Die Chinaschach-Weltmeisterschaft in München
Ist die Rede vom chinesischen Schach, denkt man sofort an ein Ausnahmetalent wie Hou Yifan, die trotz ihrer erst 21 Lebensjahre schon mehrmals Weltmeisterin der Damen geworden ist in jener allgemein bekannten Variante des Denksports, für den die FIDE zuständig zeichnet. Nur wenige Spezialisten wissen dagegen, dass es gleichzeitig auch ein genuin "chinesisches" Schach gibt, das parallel zum internationalen Turnierzirkus, den Topstars wie die besagte Hou Yifan oder der Norweger Magnus Carlsen dominieren, ein äußerst dynamisches Eigenleben führt, mit der Respekt einflößenden Zahl von weltweit geschätzt einer halben Milliarde Anhänger. "Xiangqi", übersetzt: "Elefantenspiel", heißt das original chinesische Schach, dessen Ursprünge in der Zeit der Streitenden Reiche liegen sollen und das heute ein Massensport ist sowohl in der Volksrepublik als auch im Nachbarstaat Vietnam (und dort dann unter dem Namen "Co Tuong"). Und nun ist dieser Tage die Chinaschach-WM zum ersten Mal in Deutschland ausgetragen worden. Am vorletzten Augustwochenende flogen zur 14. Xiangqi-WM 2015 die Kandidaten aus 17 Nationen ein - und auch der ewige Schach-Provokateur Sam Sloan aus den USA war mit am Start. Und machte sich mal wieder keine Freunde...
Moderne Sachlichkeit regiert im Quartier an Münchens Baierbrunner Straße. Die Zweckbauten sind nüchtern und funktional, kein Platz für Schnickschnack, alles ist auf Effizienz getrimmt. Aber Seltsames wird an der Pforte zur Nummer 28 angekündigt: Ein Plakat zeigt bewaldete Hänge und Klippen, die steil abfallen in ein enges Tal. Darüber schwebt ein Gitternetz, das rätselhaft beschriftete runde Steine dekorieren.
Die erste Verblüffung setzt sich fort im Audimax des Sprachen- und Dolmetscherinstituts SDI: Frauen und Männer starren auf Bretter, die zugepflastert sind mit den gleichen kleinen Scheiben vom Poster draußen. Und an den Wänden hängen großformatige Drucke, die offenbar fernöstliche Texte wiedergeben.
Doch das ist keine Versammlung von esoterischen Sinnsuchern. Hier geht es um echten Hochleistungssport, weil auf dem Campus die diesjährigen Weltmeisterschaften entschieden werden im "Elefantenspiel".
Einlauf der Nationen zur 14. Xiangqi-WM in München (Foto: Oliver Breitschädel).
Zum besagten "Xiangqi", so die chinesische Originalbezeichnung, gehören nämlich unter anderem Steine, die von Elefanten unterstützte Milizeinheiten symbolisieren, daher der Name. Gewonnen hat, wer den feindlichen General - das Gegenstück zum König im bekannten Standardschach - in dessen Palast stellt und gefangen nimmt. Die Mattjagd nach Art der Chinesen wird von Fans seit wahrscheinlich mehr als 2000 Jahren praktiziert. Weltweit dürften das eine halbe Milliarde Anhänger sein, das "Chinaschach", wie es mitunter auch heißt, ist wahrscheinlich das beliebteste strategische Spiel auf dem Planeten.
Der Wahlmünchner Zhong Xue hat es möglich gemacht, dass sich vom 21. bis 26. August 2015 ausgerechnet in der weiß-blauen Kapitale die Besten der Besten messen in jener urchinesischen Disziplin, die in der Volksrepublik als wichtiger Bestandteil des eigenen kulturellen Erbes gilt. Schließlich stellt das Geschehen auf dem Brett, das ein stilisierter Grenzfluss teilt, im radikal verkleinerten Maßstab den Schicksalstag von Gaixia 202 vor Christus nach, als das Han-Volk über den konkurrierenden Teilstaat Chu triumphierte und zur dominierenden Macht im Reich der Mitte aufstieg (und deswegen übrigens auch die Collage aus Landschaftsszene plus Spielkoordinaten auf dem eingangs erwähnten WM-Plakat).
