Das Wissen, das Du jetzt brauchst!
Die neue Version 18 bietet völlig neue Möglichkeiten für Schachtraining und Analyse: Stilanalyse von Spielern, Suche nach strategischen Themen, Zugriff auf 6 Mrd. LiChess-Partien, Download von chess.com mit eingebauter API, Spielervorbereitung durch Abgleich mit LiChess-Partien, eingebaute Cloud-Engine u.v.m..
Das trickreiche Endspiel Turm & Läufer gegen Turm – Beispiele von der Europameisterschaft in Petrovac
Fast jeder Turnierspieler weiß, dass dieses Endspiel – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Remis ist. Ja, wenn man dieses Endspiel verteidigt, muss man aufpassen. Aber in der Regel sollte die Verteidigung nicht allzu schwer sein, insbesondere in den Fällen, wo der eigene König nicht am Rand festgesetzt ist. Das führt häufiger dazu, dass man als Verteidiger in Stellungen mit Minusbauern seine letzte Leichtfigur gegen den oder die letzten Bauern des Gegners opfert, wenn man besagtes Endspiel erreichen kann.
Bei den letzten Europameisterschaften in Petrovac habe ich zwei Partien miterlebt, wo diese Strategie nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat. Daher habe ich beschlossen, mir dieses Endspiel mal genauer anzuschauen. Schauen wir uns daher zunächst einmal besagte Partien von der Europameisterschaft an.
Partien aus Petrovac mit dem Endspiel Turm und Läufer gegen Turm
In der zweiten Runde erreichte Evgenios Ioannidis (2497) als Schwarzer nach langer Verteidigung die folgende Stellung gegen Vladimir Fedoseev (2712):
Ioannidis wählte die Strategie, seinen Springer mittels 68... Sxe3 gegen den letzten weißen Bauern zu tauschen, um so eine theoretische Remis Stellung zu erreichen. Ein kurzer Check mit der Engine zeigt, dass das nicht unbedingt notwendig war (zu mindestens noch nicht). Aber aus menschlicher Sicht macht die Entscheidung durchaus Sinn. Nach dem Springerzug spielte Fedoseev natürlich 69. Te8+, um sich nach 69... Kf5 mittels 70. Txe3 den Springer abzuholen. Nach weiteren zwanzig Zügen wurde folgende kritische Stellung erreicht.
Die Tablebase zeigt an, dass es in dieser Stellung nur noch 3 Züge gibt, die das Remis halten. Am einfachsten ist 88... Ta2, um den weißen König mit Seitenschachs zu belästigen, sobald er sich auf die 6. Reihe begibt. Nach dem in der Partie gespielten 88... Te1 ist die Partie schon verloren, da es Weiß erlaubte nach 89. Le5 Kd8 90. Ke6 die folgende Position zu erreichen:
Es droht Matt auf h8, so dass der schwarze König versuchen muss mittels 90... Kc8 zu fliehen. Das verhindert Weiß aber mittels 91. Tc7+, was den König nach 91... Kd8 zurückzwingt. Danach kommt der Trick, den man kennen muss. Auf den ersten Blick erscheint 92. Tb7 der Gewinnzug zu sein, der Matt auf b8 droht. In Wirklichkeit vergibt dieser Zug den Sieg, da Schwarz nach 92... Tc1 seinen Turm dazwischen ziehen kann.
Man muss also den schwarzen König wieder nach c8 zu zwingen und dann den Turm auf die B-Linie zu bringen. Dann gibt es für Schwarz keine Möglichkeit mehr, den Turm dazwischen zu bringen. Dieses erreicht man, in dem man rechts antäuscht und dann links zuschlägt. Konkret setzt Weiß das durch die Züge 92. Tc3 Te2 93. Th3 um, wonach diese Stellung entsteht:
Das drohende Matt kann nur mittels 93... Kc8 verhindert werden. Dann kommt aber 94. Tb3 und das Matt auf b8 kann nur durch ein Turmopfer aufgeschoben werden. Ioannidis gab daher in dieser Stellung auf.
Was mich an der Partie wunderte, war die Tatsache, wie schnell Schwarz an den Rand gedrängt wurde. Das war aber nicht forciert. Ich denke, wenn Ioannidis 69... Kd5 gespielt hätte, wäre es für Fedoseev sehr schwer geworden, Fortschritte zu erzielen. Ich habe jedenfalls bei meiner Analyse keine Möglichkeiten gefunden, den Schwarzen an den Rand zu drängen. Klar ist auch die Stellung mit dem König am Rand auch noch Remis. Aber dann reicht schon ein Fehler, um die Partie zu verlieren.
