RUNDES SCHACH – DAS SCHACH
ZUR FUSSBALL-WM
Text: Dr. René Gralla
Fotoproduktion: Daniel Blank
WM-Zeit ist Hobbystrategenzeit.
Und jeder darf sich mal wieder lautstark darüber auslassen, was wohl der bessere
Plan sei für die Nationalelf bei den Welttitelkämpfen in Südafrika, leichtfüßig
über die Flanken oder robust geradeaus durch die Mitte.
Ein Dauerbrenner – und zugleich
eine Grundsatzfrage, die im 64-Felder-Szenario, auf das sich so mancher
Fußballexperte, wenn er sich einen intellektuellen Anstrich geben möchte, unter
dem Stichwort „Rasenschach“ gerne mal bezieht, seit vielen Generationen bereits
entschieden ist. Allerdings überraschenderweise zu Gunsten einer – ausgerechnet!
– eher schlichten Methode, nämlich im Sturkopp-Verfahren Richtung Zentrum
rennen, obwohl man doch meinen sollte, ein geistig derart gehaltvolles Spiel
müsste eigentlich denjenigen favorisieren, der weniger schablonenhaft denkt und
agiert.
Tatsächlich aber haben über
viele Jahrhunderte gesammelte Erfahrungswerte ergeben, dass eine reine
Flügelstrategie, die das Zentrum ignoriert, sondern die wahlweise via Randzone
links oder rechts voranzukommen sucht, in der schwarz-weißen Miniarena deswegen
nicht funktioniert, weil das beengte Terrain dann, wenn der Kontrahent die Mitte
erobert hat, einfach nicht genügend Platz lässt für Umfassungsmanöver längs der
Peripherie.
Ein unbefriedigender Tatbestand,
der Tüftler schon in der ersten Goldenen Epoche des Denksports nicht hat ruhen
lassen. Ihre Lösung: die Projektion der Schachquadranten auf vier geschlossene
Ringe eines Spielfeldes, das Angriffe in zwei Richtungen und Überfälle von
hinten möglich macht. Nun plötzlich sind ausgreifende Zangenoperationen möglich,
weil jetzt die Mitte, da aus design- und spieltechnischen Gründen off limits,
eben fröhlich ignoriert werden kann (und muss).
So beschreibt der in Bagdad
geborene arabische Philosoph und Historiker Abu al-Hasan Ali ibn al-Husayn
al-Mas’udi (um 895 – 957) …
… in seinem epochalen Werk „Murudsch
ad-dahab wa-ma’adin al-dschauhar“, übersetzt: „Die Goldwiesen und
Edelsteingruben“, unter anderem auch eine Rundversion des klassischen „Shatranj“,
jener Originalversion des Schachsports, die damals am Sitz der Kalifen äußerst
populär gewesen ist.
Später hat sich für das
360-Grad-Shatranj in der Fachwelt der Begriff „Byzantinisches Schach“
durchgesetzt, obwohl besagte Terminologie streng genommen irreführend ist.
In Wahrheit ist die spannende
Variante keineswegs allein im östlichen Teilstaat des untergegangenen Römischen
Reiches verbreitet gewesen, sondern, wie einige Quellen berichten, zum Beispiel
noch um 1400 im Palast des Timur zu Samarkand gepflegt worden.
In den Stürmen der Neuzeit
verliert sich allerdings die Spur des Rundschachs. Bis 1982 der
Amateurhistoriker David Reynolds im nordenglischen Lincoln ein Antiquariat
betritt und dort den angestaubten Band „The Sports And Pastimes Of The People Of
England“ entdeckt, eine Abhandlung, die 1801 ein gewisser Joseph Strutt
publiziert hat. Reynolds kauft das Buch, und als er zu Hause ein wenig
schmökert, stößt er auf das Bild eines runden Schachbretts aus dem Mittelalter.
Eine Illustration, die Reynolds
sofort anmacht. Unbedingt möchte er wissen, wie dieses ominöse Rundschach
funktioniert. Er malt auf Pappkarton einen Spielplan und überredet die
Tresenfreunde im Pub nebenan zu einem Testmatch.