Der heute 47-jährige Zhong Xue, Nickname "Romeo", wurde in seiner Geburtsstadt Peking schon als zukünftiger Xiangqi-Profi gehandelt. Doch dann bot sich dem Mann die Chance, 2006 eine alternative Karriere an der Isar zu starten, und er griff zu. Inzwischen ist München, wo "Romeo" Zhong Xue eine Beratungsfirma für Telekommunikation führt, seine "zweite Heimat", wie er sagt. Das schnell redende und schnell handelnde Multitalent (geht bei der WM selber ins Rennen) hat sich mit dem Völkerfest des Denksports, den einst der weise Konfuzius empfahl, einen "persönlichen Traum" erfüllt: "München ist Sportstadt, war Gastgeberin der Schacholympiade 1958 und der Olympischen Sommerspiele 1972. Da ist die Xiangqi-WM der logische und längst überfällige nächste Schritt."
Mit der Deutschland-Premiere der Chinaschach-WM in München hat der Xiangqi-Weltverband (WXF) sein wichtigstes Turnier zum zweiten Mal an eine Federation außerhalb Asiens vergeben, und zwar genau zehn Jahre nach der ersten "Out-of-Asia"-Weltmeisterschaft 2005 in Paris (siehe den dazu bei ChessBase veröffentlichten Bericht: http://de.chessbase.com/post/go-west ).
Die erste Runde der 14. Xiangqi-Weltmeisterschaft in München - und WM-Fotograf Oliver Breitschädel (mittig im Vordergrund mit verschränkten Armen am Brett) versucht auch sein Glück.
Ein Kraftakt für die mit knapp hundert Enthusiasten noch recht kleine, freilich hoch motivierte heimische Community der virtuellen Elefantenflüsterer, die sich organisiert haben im Deutschen Xiangqi-Bund (DXB). Um so größer ist die Bedeutung des Events aus Sicht der Führung in Peking: Frau Zelan Chen, ihres Zeichens stellvertretende Direktorin der Nationalen Sportverwaltung und geschäftsführende WXF-Präsidentin, fliegt aus der Volksrepublik ein und eröffnet die 14. globalen Titelkämpfe in der langen Geschichte des ehrwürdigen Elefantenspiels.
Hoher Gast bei der WM: Frau Zelan Chen (stehend links am Brett im Vordergrund), geschäftsführende Präsidentin des Xiangqi-Weltverbandes WXF und stellvertretende Direktorin von Chinas Nationaler Sportverwaltung (Foto: Weiguang Wu).
Die Vision der Spitzenfunktionärin: die Menschen mit Xiangqi spielerisch an Chinas Traditionen heranführen und grenzüberschreitend Freundschaften stiften. "Eine Partie Chinaschach ermöglicht Verständigung trotz eventueller Sprachbarrieren", sekundiert Ex-Weltmeisterin Guo Liping, die in München das chinesische Team coacht. "Xiangqi öffnet die Herzen, bringt sie einander näher."
Möchte mit Xiangqi "die Herzen öffnen": Guo Liping, ehemalige Weltmeisterin und jetzige Xiangqi-Trainerin der chinesischen Nationalauswahl (Foto: Weiguang Wu).
Ein Kamerateam des chinesischen Staatsfernsehens CCTV dreht eine Reportage, die anschließend in den Hauptnachrichten ausgestrahlt wird.
Zum Beitrag beim chinesischen Fernsehen...
Schach zur besten Sendezeit: die Xiangqi-WM 2015 in München in den Hauptnachrichten des chinesischen Staatsfernsehens. Von einer derartigen Publicity können die Fans des Normaloschachs außerhalb Asiens höchstens träumen ...
Trotz des sportlichen Ehrgeizes, der die 61 Kandidaten aus 17 Nationen antreibt - sogar Russland hat zwei Vertreter nominiert - , herrscht im Turniersaal eine fast familiäre Stimmung. Zu der last not least beiträgt, dass die Matches relativ flott abgewickelt werden, im Schnitt ist Abpfiff nach höchstens drei Stunden. Das powert nicht total aus wie im Mainstreamschach, und die Aktiven haben hinterher noch genügend Kraft und Lust und Muße, miteinander zu reden und fleißig Visitenkarten auszutauschen.
