Die Wahrheit über
das MATT DES LEGALL:
EIN KULT-FINALE DER SCHACHGESCHICHTE - UND WIE HINTERHER DARAN KRÄFTIG GEDREHT
WORDEN IST
Text und Interview: Dr. René Gralla
Fotoproduktion: Daniel Blank
Guttenberg ist überall. Selbst im Schach, wo die Aktionen in der
64-Felder-Miniarena doch deutlich sichtbar ablaufen und exakt nachrechenbar
dokumentiert werden, kann heftig geschummelt werden. Einem Riesenschwindel
um einen der berühmtesten Partieschlüsse der Geschichte ist ein 45-jähriger Bio-
und Mathelehrer aus Berlin auf die Spur gekommen. Nachdem sich Stephan Maaß,
der aktuell in Hamburg wohnt und arbeitet, eines Tages gefragt hat, ob beim
legendären "Matt des Legall", das seit dem 18. Jahrhundert durch Lehrbücher und
Fachmagazine geistert, eigentlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Die Irritationen fangen schon mit der Terminologie an. Der schneidige
Partieschluss, in Deutschland auch bekannt als „Seekadettenmatt“, firmiert meist
unter dem Begriff „Matt des Legal“ beziehungsweise „des Légal“, weil sein
Erfinder „Kermur Sire de Legal“ respektive „Légal“ geheißen habe.
Korrekt ist jedoch wahrscheinlich der Name „Legall de Kermeur“, so die Analyse
des französischen Experten Dominique Thimognier unter Berufung auf David Hooper
& Ken Whyld, Verfasser des „Oxford Companion to Chess“. Das britische
Autorengespann hat in Bezug auf diesen wichtigen Punkt sogar direkt vor Ort in
der Stadtbibliothek von Rennes genealogische Recherchen angestellt, das
berichtet jedenfalls Thimognier in seinem kurzen Aufsatz „LEGALL (Sire de
Kermeur)“, der unter dem Link
http://heritageechecsfra.free.fr/legall.htm im Web aufgerufen werden kann.
Besagter LEGALL DE KERMEUR (geboren am 4. September 1702 in Versailles,
gestorben 1792 vermutlich in Paris) war Sohn des französischen Militärs
Francois-René Baron de Legall (1652-1724), der sich vor allem im Spanischen
Erbfolgekrieg (1701-1714) hervorgetan hatte. Doch wie so oft wollte die nächste
Generation von den Taten der Altvorderen nichts wissen: Der Erstgeborene
des gefeierten Generals, Legall de Kermeur, zog das gemütliche Zocken am Brett
und ausgiebigen Genuss von Schnupftabak dem Pulverdampf auf den Schlachtfeldern
vor, wie dem „Oxford Companion to Chess“ zu entnehmen ist. Der adlige
Lebenskünstler war Schachprofi und unangefochtener Platzhirsch im Pariser Café
de la Régence, galt folgerichtig als inoffizieller Weltmeister, bis er 1741 das
hoffnungsvolle Talent Francois-André Danican Philidor zu unterrichten begann.
Und bereits drei Jahre später zum Dank vom Schüler ziemlich respektlos besiegt
und entthront wurde.
Im Café de la Régence
Der schachliche Nachlass des Barons und Bohemiens ist verloren. Mit einer
einzigen Ausnahme, die den Namen LEGALL unsterblich gemacht hat: nachfolgend die
gängige Zugfolge jener Blitzexekution, auf die sich bisher die Mehrheitsmeinung
im Schrifttum verständigt hat.
Ein epochales Matt der Schachgeschichte trägt seinen Namen: Legall de Kermeur
(1702 - 1792)
"MATT DES LEGALL" - Konsens-Version mit 4. ... g6(?!?)