Das Foto zeigt
Rundschach-Wiederentdecker David Reynolds (l.) am Brett mit dem zweimaligen
Weltmeister Herman Kok (r.) aus den Niederlanden.
Misstrauisch und zögerlich
zunächst, bald aber mit wachsender Begeisterung setzt sich einer nach dem
anderen an das improvisierte Brett – und am Ende fröhlicher Stunden mit viel Ale
und Überfällen aus dem Hinterhalt, weil sich wieder mal ganz fies ein Läufer
über eine tückisch gedrehte Diagonale heran geschlichen hat, sind sich die
Kumpels einig: Rundschach, englisch: „Circular Chess“, ist eine absolut
unterhaltsame und zugleich herausfordernde Schachvariante, die zu Unrecht in
Vergessenheit geraten ist.
Noch in dieser denkwürdigen
Nacht beschließen die Anwesenden, die „Circular Chess Society“ zu gründen. Sie
organisieren Turniere, über die bald auch die Medien berichten. Besonders
attraktiv gerade auch für Leute, die Schach früher zäh und öde fanden: Das Spiel
auf runden Brettern sieht nicht so langweilig und statisch aus wie das übliche
Quadratschach. Ein visueller Effekt der ringförmig angeordneten Felder, die
selbst bei regelunkundigen Zuschauern den Eindruck erwecken, einem höchst
lebendigen Geschehen beizuwohnen.
Rundschach macht Spaß, das findet auch die Schach-Nachwuchsfachkraft Ana Adzic,
ein hoffnungsvolles zahnjähriges (!!) Jungtalent aus dem ungarischen Szegedin
(Foto: Daniel Blank).
Die erste Weltmeisterschaft im „Circular
Chess“ wird 1996 ausgetragen. Spektakulär ist der äußere Rahmen der WM 2005: die
Kathedrale von Lincoln, in der auch Schlüsselszenen gedreht worden sind für den
Blockbuster „Sakrileg“, den Kinohit mit Tom Hanks über den mysteriösen Da
Vinci-Code. Down to earth und im Stil der Gründerzeit ist der Spielort der
diesjährigen 15. Welttitelkämpfe am 25. Juli 2010: der Pub „The Tap & Spile“, 21
Hungate, Lincoln.
Einer der Frontmänner im
Rundschach ist der Geschäftsmann Herman Kok aus den Niederlanden,
Weltturniersieger 2000 und 2006. Der ehemalige Jugendmeister von Amsterdam hat
einen prominenten Kollegen: Großbritanniens Nachwuchsstar David Wei Liang Howell
(19), der als 16-jähriger zum GM aufgestiegen ist, als jüngster Großmeister in
der Geschichte des Vereinigten Königreiches.
Howell wird das Zeug zum Champ
der Champs nachgesagt, und wie sich das anfühlt, hat er schon im zarten Alter
von 11 (!) Jahren testen dürfen – als er 2002 in Lincoln die 7.
Weltmeisterschaft im Circular Chess gewonnen hat.
Mal aus der Routine ausbrechen
und seiner Kreativität freien Auslauf lassen, beim Bummeln über einen Rundkurs,
das ist offenbar das ideale Training, um – David Howell hat die Messlatte
vorgegeben – womöglich gar höhere Ziele anzupeilen. Hier ein paar Hinweise für
das praktische Spiel, sei es, dass man Rundschach einfach bloß zum Spaß zocken
möchte, sei es, dass man plant, am vierten Julisonntag 2010 in Lincoln
einzufliegen und aus dem Stand nach der Krone zu greifen.
Auch auf dem runden Brett, das
wie vertraut in 64 Felder unterteilt ist, gelten grundsätzlich die selben Regeln
wie im Quadratschach. Nur wenige Besonderheiten sind zu beachten, die entweder
aus der Entstehungsgeschichte des modernen Circular Chess zu erklären sind oder
die mit den spezifischen Gegebenheiten des Rundkurses zusammenhängen.
