Von Kasparow zu "Ludwig"
Von Dr. René Gralla
Die Bibliothek von Alexandria sammelte einst das Wissen der antiken Welt. Bis
das Gebäude samt 700.000 Buchrollen im Zuge der Kämpfe zwischen Cäsar und Pompejus
48 v.u.Z. abgebrannt sein soll; nach anderen Quellen ist das Museion, wie die
Anlage hieß, allerdings erst rund 350 Jahre später zerstört worden. Das Schachwissen
der modernen Welt wird vom Hamburger Softwareanbieter ChessBase archiviert.
Mehr als vier Millionen Partien von den Klassikern der Vergangenheit bis zu
den Highlights 2008 sind abgespeichert. Profis und Fans können das Schlaumaterial
als Mega Database 2009 auf DVD kaufen und nach Hause tragen. Der Autor Dr. René
Gralla lässt sich im Interview für die Tageszeitung "Neues Deutschland" das
Jahrtausendprojekt von ChessBase-Geschäftsführer Matthias Wüllenweber (47)
erläutern. Der obendrein auch noch die Kompositionskunst revolutionieren möchte.
DR. RENÉ GRALLA: Wie hat das Projekt begonnen?
MATTHIAS WÜLLENWEBER: Mitte der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts spielte
ich an Brett 1 der Universitätsmannschaft im schottischen Edinburgh. Damals
haben die Leute wichtige Partien, gerade auch von potenziellen Gegnern, auf
Karteikarten notiert, und ich fand das unbefriedigend. Bis mir plötzlich klar
wurde, dass die Idee, für die systematische Archivierung von Schachinformationen
einen Computer zu verwenden, eigentlich doch zum Greifen nahe lag.
DR. R.GRALLA: Der seinerzeitige Weltmeister Garri Kasparow hat Ihren Plan
maßgeblich unterstützt ...
M.WÜLLENWEBER: ... eine Verbindung, die Frederic Friedel herstellte, den ich
in jenen Tagen kennenlernte. Zu dritt haben wir das Konzept entwickelt.
Garry Kasparov hat das Schach auf mehr als eine Weise revolutioniert.
DR. R.GRALLA: Wie sind die Partien in die Datenbank geflossen?
M.WÜLLENWEBER: Die wurden manuell eingegeben, Zug für Zug, mit der Computermaus.
Dabei haben uns befreundete Mitglieder des Hamburger Schachklubs unterstützt.
DR. R.GRALLA: Wo kriegten Sie die Partien denn her?
M.WÜLLENWEBER: Aus Turnierbulletins. Die waren damals noch auf der Schreibmaschine
geschrieben, und Fehler wurden mit Tippex korrigiert. Gelegentlich griffen wir
auch auf handschriftliche Aufzeichnungen zurück. Hinzu kamen historische Begegnungen
aus Büchern. Gestartet ist das Programm zum Zeitpunkt der Firmengründung von
ChessBase im Juli 1988 dann mit 1000 Partien.
DR. R.GRALLA: Das sind inzwischen offenbar deutlich mehr geworden ...
M.WÜLLENWEBER: ... das war eine explosionsartige Entwicklung. Mit dem zunehmenden
Bekanntheitsgrad von ChessBase ist der Datenbestand ständig erweitert worden.
Momentan haben wir mehr als vier Millionen Partien gespeichert.
DR. R.GRALLA: Die können Interessierte auf DVD kaufen. Rund 62.000 Partien
dieser Kompilation werden von Eröffnungsexperten und Spitzenspielern kommentiert.
Wie viele Matches kommen jährlich neu dazu?
M.WÜLLENWEBER: Mehrere hunderttausend.
DR. R.GRALLA: Ein Wahnsinn. Sind die Rechnerkapazitäten nicht irgendwann
erschöpft?
M.WÜLLENWEBER: Nein. Die Hardware wird ja immer leistungsfähiger. Unser Datenbankserver,
der in einem Rechenzentrum in Köln steht, ist bei weitem noch nicht ausgelastet.
Da ist noch viel Luft nach oben.
Der Server hat noch Platz
DR. R.GRALLA: Nach welchen Kriterien wählen Sie Partien für den ChessBase-Computer
aus?
M.WÜLLENWEBER: Publikationswürdig sind offizielle internationale Turniere, aber
auch Landesmeisterschaften. Dazu berühmte Duelle, zum Beispiel von Napoleon.
DR. R.GRALLA: Das Wissen der Welt, einst in der Bibliothek von Alexandria
auf Buchrollen gehortet, ging unter mit ihrer Zerstörung. Kann das bei ChessBase
passieren?
M.WÜLLENWEBER: Der entscheidende Unterschied zur Vergangenheit besteht darin,
dass unsere Informationen heute dezentral an mehreren Punkten gesammelt werden.
Nicht zuletzt bei allen Käufern der Mega Database.
DR. R.GRALLA: Inzwischen beschränken Sie sich aber nicht bloß auf Schach,
sondern haben ein Kompositionsprogramm namens "Ludwig" kreiert. Wollen Sie die
Musikschaffenden arbeitslos machen?
M.WÜLLENWEBER: Das fußt auf unseren Erfahrungen. Anstelle von Partien speichert
"Ludwig" Lieder ab. Wir wollen eine Datenbank aufbauen mit allen Werken, die
nicht dem Copyright unterliegen. Das betrifft vor allem den Folkbereich.
DR. R.GRALLA: Was bringt mir das?
M.WÜLLENWEBER: Sie können Traditionals neu arrangieren, und binnen Sekunden
liefert "Ludwig" dafür die komplette Partitur. Sie können mit "Ludwig" auch
eigene Songs komponieren, das hilft insbesondere im pädagogischen Bereich, um
das Erlernen von Instrumenten spannend zu begleiten. Je nach dem Grad der Fertigkeit,
den der Schüler erlangt hat, können Sie für ihn darauf genau abgestimmtes musikalisches
Material anbieten.
DR. R.GRALLA: Sie sind also nicht allein auf Schach fixiert, Herr Wüllenweber?
M.WÜLLENWEBER: Neben meinem Hauptfach Physik habe ich vier Semester Musik studiert.
Ich spiele Querflöte und Klavier und bin zudem Chorsänger.
Matthias Wüllenweber spielt Querflöte
Mega Database 2009 (ChessBase), Preis: ca. 150,00 Euro
Kompositionsprogramm "Ludwig" (ChessBase), Preis: ca. 50,00 Euro; weitere Infos:
www.komponieren.de