Weiß: Legall de Kermeur
Schwarz: Saint Brie
Paris, angeblich 1750
Philidor-Verteidigung [C41]
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.Lc4 Lg4(??) 4.Sc3 g6(?!?) 5.Sxe5!! Lxd1?? 6.Lxf7+ Ke7 7.Sd5#
1-0
Die vorstehende Fassung des Legall-Matts ist von vielen Nach- und Abschreibern
übernommen worden. Dabei hätte der hartnäckig kolportierte schwarze Zug 4. … g6
(?!?) doch stutzig machen sollen. Schließlich scheint das Vorrücken des g-Bauern
ein Fianchetto des schwarzfeldrigen Lf8 vorzubereiten, aber das wäre ein Motiv,
das vielleicht zu den hypermodernen Revoluzzern im 20. Jahrhundert gepasst
hätte, nicht jedoch zu den müden Salonlöwen im Rokoko.
Der offenkundige Widerspruch hat den Neu-Hamburger Pauker und
Teilzeit-Schachhistoriker Stephan Maaß animiert, persönlich in die Archive zu
steigen. Anschließend hat er das Ergebnis seiner Recherchen unter der
Überschrift "Das musikalisch-schachliche Operetten-Mysterium" ins Netz gestellt
auf der Homepage seines langjährigen Vereins SC Weiße Dame Berlin:
www.sc-weisse-dame.de/kuka3.html
Im CHESSBASE-Interview fasst Stephan Maaß die Ergebnisse seiner Arbeit zusammen.
Dr. René Gralla / CHESSBASE: Sie haben jetzt den Anti-Guttenberg im Schach
gegeben, indem Sie das Finale einer viel zitierten Begegnung aus dem
vorrevolutionären Frankreich unter die Lupe genommen haben.
Stephan Maaß: Wobei damals, als die ominöse Stellung auf das Brett gestellt
worden ist, natürlich noch niemand den späteren Herrn Guttenberg und seine
Causa vorausahnen konnte.
Dr. R.Gralla / CB: Das "Matt des Legall" ist benannt nach seinem Erfinder,
Legall de Kermeur. Der Mann hat sich mit einem verwegenen Damenopfer in den
Annalen verewigt. Allerdings ist das Original nun doch weniger elegant gewesen,
als man das bisher angenommen hat.
S.Maaß: In der realen Partie, die seinerzeit im Pariser Café de la Régence
ausgetragen worden ist, hat Legall seine Königin zum Schlagen angeboten. Aber
wäre der Gegner, ein gewisser Saint Brie, nicht zu gierig gewesen und hätte
sich, statt unüberlegt nach der stärksten Figur auf dem Brett zu schnappen,
begnügt mit einem deutlich schwächeren Springer - der stand nämlich auch en
prise! - , dann hätte nach menschlichem Ermessen der Hasardeur Legall das
Duell verloren.
MATT DES LEGALL - THE REAL THING
Weiß: Legall de Kermeur
Schwarz: Saint Brie
Paris, wahrscheinlich 1787
Läuferspiel mit Übergang ins Dreispringerspiel [C46]
1.e4 e5 2.Lc4 d6 3.Sf3 Sc6 4.Sc3 Lg4 5.Sxe5?!?!? Lxd1??? 6.Lxf7+ Ke7 7.Sd5# 1-0
Dr. R.Gralla / CB : Ein Makel, der den Zeitgenossen - samt vielen, die von
ihnen abgekupfert haben - nicht gepasst hat.
S.Maaß: Die Grundidee von Legall ist frappierend: Der schwarze Monarch wird von
zwei Reitern und einem Läufer in der Mitte des Brettes zur Strecke gebracht,
obwohl Weiß die Dame eingebüßt hat. Um so ärgerlicher ist, dass die Kombination
nicht zwingend ist, sondern ein fatales Loch aufweist, weil sich der
übertölpelte Saint Brie ganz einfach nicht auf den Tanz hätte einlassen
müssen. Daher haben die Kommentatoren vermutlich relativ schnell und
wahrscheinlich noch zu Lebzeiten von Legall das Geschehen geschönt: Sie haben
die real gespielte und quasi "illegale", weil fehlerhafte Zugfolge des Legall de
Kermeur im Nachhinein sozusagen "legal" gemacht. Der Trick: Sie haben relativ
sinnfreie Bauernzüge erfunden und die Partie entsprechend umgedichtet.
