer Solo-Dame wissen die Xiangqi-Könige gleich zwei Begleiter an ihrer Seite. Das sind die  Mandarine – Abk.: >>D*<< -, die im Palast auf eigens dafür markierten Diagonalen jeweils einen Schnittpunkt vorwärts oder rückwärts trippeln, bückeln und dienern.

Total realitätsnah - Helicopter-Gunships fliegen ein

Wie modern und rasant das Chinaschach ist, das lässt sich vor allem mit den Kanonen demonstrieren. Die Xiangqi-Artillerie wirkt beinahe  futuristisch; denn sie nimmt auf dem Brett eine technologische Entwicklung vorweg, die zu dem Zeitpunkt, als die Geschütze dem Xiangqi-Arsenal hinzugefügt worden sind, nämlich um 840 nach Christus, eigentlich noch gar nicht bekannt gewesen sein konnte: das Helicopter-Gunship, das seit dem Vietnamkrieg die Rolle einer fliegenden Kavallerie spielt. Schlägt nämlich ein schwerer Mörser über die entsprechende Rampe - und auf diese Weise virtuell eine ballistische Kurve nachbildend - gegen einen feindlichen Stein zu, so wird das getroffene Stück nicht nur aus dem Spiel entfernt, sondern die Haubitze besetzt die entsprechend freigeschossene Position: Sie donnert also von oben herab und quasi aus den Lüften heran.

Damit sind die Xiangqi-Kanonen nichts anderes als fliegende Kanonen, die es den Xiangqi-Spielern am Brett ermöglichen, schnell zur Sache zu kommen.

Wie das geht, demonstriert unser Interviewpartner Beat Sprenger anlässlich eines Zweier-Turnierchens 2004 am 4. Juni 2004 an der ETH Zürich.

Le Sire de Legal en route à la Chine

Die folgende Chinaschach-Partie weist in ihrer Schlussposition deutliche Ähnlichkeiten zum berühmten Matt des Legal auf: ein zentraler Blitzdurchbruch, den der Lehrer von Philidor und seinerzeitige Maître des Pariser „Café de la Régence“, Monsieur Kermur Sire de Legal (1702 – 1792), in seiner reinsten und knappsten Form bereits 1750 gegen einen N.N. exekutiert hat.

Weiß: De Kermur, Sire de Legal
Schwarz:
Saint Brie

Paris, 1750, "Café de la Régence"

Philidor

1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.Lc4 Lg4(?)

Besser war z.B. 3.... Le7 mit Übergang in die Ungarische Partie.

4.Sc3 g6?

Schwarz möchte offenbar, da der Läufer wegen des Blockadebauern d6 nicht ins Spiel gelangen kann, die Figur durch 5.... Lg7 entwickeln. Dazu kommt es aber nicht mehr:

5.Sxe5! Lxd1??

"Ein grober Fehler", wie Georges Renaud und Victor Kahn zutreffend in ihrem Lehrbuch "Der erfolgreiche Mattangriff" (Verlag "Das Schach-Archiv", Hamburg 1969) auf Seite 16 resümieren. "Schwarz übersieht die Drohung und stürzt übereilig auf die Dame, ohne zu begreifen, dass Weiß nicht ohne Grund die Dame opfert." Renaud & Kahn geben als "das kleinere Übel" an: 5.... dxe5 6.Dxg4 ...: "Weiß gewinnt die Figur zurück, besitzt einen Mehrbauern sowie einen entscheidenden Entwicklungsvorsprung" (Mattangriff, S. 16).

6.Lxf7+ Ke7

7.Sd5# 1:0

Zunächst aber sehen wir 254 Jahre später den Ur-Enkel des Wilhelm Tell am Werk.

Rot: Beat Sprenger, Zürich/Switzerland
Schwarz: N.N., Switzerland

4. Juni 2004, ETH Zürich/Switzerland

Central Cannon Opening

1.G*he3 …

Seit Jahrhunderten der Anfangszug eine Xiangqi-Partie:  - mit der Kanone gleich ab in die Mitte.

 1… S*g8 2.S*g3 c6 3.Th1 G*c8

Liebäugelt mit dem roten Bauern c4: kein wirklich überzeugendes Konzept, wie sich rasch herausstellt.

4.g5 G*h0(?)

Weiter nach – falschem – Plan: Schwarz möchte den roten B*c4 verspeisen. Da sofort 4….G*xc4??? selbstverständlich mit 5.Txh8 … abgestraft wird, manövriert er sein linkes Geschütz auf die doppelt gedeckte Position h0 (durch S*g8 und Ti0). Eine Fehlentscheidung: Die Kanone steht hier falsch, blockiert überdies den eigenen Wagen i0, und …

5.S*f5 …

… während sich jetzt bereits der wichtige schwarze Zentralsoldat B*e7 nicht mehr halten lässt …

5…. G*xc4

… nimmt der Nachziehende an, dass das doch kein Problem sei; schließlich pulverisiert er doch dafür die linke Flankenkompanie der Sprenger’schen Infanterie. Ein tödlicher Irrtum.

