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Mannheim 1914 - Schach und Krieg
Das unvollendete Turnier - Der 19. Kongreß des Deutschen
Schachbundes (DSB)
Von Hans-Dieter Müller
Seit der Gründung des Deutschen Schachbundes DSB im Jahr 1877 wurden in der
Regel im Abstand von zwei Jahren die Mitgliederversammlungen (Kongresse)
abgehalten. Die hierbei veranstalteten oft internationalen Turniere stellten
seinerzeit den Höhepunkt des Schachlebens in Deutschland statt und erfreuten
sich auch im Ausland großer Beliebtheit. Zur Austragung kamen ein
"Meisterturnier", zu dem nur Teilnehmer, die den "Meistertitel des Deutschen
Schachbundes" (der auch von Ausländern erworben werden konnte) trugen, oder
deren "Meisterstärke allgemein anerkannt" war sowie ein "Hauptturnier" dessen
Sieger den besagten Meistertitel erhielt, und diverse Nebenturniere für alle
Spielklassen.
Im Jahr 1914 war die süddeutsche Handelsmetropole Mannheim als Austragungsort
des 19. Kongresses des DSB vorgesehen.
Mannheim - Paradeplatz zur Zeit des Turniers
Der DSB hatte 1914 etwa 5000 Mitglieder (zum Vergleich heute: ca. 90.000), die
in 182 Vereinen organisiert waren sowie auch 135 "Einzelmitglieder" und stand
finanziell gut da. Seit 1901 war Professor Rudolph Gebhardt (*1859) Vorsitzender
des DSB.
Der Mannheimer Schachklub von 1865 wollte mit der Austragung seine
Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum einleiten und die Voraussetzungen
konnten nicht besser sein: Idealere Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten, als sie
das versteckt im Schlossgarten gelegene "Ballhaus" mit seinen großen und kleinen
Sälen, seiner Terrasse und seinem schattigen Garten bot hätten sich für den
Kongress kaum finden lassen.
Seltsam mag es aus heutiger Sicht anmuten, dass auch sämtliche Spieler, selbst
große Meister, die an der Teilnahme am Internationalen Meisterturnier
interessiert waren, einen Antrag auf Zulassung zu stellen und einen Einsatz
(sprich Startgeld) zu entrichten hatten. Der Ausrichter traf dann in Abstimmung
mit dem DSB die Entscheidung über die Zulassung. Schließlich wurden jeweils 18
Teilnehmer sowohl für das Meisterturnier wie auch für das Hauptturnier
zugelassen, die natürlich - wie damals üblich - vollrundig ausgetragen wurden.
Die Bedenkzeit sollte 30 Züge in 2 Stunden und dann 15 Züge pro Stunde betragen.
Verärgerung hatte im Vorfeld das Verhalten der Großmeister Richard Teichmann und
Akiba Rubinstein ausgelöst. Teichmann hatte in letzter Sekunde telegraphisch
abgesagt, während Rubinstein erst zusagte, dann seine Teilnahme von der
Gewährung eines Extrahonorars in Höhe von 500 Goldmark abhängig machte, nach der
Ablehnung aber nicht mehr reagierte.
Im Meisterturnier am Start waren schließlich folgende Teilnehmer:
Aus Österreich-Ungarn:
Dr. Milan Vidmar, Richard Reti, Dr. Savielly Tartakower, Rudolf Spielmann,
Oldrich Duras, Gyula Breyer
Aus Russland:
Alexander Aljechin, Jefim D. Bogoljubow, Dawid Janowski, Alexander Flamberg
Aus Deutschland:
Dr. Siegbert Tarrasch (Nürnberg), Walther John (Breslau), Paul Krüger (Hamburg),
Carl Carls (Bremen), Ehrhardt Post (Berlin) und Jacques Mieses (Leipzig)
Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (USA): Frank James Marshall
Aus der Schweiz: Hans Fahrni
Für Montag, den 20. Juli 1914 war der Beginn
des Turniers festgesetzt. Am vorhergehenden Sonntag fand die Auslosung und im
Anschluss die Mitgliederversammlung des DSB statt. Auf der Tagesordnung stand
als wohl interessantester Punkt die Debatte über die Gründung einer
"Internationalen Schachorganisation", dessen Keimzelle außer dem DSB der "Allrussische
Schachverband" sein sollte, dessen Vorsitzender Saburow auch in Mannheim
anwesend war. Die Frage nach der Regelung der Weltmeisterschaftskämpfe sollten
diesem Verband dann obliegen, sowie auch die Unterstützung "notleidender
Meister". Die Meinungen gingen auseinander zumal auch von weiteren ausländischen
Verbänden bisher keine Zustimmung signalisiert worden war. Ehrhardt Post
(Berlin), selbst Teilnehmer im Meisterturnier, der in späterer Zeit
Geschäftsführer des "Großdeutschen Schachbundes" werden sollte, hielt eine
solche Organisation für "überflüssig". Sie "bringe nichts für das deutsche
Schach". Er machte sich zum Wortführer einer Gruppierung, die eine Umwandlung
der Kongressturniere in rein nationale Meisterschaften befürwortete und
anstrebte.