Der Spielplan und die
Startpositionen der Figuren sind das Ergebnis einer – selbstverständlich nur
gedachten – Manipulation am Quadratbrett, indem nämlich Letzteres mit einem
virtuellen Schnitt, der die d-Linie von der e-Linie trennt, mittig separiert
worden ist. Die beiden 4x8-Hälften sind anschließend im Hyperraum derart gebogen
worden, dass, bezogen auf das weiße Lager, die zwischen a1 und d1 postierten
weißen Offiziere ihre Hinterteile den Rückenpartien der Kollegen von e1 bis h1
zuwenden.
Vergleichbares gilt für die
schwarze Partei. Vor den dergestalt getrennten zwei Vierer-Blöcken der höheren
Ränge reiht sich jeweils ein Bauernquartett, und diese Infanteristen
marschieren, sobald das Angriffssignal ertönt, über die Felderhalbringe in
gegenläufige Richtungen, das heißt, links- oder rechts rum nach vorne.
Die beschriebene fiktive
Zweiteilung des Quadratbrettes, die anschließend mittels Krümmung und
Verklammerung der beiden imaginären Bretthälften zu einer vierspurigen
Rennstrecke das Gelände des Rundschachs hat entstehen lassen, führt zu
entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich der Partienotation. Schauen wir aus
Sicht des Weißspielers auf das Brett, besteht die Außenbahn des Bonsaistadions
aus dem linken a-Halbring und dem rechten h-Halbring; weiter nach innen
schließen sich an die Halbringpaare b und g, c und f sowie d und e.
Die Nummerierung der Fehler
folgt den aus dem Quadratschach bekannten Muster. Der weiße Linksaußenturm
startet auf a1, der Rechtsaußenturm auf h1; Richtung Zentrum gruppieren sich die
Springer auf b1 (links) und g1 (rechts) sowie die Läufer c1 (links) und f1
(rechts). Die schwarzen Koordinaten korrespondieren dieser Aufstellung.
Trotzdem wäre der Relaunch des
Circular Chess kein echtes britisches Projekt ohne ein gerüttelt Maß an
Exzentrik. Der Godfather des Rundschachs, David Reynolds, hat sich kompromisslos
an alten Illustrationen orientiert, die noch, wie es im arabischen „Shatranj“
üblich war, den König links vom Wesir, dem Vorgänger der modernen Dame, und
folglich auf d1 (Schwarz: d8) verortet haben. Das hat Reynolds auf das
restaurierte Circular Chess übertragen: Der Monarch des Anziehenden zieht in das
Match vom ersten Feld des linken Halbringes aus, das ist d1 (Schwarz: direkt
gegenüber auf d8); rechts daneben rüstet sich die Dame auf e1 (Schwarz: e8) für
das Duell.
Damit trotzdem die eherne
Grundregel „Weiße Dame auf weißem Feld, schwarze Dame auf schwarzem Feld“
eingehalten werden kann, hat Rundschach-Guru Reynolds das Brett farbvertauscht
auf die Weise koloriert, dass die linke weiße Turmposition a1 ausnahmsweise mal
total legal in hellstem Hell strahlen darf – was ja ansonsten unter Anfängern,
aber gerne auch unter Regisseuren, die Schachszenen in ihre Filme einbauen, ein
nicht auszurottender Fehler ist, wenn sie ihre Figuren aufstellen.
Ansonsten ist alles wie gehabt.
Die linke weiße Bauernhalbformation (a2 bis d2) kann am Ende der vier Halbringe
befördert werden, sprich: auf a8 bis d8. Analog die Destination des rechten
weißen Flügels, umgekehrt streben die schwarzen Infanteristen auf der linken
Flanke nach e1 bis h1 beziehungsweise auf der rechten Flanke nach d1 bis a1.
Ferner wichtig: Im Rundschach
ist keine Rochade möglich, sie würde schließlich auch kaum sinnvoll sein.
Während der einleitende Doppelschritt der Bauern zulässig ist, hat sich Circular
Chess-Daddy Reynolds noch eine spleenige Sonderschikane ausgedacht: Das Schlagen
En-passant ist ausgeschlossen.
Zum Abschluss zwei muntere
Kurzpartien, ausgetragen anlässlich von Weltmeisterschaften und exemplarisch
dafür, wie Circular Chess funktioniert.