6.S*xe7 S*xe7 7.G*xe7 …

Eine Kanone in Angriffstellung direkt vor dem offenen Hauptportal des Palastes: Da kann der Verteidiger fast schon einpacken …

7…. G*xi4

… aber der Senner-Sepp N.N. hat ein sonniges Gemüt, was soll denn schon passieren … (?!?!?) … sackt auch noch den roten B*i4 ein, und wähnt sich womöglich bereits vorn - mit einem Mehrbauern.

8.G*b5 …

Aber nix da – jetzt droht Beat Sprenger mit dem notorischen Doppelkanonenmatt 9.G*be5#.

8…. K*e9!

Immerhin, er hat’s gesehen – und versucht die Flucht nach vorn. Damit kommt ein Chinese Chess-King freilich nicht weit – in seinem kleinen Käfig, der ziemlich euphemistisch Palast heißt.

 

9.Ta3!…

Ein typischer Turm-Aufzug im Xiangqi: Danach greift die Schwerfigur über die dritte Reihe in die Schlacht ein – Rot droht 10.G*be5+ … und 11.Td3+ … oder 11.Tf3+ … plus Matt. Das Manöver lässt sich entsprechend nicht selten auch bei Spitzenspielern aus dem Fernen Osten beobachten, wenn diese nach ihrer ersten Begegnung mit Schach in der Form des Xiangqi zur westlichen Variante überwechseln.

Ein typisches Beispiel ist das erste Tiebreak-Match zwischen Peng Zhaoqin und Alexandra Kosteniuk um die Damen-EM 2004 in Dresden: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 dxc4 5.e3 a6 6.a4 c5 7.Lxc4 Sc6 8.0-0 Le7 9.Dd3 0-0 10.Td1 cxd4 11.exd4 Sb4 12.De2 b6 13.Se5 Lb7; und jetzt überrascht die gebürtige Chinesin aus den Niederlanden mit 14.Ta3?! …

Peng besitzt eine Vorliebe für ungewöhnliche Turmmanöver“, schreibt dazu der Kommentator des österreichischen Fachmagazins „Schach-Aktiv“ (Ausgabe 5/2004, S. 251); ein Mut zur Kreativität, der sich dann aber leider in Dresden nicht ausgezahlt hat (die Kommandeurin der weißen Armee muss nach dem 33. Zug von Schwarz kapitulieren) – während 9.Ta3! … im Xiangqi-Match B.Sprenger vs. N.N. deutlich besser abschneidet.

9…. S*c8

Will das Geschütz e7 vertreiben, nützt aber nichts mehr.

10.G*be5+! …

Trotzdem: Schwarz kann nicht mit 10….S*xe7 reagieren, denn es spielt keine Rolle, ob auf e7 eine rote Kanone oder ein schwarzes Pferd als Rampe für das Schach der rückwärtigen Haubitze e5 stehen. Folglich bleibt nur ein Fluchtversuch:

10…. K*f9 11.Th9+ …

Das sofortige 11.Tf3+ … hätte einen Zug schneller das Matt erzwungen.

11…. K*f8 12.Tf3+ …

 

Nun könnte „Schwarz … noch die Kanone dazwischenstellen“ – mit 12…. G*f4 -, wie Beat Sprenger auf seiner Homepage unter www.sxv.ch/partie1.php resümiert, aber „danach ist fertig!“ Exakt: 12…. G*f4 13.Txf4#.

Logischerweise:

12…. Aufgabe. 1:0

12 Züge für eine Meisterschaftspartie: Das ist eben Chinaschach. Und die Schlussposition erinnert ein wenig an das Matt des Legal: mit der Mischung aus feindlichem König, der in der Mitte feststeckt, und einem derben Dreierpack – zwei Leichtfiguren, die springen können (im Xiangqi die beiden Kanonen ; im FIDE-Chess das thematische Springerpaar e5/d5) plus durchschlagender Fernwaffe (im Xiangqi der Wagen , im FIDE-Chess der Läufer f7).

Ganz putzig ist folglich ein Vergleich mit einem Legal-Matt aus der jüngsten FIDE-Praxis.

Weiß: Dr. René Gralla, Hamburg/Germany
Schwarz: Massoud Amini, Hamburg/Germany

2. November 2004, 5-Minuten-Blitzpartie, Trainingswettkampf Hamburg/Germany, Bar-Café „Roxy“

Sizilianisch

1.e4 c5 2.Sc3 …

Die geschlossene Variante – ziemlich zügig wird die hier allerdings auch reichlich zugig!

2…. Sc6 3.Sf3 e5 4.Lc4 d6 5.d3 Lg4 6.h3 …

Träumt schon vom Legal-Motiv …

6…. Lh5(??)

… kann es tatsächlich möglich sein?!

7.Sxe5! …

Jetzt muss der Schwarze einfach bloß zu gierig sein …

7…. Lxd1??

Er ist es. Den Bauernverlust nach 7….Sxe5 8.Dxh5 Sxc4 9.dxc4 … hätte der Nachziehende wohl verkraften können.

8.Lxf7+ Ke7 9.Sd5#   1:0

Und da haben wir die Nr. 2: ein Viertel Jahrtausend nach Legal – ein Matt des Legal. Erst als Impression im Xiangqi, jetzt als Original im internationalen Schach.

Chess: sei es das Schach courtesy of FIDE, sei es das Schach der Chinesen – it is one big world.

Dr. René Gralla; Fotos: Christoph Harder

 

 

 

 

 

 

 


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