Fast auf den Tag genau 10 Jahre später in einer mittlerweile veränderten Welt
wurde mit der Gründung der FIDE in Paris dann die Internationale
Schachorganisation aus der Taufe gehoben.
Am Abend folgte der Versammlung das damals übliche Festbankett im großen
Festsaal des Ballhauses.
Im Meisterturnier setzte sich sofort der 22-jährige Russe Alexander Aljechin an
die Spitze, der vor Ehrgeiz brannte und bereits vier Wochen vor Turnierbeginn
angereist war. Der nachmalige Weltmeister hatte, obwohl zweitjüngster Teilnehmer
(nach Breyer *1894), bereits einige beeindruckende Resultate vorzuweisen, so den
ersten Platz in Stockholm 1912 und in Scheveningen 1913 und beim
Großmeisterturnier in Sankt Petersburg im Frühjahr 1914 den dritten Platz hinter
Lasker und Capablanca sowie den mit Nimzowitsch geteilten 1./2. Platz bei der "Allrussischen
Meisterschaft" 1914.
Den ersten Sieg im Turnier konnte aber Rudolf Spielmann landen, der den Russen
Flamberg in nur 15 Zügen überrollte:
Spielmann,Rudolf - Flamberg,Alexander Dawidowic [C29]
DSB-19.Kongress Mannheim (1), 20.07.1914
[Spielmann]
1.e4 e5 2.Sc3 Sf6 3.f4 d5 4.fxe5 Sxe4 5.Sf3 Lg4 6.De2 Sc5 7.d4 Lxf3 8.Dxf3 Dh4+ 9.g3 Dxd4 10.Le3 Dxe5 11.0-0-0 c6 12.Sxd5! cxd5 13.Txd5 De6 [13...De4 14.Lb5+ Sc6 15.Lxc5 Dxf3 16.Lxc6+ bxc6 17.Te1+ Le7 18.Txe7+ Kf8 19.Txa7+ Kg8 20.Txa8#; 13...Dc7 14.Lf4 Db6 (14...Da5 15.Lb5+ Dxb5 16.Te1+ Le7 17.Txe7+ Kxe7 18.De3++-; 14...Dc8 15.Lxb8 Txb8 16.Lb5+ Ke7 17.Te1+ Se6 18.Da3+ Kf6 19.Tf1+ Kg6 20.Dd3+ Kh6 21.De3+ g5 22.Txg5 Sxg5 23.Tf6+ Kh5 24.Le2++- Spielmann) 15.Lxb8 Txb8 16.Df4 Tc8 17.Lb5+ Dxb5 18.Te1+ Le7 19.Txe7+ Kxe7 20.Dd6+ Ke8 21.Te5++- Spielmann] 14.Lc4 De4?
(Stellung nach 14...De6-e4)
15.Lxc5 [15.Lxc5 Dxf3 16.Te1+ mit undeckbarem Matt] 1-0
Spielmann konnte ebenso wie sein Landsmann
Milan Vidmar als einziger mit Aljechins Tempo Schritt halten, lag nach der
sechsten Runde sogar mit einem halben Punkt in Front, nachdem Aljechin gegen
seinen Landsmann Janowski, den Kürzeren gezogen hatte, dem er bereits in
Scheveningen 1913 unterlegen war:
Janowski,D - Alekhine,A 1-0
Alexander Aljechin (*1892) im Jahr 1914
Demgegenüber hatte der ehemalige Weltmeisterschaftskandidat und Turniersenior
(mit 52 Jahren), Dr. Siegbert Tarrasch, mit einer Doppelnull (gegen John und
Spielmann) den schlechtesten Start aller Teilnehmer erwischt. Er kam dann auch
nicht mehr so recht in Schwung und konnte sich nur noch bis ins Mittelfeld
vorarbeite. In Aljechin hingegen setzte die Niederlage offenbar zusätzlichen
Ehrgeiz frei, so dass er fünf Partien in Serie gewann, darunter in der neunten
Runde auch gegen Tarrasch.
Diese Partie kommentierte er 15 Jahre später in seinem Buch "Meine besten
Partien 1908-1923":
Der Turniersaal
Europa in der Krise
Mittlerweile hatte sich die politische Lage
in Europa erheblich zugespitzt und konnte nicht mehr einfach ignoriert werden:
Europa 1914
Europa, gezeichnet von W.Trier
Europa hatte sich 1914 daran gewöhnt, dass
eine Krise der nächsten folgte. Ursache waren die machtpolitischen Gegensätze
der Großmächte. Als Pulverfass galt zuallererst der Balkan. Dort hatten sich
erst wenige Jahre zuvor nach jahrhundertelanger türkischer Herrschaft
selbstständige Staaten etabliert. Das ehemals türkische, hauptsächlich von
Südslawen bewohnte Gebiet von Bosnien-Herzegowina war an den Vielvölkerstaat
Österreich-Ungarn gefallen und von diesem im Jahr 1908 seinem Staatsgebiet
einverleibt worden. Dies hatte eine ernsthafte Krise ausgelöst und ständigen
Konfliktstoff insbesondere mit Serbien, dass das Gebiet für sich beanspruchte
und der Großmacht Russland herbeigeführt, wo, wie auch in Serbien die Ideologie
des "Panslawismus" weit verbreitet war.
