Titelträger zumeist chancenlos beim 16.000-Dollar-Freistilturnier
Von Arno Nickel
Wer hätte das gedacht! Nur zwei Internationalen
Meistern von insgesamt 28 Titelträgern gelang am 18./19.März der Sprung ins
Finale des 2. PAL/CSS-Freistilturniers, das am 7./8.April auf playchess.com
ausgetragen wird. Den 1.Platz errang sensationell mit 7,5 aus 8 ein
Unbekannter namens "Vvarkey". Nur die Engine-Bezeichnung hinter dem
Servernamen war eindeutig: Rybka 1.1 32-bit. Was manche befürchtet hatten,
aber nur wenige für wahrscheinlich hielten: mit Vvarkey dominierte ein reiner
Enginespieler im Unterschied zu der überwiegenden Vielzahl der
Zentaur-Spieler (Mensch+Maschine) das 146 Teilnehmer starke Feld.
Der Gewinner hatte sich eine Woche vor dem Turnier als
Vigi Varkey aus London, von Beruf Programmierer, in einem Computerforum zu
Wort gemeldet und nach verschiedenen Engine-Details erkundigt. Am
Freistil-Turnier wollte er mit einem Xenon Quadrechner mit Rybka und Crafty
teilnehmen, was aber anscheinend nicht geklappt hat, denn die automatischen
Engine-Infos beim Turnierspiel auf dem Server deuteten auf eine wesentlich
langsamere Hardware hin: ein Pentium 4, kein Mehrprozessorsystem und auch
keine 64-bit Version, die es bereits für Rybka gibt.
Auch eine Woche nach dem Hauptturnier hielt das
Rätselraten um Vvarkey, der sich auf dem Server mit einer US-Flagge
eingetragen hatte, noch an. Wahrscheinlich war er selbst von seinem Erfolg
überrascht. Gegen den nach Wertung Zweitplazierten mit dem Servernamen "Zor_champ"
aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, der im Zentaurmodus mit dem
Superrechner Hydra antrat, verhalf ihm ein Mausslip des Gegners unverhofft zu
einem vollen Punkt (25...Tcc7?? statt 25...Tcc8), und auch in anderen Partien
sah es keineswegs immer nach klaren Vorteilen aus. Man darf gespannt sein, ob
es Vigi Varkey beim siebenrundigen Finale am 7./8. April gelingen
wird, seine Spitzenposition zu behaupten und ob er mit der gleichen
Ausrüstung antreten wird.
Sechs Punkte waren erforderlich bzw. genügend, wie sich
am Ende herausstellte, um den 2.-7.Platz zu teilen. Den dritten Rang holte
sich der Rybka-Programmierer und Internationale Meister Vasik Rajlich (mit
ungarischer Flagge?!) vor IM Dennis Breder (alias "Klosterfrau") vom
Godesberger Schachklub. Fünfter wurde ein tschechisches Team namens "Equidistance",
ebenfalls Zentauren wie alle Vorgenannten und wie der Sechste, "Ciron",
Fernschach-GM Arno Nickel aus Berlin. Siebenter wurde eine weiterer
Rybka:Automat, "King Crusher" aus Stockholm. Um den achten Platz entschied
ein Stechen von 10 Spielern, das Relic mit einer weiteren Rybka-Engine, seinen Gunsten entschied.
Mit 11 FIDE-Großmeistern, 12 Internationalen Meistern, 4
FIDE-Meistern, einigen Fernschach-Titelträgern und rund 30 weiteren
Elozahl-Trägern zwischen 2000 und 2300 konnten sich die Veranstalter kaum
über mangelnde Schachkompetenz bei diesem zweiten großen Freistil-Event
beklagen. Ein Raunen ging durch den virtuellen Spielsaal, als dann auch noch
die Namen "Star Wars" (GM Hikaru Nakamura) und "Kasimdzhanov" (usbekischer
FIDE-WM 2004) auf dem Bildschirm erschienen. Letzterer kam nur als Kiebitz,
doch der amerikanische Jungstar wollte es wissen...
Apropos Amerikaner, sie bildeten mit 24 Teilnehmern wie
im Vorjahr das zweitstärkste Kontingent hinter den Deutschen, die mit 42
Meldungen diesmal sogar unter 30 Prozent blieben. Mit deutlichem Abstand
folgten Großbritannien (8), Russland (6), Spanien und Polen (je 5) sowie
Italien und Brasilien (je 4). Die am weitesten entfernten Spieler aus den
insgesamt 35 Ländern saßen in Chile, auf den Fidschi-Inseln und in Australien
am PC.