Drei Runden später kam in meiner Partie gegen den moldawischen Jugendlichen Igor Volcov (1952) folgende Stellung aufs Brett:
Man ahnt es schon. Schwarz opfert seinen Springer für die beiden Bauern (49.... Sxg5 50. fxg5 Txg5) und Weiß schlägt den f7 Bauern mittels 51. Txf7+ und wir haben wieder unser Endspiel erreicht. Die nächsten knapp 50 Züge habe ich kaum Fortschritte erzielt, so dass wir zwei Züge vor Erreichen der 50 Züge Marke folgende Stellung erreichten:
Zu diesem Zeitpunkt lief die Partie bereits über sechs Stunden, wobei wir beide die letzte Stunde fast nur noch mit dem Inkrement spielten. Verständlicherweise waren wir beide erschöpft. Nur so ist der Zug 98... Kg1 meines Gegners zu erklären. Danach erkannte ich meine Chance mit 99. Th7, worauf mein Gegner die Partie aufgeben musste.
Ich muss gestehen, dass ich mich über diesen Sieg nicht so richtig freuen konnte. Mein Gegner hatte das Endspiel fast 50 Züge lang gut gespielt. Ich hatte auch den Eindruck, dass er sich aktiver verteidigt hatte als Ioannidis in der ersten Partie. Jedenfalls ist es mir vor der oben gezeigten Stellung nicht gelungen, meinen Gegner am Rand festzusetzen. Ein dummer Patzer am Ende hat ihn dann um die Früchte seiner harten Arbeit gebracht. So grausam kann nur Schach sein.
Wie sieht die Statistik zu diesem Endspiel aus?
Nach Beendigung des Turniers habe ich mir alle verfügbaren Partien (Quelle: https://en.chessbase.com/post/european-championship-in-montenegro-live) heruntergeladen und anschließend in Chessbase nach der Materialkonstellation Turm & Läufer gegen Turm (mit beiden Farben) gesucht und war sehr überrascht, dass ich vier weitere Partien mit dieser Materialverteilung finden konnte. Von den vier zusätzlichen Partien konnte die schwächere Partei drei Partien Remis halten, eine Partie wurde gewonnen.
Materialsuche (die Suche muss zusätzlich mit umgekehrten Farben wiederholt werden; die Position der Figuren auf dem Brett ist nicht relevant)
Insgesamt enthält der Download ca. 1.500 Partien von der Europameisterschaft. Meine oben gezeigte Partie ist nicht darunter, da sie an einem der hinteren Bretter ohne automatische Zugerfassung gespielt wurde. Daher wird sie bei den folgenden Berechnungen nicht berücksichtigt.
Wir haben also 1.500 Partien, in denen das Endspiel fünfmal vorkam (2 Siege, 3 Remis), also in jeder 300. Partie. Das ergibt eine Quote von 0,33%. Rechnet man dann aber noch ein, dass dieses Turnier über 11 Runden ging, so lag die Wahrscheinlichkeit dieses Endspiel im Turnier einmal auf das Brett zu bekommen für jeden Teilnehmer schon fast bei 4%. Das hat mich doch sehr überrascht, da ich mich nicht erinnern kann, ein solches Endspiel in den letzten 20 Jahren z.B. in Mannschaftskämpfen gesehen zu haben.
Ich habe deshalb eine Auswertung über alle Partien in meiner Datenbank aus dem Jahr 2023 erstellt. Von den 649.010 gefundenen Partien kam das Endspiel in 838 Partien vor. Die Quote liegt – grob gerechnet – dann bei 0,12%, also nur ein Drittel der Quote bei der Europameisterschaft und eher in dem Bereich, den ich erwartet hatte.
Daraufhin habe ich mir auch noch die Partien der Europameisterschaften aus dem Jahr 2023 angeschaut. Dort findet man dieses Endspiel auch fünfmal. Es ist schwierig die Gesamtzahl der Partien als Vergleichsgröße zu ermitteln. Insgesamt finde ich in meiner Datenbank zu diesem Turnier ca. 2.600 Partien. Allerdings sind sehr viele Partien nur fragmentarisch (teilweise nur die ersten 10 Züge) erfasst worden und dürften daher nicht mitgerechnet werden. Also würde ich eher von 2.000 relevanten Partien ausgehen. Das bedeutet, hier lag die Wahrscheinlichkeit, das Endspiel in einer der elf Runden auf das Brett zu bekommen bei knapp 3%. Von den fünf Partien mit diesem Endspiel wurde nur eine gewonnen.