Dr. R.Gralla / CB: Und der wahre Verantwortliche, Maître Legall de Kermeur,
hat das stillschweigend gebilligt?!
S.Maaß: Von ihm ist nicht überliefert, dass er sich gegen die Legendenbildung
post festum verwahrt hätte.
Dr. R.Gralla / CB: Mit der Folge, dass die manipulierte Partienotation bis
in die Gegenwart als authentisch gilt, in Lehrbüchern und Datenbanken ...
S.Maaß: ... und die Fälschung wird zur Wahrheit.
Dr. R.Gralla / CB: Wie sind denn nun Sie darauf gekommen, sich eine Story,
die lange niemand hinterfragt hat, einfach mal etwas genauer anzuschauen?
S.Maaß: Auslöser war der Lösewettbewerb einer Schachzeitung. Die Leser sollten
unter anderem den Komponisten jener Operette nennen, in der das notorische
"Seekadettenmatt" vorkommt. Dazu müssen Sie wissen, dass besagtes
"Seekadettenmatt" nichts anderes ist als das in Deutschland gebräuchliche
Synonym für das "Matt des Legall". Als ich dann tiefer in die Quellen
eingestiegen bin, sind mir viele Ungereimtheiten aufgefallen. Und sukzessive
fand ich drei bis fünf Versionen vom "Seekadettenmatt", das in der einschlägigen
Operette - programmatischer Titel: "Der Seekadett" - als Lebendschach vorgeführt
wird.
Dr. R.Gralla / CB: Wie haben Sie am Ende die echte
Zugfolge herausgefunden?
S.Maaß: Kritische Quellenforschung ist der Schlüssel, um sich der Wahrheit
anzunähern. Ich analysiere die Fundstellen und versuche, bei Widersprüchen
abzuwägen: Wer sind die Verfasser? Sind das Vielschreiber, die in schneller
Folge auf Masse publizieren - die können dann doch wohl kaum alles
recherchieren?! Oder arbeiten sie gediegen und gelten als seriös? Entsprechend
bewerte ich die Quellen.
Dr. R.Gralla / CB: Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, dass ein
Legall de Kermeur, der Schachprofi war und zeitweilig als inoffizieller
Weltmeister galt, bei der Komposition seines Mattschlusses selber massiv patzte?
Nachdem Sie Ihre Erkenntnisse im Internet veröffentlicht haben, hat der Autor
der Website Chesscorner.com unter dem Link
www.chesscorner.com/games/fascinating/int4.htm ungenannte
Zeitzeugen zitiert, denen zufolge Legall den ominösen Springer auf f3 - der
zunächst noch die weiße Dame auf f1 gegen den Angriff durch den schwarzen Läufer
g4 abschirmte - , aus Versehen berührt haben soll. Als aber Legall seine Hand
schnell wieder weggezogen habe, sei er an die Regel "Berührt-geführt!" erinnert
worden, und nachdem er länger nachgedacht habe, sei ihm plötzlich der
Harakiri-Dreinschlag mit dem Springer nach e5 eingefallen.
S.Maaß: Ich denke, das war eine provozierte psychologische Falle. Legall war
stark genug, um zu erkennen, wie zweifelhaft sein Angriffsplan war. Aber er war
bereit, das Risiko eines Scheiterns einzugehen, weil das Schlussbild nach dem
Schlagabtausch einfach zu verlockend war. Und Legall war erfahren genug, um
seinen Matchpartner richtig einzuschätzen - dass der sich bluffen lassen
würde. Folgerichtig hat Legall getrickst, um das ersehnte Motiv zu kreieren, und
das hat tatsächlich geklappt.
Dr. R.Gralla / CB: Umstritten bleibt allerdings, wann Legall de Kermeur
und Saint Brie sich derart schicksalhaft begegnet sind. Das soll 1750 gewesen
sein ...
S.Maaß: ... erneut widersprechen sich die Chronisten. 1750 wage ich zu
bezweifeln, wahrscheinlicher ist ein späteres Datum, vermutlich 1787.