Gespielt wurde mit einer Bedenkzeit von 45 Minuten je
Spieler plus 5 Sekunden Zugabe pro Zug. In der Praxis bedeutete dies bei 4
Runden pro Tag 8 Stunden Schachstress pur, denn das Schnellschach-Tempo
erlaubte kaum Ruhepausen zwischen den Zügen, galt es doch stets, die
Rechenzeit des Gegners für die eigenen PCs zweckmäßig auszunutzen. Dies wird
insbesondere jeder gemerkt haben, der allein, das heißt ohne Teampartner,
gespielt hat.
Wer, wie der Autor, erwartet hatte, dass die Remisquote
angesichts der hohen Leistungsdichte der Programme im Vergleich zu
menschlichen Open-Turnieren deutlich höher ausfallen würde, sah sich durch
den Verlauf angenehm enttäuscht: sie lag mit 37 Prozent voll in der Norm,
auch das Verhältnis der Weiß- und Schwarz-Gewinnanteile entsprach mit 54 zu
46 Prozent ganz den Werten aus den großen Datenbanken.
Nur 24 Spieler bzw. Freistil-Teams ließen ihre Engine
das ganze Turnier über ohne menschlichen Eingriff laufen, wobei die Anzahl
der Rybka-Engines dominierte (ähnlich wie im Vorjahr Shredder), nur
vereinzelt setzten Spieler voll und ganz auf andere Programme, was aber in
der Summe mit Fritz, Hiarcs, Junior, Shredder, Zappa, Gandalf und Pro Deo für
willkommene Farbtupfer sorgte. Dass die Zentauren viele dieser Programme, vor
allem Fritz und Shredder, als ihre bevorzugten Referenzengines benutzten,
versteht sich von selbst. Überraschenderweise wechselten 25 weitere Spieler
bzw. Teams gelegentlich zwischen den Runden den Spielmodus von Zentaur auf
Engine oder umgekehrt. Die Motive dafür waren recht unterschiedlich. Während
der eine noch nach der richtigen Einstellung für das Turnier oder für den
speziellen Gegner suchte, zog es der andere am Ende aufgrund von Erschöpfung
oder Frustration vor, den Autopiloten einzuschalten (das konnte man sogar bei
Titelträgern vereinzelt beobachten). Es gab aber auch Fälle, wo jemand wegen
eines anderen Termins, sei es privat oder wegen seiner Arbeit, einzelne
Partien vollständig vom Computer spielen ließ. Die ganz überwiegende Zahl der
Teilnehmer, 97, spielte jedoch alle Partien im Zentaurmodus, wobei auch dies
ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann: mal als "Zwei-", "Drei-" oder
"Mehrhirn", ein anderes Mal als Advanced Chess Spieler à la Kasparow mit
eigenen tiefen Überlegungen.
Während im Vorjahr noch drei Großmeister unter die
letzten Vier kamen, hat sich das Blatt diesmal gründlich gewendet. Lag es an
der zu kurzen Bedenkzeit, die reine Enginespieler nach Ansicht mancher
Kritiker bevorteilt? Berücksichtigt man, daß es in der Regel kaum möglich
ist, die Engines schon in der Eröffnung zu überspielen, weil sie mit sehr
guten Datenbanken ausgestattet sind, dann kann man dieser Interpretation kaum
widersprechen. Es fehlt dann deutlich an der Zeit, die auch ein Großmeister
benötigt, um sich für einen guten und gegen Computer nicht zu riskanten Plan
zu entscheiden. Die Veranstalter erwägen daher bereits, auf eine Bedenkzeit
von 60 Minuten pro Spieler und 15 Sekunden pro Zug überzugehen und die 8
Runden dann unter Einbeziehung des Freitags (2 Runden) neu zu verteilen
(Samstags und Sonntags je 3 Runden).
Ob der Endstand mit diesen Zeitbedingungen das nächste
Mal wesentlich anders aussehen wird? Die Zeit alleine macht es nicht. Eine
leistungsstarke Hardware, Knowhow im Umgang mit den Engines, Teamwork,
systematische Vorbereitung und Zentaur-Training sind weitere Faktoren, die in
die Waagschale fallen. Die Vorstellung, daß ein starker Schachspieler mit ein
wenig Computerunterstützung (so genannter blunder-check) gegen ein
Rechenmonster bestehen könne, stammt noch aus der Zeit von Deep Blue und
davor. Der stete technische Fortschritt sorgt schneller als erwartet dafür,
dass das Eis für die intelligenzbegabte Spezies Mensch immer dünner wird.
Arno Nickel
(Fernschach-Großmeister und Verleger)
Tabelle bei CSS...
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Gut gefritzt...