Das hohe Tempo im Xiangqi liegt an dessen genialem Konzept: Der rote respektive schwarze General müssen jeweils ausharren in ihren zentralen Palästen, dürfen weder fliehen noch sich in Rochadeburgen verschanzen, werden auf ihren exponierten Positionen logischerweise meist rasch ausgeknockt. Ein Szenario, das kein Geheimwissen voraussetzt, sondern auch von Amateuren ohne Schwierigkeiten richtig eingeschätzt und in adäquate Strategien und Taktiken umgesetzt werden kann. Im Ergebnis ist Chinas Xiangqi - und insofern anders als das internationale Schach der FIDE - klar massentauglich, sogar die Bauern auf dem Land kramen die Spielsteine raus in den Pausen zwischen der Feldarbeit.
Und Kinder lernen das Elefantenspiel durch bloßes Zugucken, wenn sich Opa und dessen Kumpels im Xiangqi duellieren. Oder die Mama, wie in München zu beobachten: In der Damenkonkurrenz punktet Li Chen aus dem schottischen Edinburgh, und Tochter Lucy besorgt den regelmäßigen Energienachschub, in der Form von Schokobonbons. Natürlich hat die Neunjährige das Xiangqi ebenfalls drauf, das Talent liegt in der Familie, Mutter Li Chen wurde immerhin Vizeweltmeisterin 1999 in Shanghai.
Familiäres Trainingsmatch in der Turnierpause: Mutter Li Chen (wurde Zweite bei der WM 1999 in Shanghai) zeigt Tochter Lucy ein paar Tricks. Die beiden leben im schottischen Edinburgh (Foto: Weiguang Wu).
Das Beispiel Lucy sollte Bildungsexperten aufhorchen lassen. Studien haben nachgewiesen, dass sich Kinder mühelos die Grundrechenarten aneignen, falls sie frühzeitig Schach lernen. Indem das schachähnliche Xiangqi den jungen Chinesen gewissermaßen im Vorbeigehen zufliegt, dürfte das wohl ein entscheidender Grund dafür sein, warum Asiens Mädchen und Jungen bei internationalen Vergleichstests in Mathe (und damit zusammenhängend auch in Naturwissenschaften) durchgängig besser abschneiden als ihre Altersgenossen aus dem Rest der Welt.
Erfolgsformel Xiangqi - und selbstverständlich gilt während der Münchner Wettkampftage in Abwandlung des bekannten Gary Lineker-Bonmots ("Fußball ist ein einfaches Spiel ... und am Ende gewinnen immer die Deutschen."): Chinaschach ist ein flottes Spiel ... und am Ende gewinnen immer die Chinesen. Der 21-jährige Großmeister Weitong Zheng aus Chengdu marschiert ungeschlagen durch und wird Champ der Champs.
Herr der chinesischen Schach-Elefanten: der neue Xiangqi-Weltmeister Weitong Zheng (Foto: Oliver Breitschädel).
Landsfrau Linna Wang setzt sich bei den Damen durch, darf sich als neue Nr. 1 feiern lassen. Den Sturmlauf der 35-jährigen aus dem nordchinesischen Harbin hat auch die Frontfrau der Republik, die Berlinerin Cai Fang Wu, nicht stoppen können. Die gebürtige Chinesin nimmt's sportlich: Wichtiger als die eigene Platzierung findet sie die Tatsache, dass die Xiangqi-WM überhaupt in München stattfindet ("tolle Werbung für unser Spiel") und dass sie Deutschland vertreten darf: "Eine große Ehre für mich!"
Die München-WM sei "tolle Werbung" für das Xiangqi, sagt Cai Fang Wu (li.), die für Deutschland spielt - und wer will der charmanten Meisterin da widersprechen?! (Foto: Weiguang Wu)
Die Langnasen im Feld können in den Kampf um die vorderen Plätze ohnehin nicht eingreifen. Sei's drum, den 50-jährigen Guido Freyer aus dem fränkischen Oberwiesen freut einfach die WM "dahoam", quasi vor der Haustür. Ansonsten hat es dem hauptberuflichen Maler und Verputzer gereicht, seinen Gegnern das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Und für Münchens Vertreter im WM-Kader ist allein die Berufung ein unglaublicher Erfolg. Zwanzig Jahre lang hat Ingo Naumann im Mainstream-Schach geackert, und Lohn der Mühen waren maximal ein paar Einsätze in Ober- und Regionalliga. Keine Rede von einer veritablen Weltmeisterschaft, das wäre lächerlich gewesen, die war natürlich "nicht mal annähernd in Reichweite". Und nun darf der 50-jährige den Besten der Besten auf Augenhöhe begegnen, "das ist saugut", und auch eine herbe Klatsche wird zum Ritterschlag.