Weiß: Francis
Bowers (United Kingdom)
Schwarz: Herman Kok (Niederlande)
5. Weltmeisterschaft im Circular
Chess, 14.
Mai 2000; Lincoln, United Kingdom
Randbauern-Eröffnung
1.a2-a4 …
Im Rundschach durchaus
praktikabel, um für die Schwerfiguren, die bereits verdoppelt auf dem
a-h-Halbringpaar lauern, rasch die Stellung zu öffnen.
1.... d7-d5 2.b2-b4 ...
Im Circular Chess darf
experimentiert werden, für das Quadratschach entwickelte Eröffnungslehren helfen
hier nicht weiter.
2.... Lc8-d7 3.a4-a5 ...
Will seinem schweren Gerät auf
Biegen und Brechen freie Bahn verschaffen.
3.... Sb8-a6 4.Lc1-a3 b7-b6
Schwarz hat keine Angst vor der
Linienöffnung.
5.a5xb6 …
5…. a7xb6 6.c2-c3 De8-c8 7.La3-b2 c7-c5
“Schwarz steht klar besser“,
urteilt Rundschach-Analytiker John Beasley in „Variant Chess“, Volume 5, Issue
36; im Web unter
www.chessvariants.com/columns.dir/vc-2000-autumn.html ). Hauptargument soll
der Tempogesichtspunkt sein: Nach Zählung von Beasley hat Schwarz drei Einheiten
jeweils einmal bewegt, Weiß dagegen bloß einen Offizier, nämlich den Läufer –
und diese Figur obendrein gleich zweimal
8.Sg1-c2 c5xb4 9.Sc2xb4? ...
Sieht irgendwie normal aus,
verliert aber glatt einen Bauern. Richtig war 9.cxb4 ... .
9.... Sa6xb4 10.c3xb4?? ...
Weiß wird auf dem falschen Fuß
erwischt. Allein der sofortige Zwischentausch 10.Txa8! ... hätte Schlimmeres
abgewendet.
10.... Ta8xa1
11.Th1xa1 Th8xa1 12.Lb2xa1 ...
Und nun der Knock-out: Offenbar
hat der mehrfache Weltmeister Bowers übersehen, dass nach 10.cxb4?? ... das
c-f-Halbringpaar geöffnet worden ist für die schwarze Dame, die eventuelle
Fluchtversuche des weißen Königs via c1 oder c2 vereitelt.
12.... Ld7-a4# 0-1
Ein Blitzsieg von Herman Kok auf
dem Weg zu seinem ersten WM-Titel 2000. Noch schneller fertigt der Mann aus
Amsterdam einen seiner Mitbewerber fünf Jahre später ab.
Weiß: Herman Kok (Niederlande)
Schwarz: N.N.
(United Kingdom)
Larsen-Eröffnung – Circular
Chess-style
1.b2-b3 c7-c5
2.d2-d3 a7-a6 3.Lc1-d2 Sg8-h6??
Verkennt, dass 1…. c5 und 2….a6
das Einfallstor aufgerissen hat für unerwünschte Besucher via der Kurzdiagonalen
a5-d8.
4.Ld2-a5+ ...
Das Matt nach 4.... b6 5.Lxb6#
ist programmiert.
4.... Aufgabe 1-0
Wenn es noch eines weiteren
Beweises bedurft hätte: Circular Chess ist offenbar ein großer Spaß. Und jeder
kann damit ganz oben auf dem Siegertreppchen landen. Nach dem bewährten Rezept
von Meister Herman Kok: „Circular Chess ist ganz einfach – Du musst bloß spielen
– und dabei gleichzeitig Deinen Drink halten können.“
Wer sagt’s denn: Dank Rundschach
ist das Schlauspiel – FAST!! – so schön wie Fußball.
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15. WM 2010 im Rundschach:
Sonntag, 25. 07.2010, Lincoln/United Kingdom; Turnierort: Pub „The Tap & Spile“,
21 Hungate; weitere Infos:
www.tapandspilelincoln.co.uk
; Regeln des Rundschach:
www.chessvariants.com/shape.dir/circular.html