Dr. R.Gralla / CB: Übrigens steht auch nicht fest, wer die Operette "Der
Seekadett" um das "Matt des Legall" geschrieben hat.
S.Maaß: Da sind verschiedene Namen im Angebot. Wahrscheinlich hat Richard Genée
das Werk komponiert, aber offen ist, welchen Part sein langjähriger Kompagnon F.
Zell, hinter dem Pseudonym verbarg sich der Schriftsteller Camillo Walzel, hier
übernommen hat. Und sogar die Angaben zur Publikation und Erstaufführung
schwanken, die Bandbreite reicht von 1876 bis 1887.
Dr. R.Gralla / CB: Fazit - auch die Schachszene hat ihre Guttenbergs. Ein
Einzelfall?
S.Maaß: Keineswegs. Wer die Wahrheit liebt und sucht, sollte auch beim
vorgeblich "königlichen" Spiel sehr vorsichtig sein.
Dr. R.Gralla / CB: Wie ist es möglich geworden, dass sich die hemmungslos
retuschierte Version vom Matt des Legall derart lange gehalten hat?
S.Maaß: Weil zu viele Autoren ohne Bedenken voneinander abschreiben. Ohne
Quellenangabe, ohne eigene Forschung. Man liest das irgendwo, und das gibt man
dann in seinem eigenen Werk einfach wieder.
Dr. R.Gralla / CB: Dann ist Bayerns CSU-Freiherr zu Guttenberg, der seine
Doktorarbeit zusammengeschustert hat, wohl gar nicht allein?
S.Maaß: Garantiert nicht. Am Freiherrn zu Guttenberg stört mich deswegen auch
nicht, dass er ein Plagiator ist. Mich stört daran, dass er, als er mit der
Tatsache des Abschreibens konfrontiert worden ist, geleugnet und gedroht hat.
Wer mit der Hand in der Keksdose erwischt wird, kann nicht von sich behaupten,
dass er die Schachtel bloß von innen sauber machen wollte!
Obwohl das echte MATT DES LEGALL nicht ganz so sauber durchkomponiert worden
ist, wie das viele Bewunderer geglaubt haben, hat diese Erkenntnis auch etwas
Tröstliches: Auch vermeintliche Superstars sind oft nur ganz normale Trickser
wie wir Durchschnittspatzer.
Trotzdem ändert das nichts am schachhistorischen Verdienst des Legall de Kermeur.
Sein fabelhafter Fake ist eine Initialzündung gewesen: Mit der Blaupause des
LEGALL im Kopf lauern seitdem die Vollbluttaktiker rund um den Globus auf jede
Chance, blauäugig Ahnungslose à la Café de la Régence abzukochen.
Wo früher der Nabel der Schachwelt war und das MATT DES LEGALL zum ersten Mal
auf's Brett gestellt wurde: Paris, Rue Saint Honoré Nr. 161, die Adresse des
einstigen Café de la Régence in der Gegenwart.
Und oft geht die Aktion dann auch weniger holperig über die Bühne. Das MATT DES
LEGALL, das Islands Oskar Bjarnason dem verdutzten Volkfried Dittler vor gut
zehn Jahren in Bad Wörishofen auftischte, war zweifelsfrei LEGAL.
Vorsicht, auch dieser Mann hat das MATT DES LEGALL im Repertoire: Islands Bad
Wörishofen-Stammgast Oskar Bjarnason (45)
Weiß: Oskar Bjarnason
Schwarz: Volkfried Dittler
22.03.2001, Bad Wörishofen 2001
Linksspringer-Eröffnung mit Übergang in Philidorverteidigung [A00]
1.Sc3 e5 2.Sf3 d6 3.e4 Lg4 4.Lc4 Lh5? 5.Sxe5!! Lxd1 6.Lxf7+ Ke7 7.Sd5# 1-0
Das ist - schlappe 200 Jahre später - ein Remake vom MATT DES LEGALL, das der
Erfinder sicher nur zu gerne hingelegt hätte. Große Ideen brauchen eben ihre
Zeit, um zu reifen.