Ähnlich wie der Bayer Naumann sieht das die Berlinerin Daniela Schmidt. "Im Normalschach hätte ich doch nie die Chance gekriegt, bei einer echten Weltmeisterschaft mitmischen zu dürfen", sagt die Fremdsprachenkorrespondentin, "das ist klasse!" Die 58-jährige genießt die WM-Atmosphäre: "In dieser internationalen Gemeinschaft zu spielen, das macht Spaß!"
Dem stimmt einer der vier Finnen in Berlin, der 36-jährige Übersetzer Mikko Törnqvist aus Helsinki, uneingeschränkt zu. Und der Russe Dmitry Rumyantsev pflichtet ihm bei, insbesondere die perfekte Organisation sei "sehr gut!" Aber wie kommt es eigentlich, dass der 45-jährige die weite Anreise aus Moskau auf sich genommen hat, bloß um sich anschließend von den Chinesen in deren Spezialschach vermöbeln zu lassen, während doch gleichzeitig bei ihm zu Hause das klassische Schach in ungebrochen hohem Ansehen steht? "Das übliche Schach kennen wir, das ist kein Abenteuer mehr", meint IT-Spezialist Rumyantsev, "deswegen suchen wir Russen nach neuen Herausforderungen."
Nur einer will partout stänkern und seinem Ruf als Enfant terrible der Schachszene gerecht werden: der US-Amerikaner Sam Sloan. Der New Yorker behauptet gerne von sich, er sei Spitzenspieler im Xiangqi, wenn er nicht gerade mal wieder versucht, die Führung der United States Chess Federation zu stürzen. Der 71-jährige Journalist bemängelt im ChessBase-Interview den angeblich "niedrigen Standard" der Veranstaltung. Der sei bei der vorausgegangenen WM viel höher gewesen: 2013 im chinesischen Guangdong habe man ihn untergebracht "in einem 5-Sterne-Hotel", und Mädchen seien ihm auch zugeführt worden, aber in München gebe es das alles nicht.
Jammert über den angeblich niedrigen Standard der WM-Organisation ("no girls, no fun!"), liefert aber gleichzeitig eine suboptimale Performance am Xiangqi-Brett ab: der US-Amerikaner und Schach-Provokateur Sam Sloan (li.; im schweren Abwehrkampf gegen den Finnen Mikko Törnqvist). Foto: Oliver Breitschädel
Eine Meckerei, für die der ewige Provokateur Sam Sloan am Ende die verdiente Quittung kassiert: Der Möchtegern-Xiangqi-Topstar landet peinliche fünf Plätze vor dem absoluten Schlusslicht, dem Deutschen Norbert Wagner. Dagegen gelingt dem deutschen Xiangqi-Rekordmeister Michael Nägler (sechs nationale Titelgewinne) in München ein Achtungserfolg: Der 58-jährige Radiologe aus Lingen ist der beste Nichtasiate, kämpft sich vor bis in die Spitzengruppe der zweiten Tabellenhälfte.
Bester Nichtasiate in München: der deutsche Xiangqi-Rekordmeister Michael Nägler (re. vorne). Foto: Oliver Breitschädel
Derweil bereitet Turnierchef "Romeo" Zhong Xue (in der Schlussbilanz auf dem beachtlichen Platz 16 weit vor dem deutschen Haudegen Nägler) den nächsten Coup vor: eine Jugendweltmeisterschaft im Xiangqi, zum ersten Mal in der mehr als 2000-jährigen Geschichte des Elefantenspiels, und wieder in München, das ist Ehrensache.
Wer sagt's denn, "mia san mia", im Fußball ohnehin, und jetzt demonstrieren die Bayern womöglich gar im Chinaschach, wo der Barthel den Most holt.
Zeigt dem Rest der Nation, wo der Barthel den Most holt: der Macher der Chinaschach-WM in München, der Wahlbayer "Romeo" Zhong Xue.
...
Endstand Männer...
Endstand Frauen...
Fotos: Oliver Breitschädel, Weiguang Wu
Programm der Weltmeisterschaft...
Weitere Infos zum Chinaschach "Xiangqi", zu den Regeln und zu Turnierterminen...
Bericht in der Süddeutschen Zeitung...