Es scheint also der Fall zu sein, dass dieses Endspiel bei den Europameisterschaften deutlich häufiger auf das Brett kommt als in anderen Turnieren. Als Gründe hierfür sehe ich:
Die Partien auf den Europameisterschaften werden voll ausgekämpft. Auch remisliche Endspiele werden bis zum nackten König gespielt.
Es wird ein hoher Aufwand in die Erfassung der Partien gesteckt. Bei der Europameisterschaften 2023 wurden noch sehr viele Partien manuell erfasst. Dieses Jahr wurde, wie auf der folgenden Abbildung zu sehen ist, an fast 150 Brettern die Züge auf den DGT-Brettern automatisch erfasst. So ist sichergestellt, dass auch Partien mit mehr als 100 Zügen noch komplett erfasst werden. Ich vermute, dass bei der manuellen Erfassung von Partien in anderen Open oder Mannschaftskämpfen häufig der Punkt erreicht wird, wo die Züge nicht mehr nachvollzogen werden können und daher die Partien mit Kommentaren wie “Weiß gewann im 101. Zug” abgeschlossen werden.
DGT-Bretter mit automatischer Zugerfassung bei der Europameisterschaft 2024
Übrigens kam das berüchtigte Endspiel König & Läufer & Springer gegen König in beiden Europameisterschaften insgesamt nur einmal vor. In dieser Partie hat die stärkere Seite es nicht geschafft zu gewinnen.
Zusammenfassung
Das Endspiel scheint deutlich häufiger vorzukommen als man denkt. Es lohnt sich auf jeden Fall, das Endspiel als stärkere Seite auszuspielen. Bei den letzten beiden Europameisterschaften lag die Erfolgsquote der stärkeren Seite bei 30%.
Steht die schwächere Seite vor der Entscheidung, ob sie eine Figur für den letzten Bauern des Gegners opfern soll, ist es nicht einfach, eine Empfehlung abzugeben. Wenn man die Prinzipien des Endspiels nicht kennt und trifft auf einen Gegner, von dem man vermutet, dass der sich darin auskennt, dann ist die Gefahr einer Niederlage sehr groß. In dieser Situation sollte man prüfen, ob nicht auch eine andere Verteidigung möglich ist.
Wenn man keine Wahl hat und in dieses Endspiel gehen muss, sollte man die sogenannte Cochrane-Stellung kennen. Dvoreckij [Dvoreckij 2006] gibt dafür die folgende Beispielstellung an:
Zu beachten ist, dass diese Verteidigung nicht am Rand funktioniert. Wichtig ist auch, dass zwischen den Königen mindestens zwei Felder Platz sind. Wenn dann der schwarze Turm den weißen Läufer auf der auf der 3.-6. Reihe (bzw. auf den Linien c-f) von hinten fesselt, ist die Cochrane- Position erreicht.
Hat man diese erreicht, so sollte sich der verteidigende König möglichst immer von dem anderen König wegbewegen. In der Diagrammposition würde Schwarz nach 1.Ke5 mit Kh3 antworten. Sollte Schwarz im weiteren Verlauf die Chance haben, sich z.B. durch die Drohung die Türme zu tauschen vom Rand zu befreien, so sollte er diese Chance nutzen. Mit diesen Grundprinzipien hat man dann gute Chancen, das Remis zu erreichen. Aber eine Garantie ist das noch nicht.
Ich hatte sowohl in meiner Partie als auch in der Partie Fedoseev gegen Ioannidis den Eindruck, dass die Schwarzspieler sich so verteidigen wollten. Während es meinem Gegner sich lange Zeit gut mit dieser Strategie verteidigen konnte, ist Ioannidis nie in die Cochrane Stellung gekommen. In der kritischen Stellung war der Abstand zwischen den Königen zu gering. Er hätte daher eine andere Verteidigung finden müssen, was ihm nicht gelang.
Referenzierte Partien und Stellungen
Verwendete Quellen
[Dvoreckij 2006] Dvoreckij, M. (2006). Die Endspieluniversität: Essentielles Endspielwissen für Amateur und Profi (3. Aufl.). Chessgate.