Am 28. Juni 1914 (also drei Wochen vor Beginn des Mannheimer Turniers) war in
der bosnischen Hauptstadt Sarajewo der österreichische Thronfolger und seine
Ehefrau dem Mordanschlag einer bosnisch-serbischen Untergrundbewegung zum Opfer
gefallen, die in ihm den "Vertreter des österreichisch-ungarischen
Imperialismus" sah. In Österreich-Ungarn sah man die Verantwortung in Serbien
(tatsächlich war der serbische militärische Geheimdienst in das Attentat
verwickelt) und strebte einen "chirurgischen Schnitt", einen begrenzten
Militärschlag gegen Serbien an. Im Vertrauen auf die Rückendeckung durch die
Bündnispartner Deutschland (damals die stärkste Militärmacht der Welt) und
Italien. Nach einem für Serbien nicht annehmbaren Ultimatum folgt am 28. Juli
1914 die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.
Zu diesem Zeitpunkt wurde in Mannheim die siebte Runde ausgetragen. Der Prager
Hrdina, der im Hauptturnier A gespielt hatte, reiste ab, nachdem er seine
Einberufung erhalten hatte. Das Turnier wurde fortgesetzt.
Die Krise verstärkte sich immer weiter, Russland trat an die Seite Serbiens, ein
Automatismus der Bündnisverpflichtungen beginnend mit allgemeiner "Mobilmachung"
kam in Gang, der ganz Europa in den Krieg zog.
Das Turnier wird abgebrochen
Als am 1. August 1914 nach Austragung der elften Runde die "Mobilmachung" (d.h.
Einziehung von Reservisten, Vorbereitung auf den Kriegszustand) bekannt gegeben
wurde, stand die Notwendigkeit fest, das Turnier abzubrechen. Um 19 Uhr erfolgte
bereits die Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Der Turnierleiter Hermann
Römmig legte sein Amt nieder und reiste als Reservist sofort zu seiner Einheit
ab. Das Turnier betreffend wurden allerlei skurrile Vorschläge gemacht, so etwa
das Turnier in der neutralen Schweiz fortzusetzen. Tarrasch regte an, es einfach
um ein Jahr zu vertagen, in der Annahme, dass der Krieg dann natürlich vorbei
sei.
Schließlich wurde festgesetzt, dass die Spieler gemäß ihrem Punktestand zwar
nicht die vollen Preise jedoch eine "Entschädigung" erhalten sollten.
Savielly Tartakower 1915 als Leutnant der österreichisch-ungarischen Armee mit
Kriegsauszeichnungen
Somit erhielt Aljechin 1100 Mark, Vidmar 850, Spielmann 600, Breyer, Marshall
und Reti je 375, Janowski 250, Bogoljubow und Tarrasch je 180 Mark, alle übrigen
100 Mark. Nach heutiger Kaufkraft entsprächen die Beträge heute etwa dem
10-fachen in Euro, Aljechin hätte somit einen "Trostpreis" von 11.000 Euro
erhalten.
Die letzten Wochen hatten für die Teilnehmer und Gäste im Mannheimer "Ballhaus"
ganz im Zeichen des Schachs gestanden. Während des Turniers hatte nicht nur dort
schachlicher Hochbetrieb geherrscht: allabendlich war das Café "Börse" am
Paradeplatz (siehe erstes Foto oben) das Eldorado all derer, die nie genug
kriegen können. Jetzt plötzlich spielte das alles keine Rolle mehr. Das
"Ballhaus" erhielt "Einquartierung", d.h. eine Militäreinheit wurde in den
Räumlichkeiten untergebracht.
Die elf russischen Teilnehmer der Turniere waren plötzlich "feindliche
Ausländer" und wurden in Gefängnisse verbracht. Aljechin landete zunächst in der
Hauptwache in Mannheim, dann im Militärgefängnis Ludwigshafen, dann in Rastatt
und schließlich in Baden-Baden. In Rastatt "saß" er gemeinsam mit Bogoljubow,
Rabinowitsch und "einem gewissen Weinstein". Da kein Schachbrett vorhanden war,
wurde stundenlang "blind" gespielt. Schließlich wurden die russischen Meister
gemeinsam in Triberg im Schwarzwald interniert. Bogoljubow heiratete dort ein
Mädchen aus dem Ort und blieb Zeit seines Lebens in Triberg wohnhaft.
Verwendete Quellen:
Aljechin, A: Meine besten Partien 1908-1923, Berlin und Leipzig 1929
Deutsche Schachblätter Juli-September 1914
Deutsches Wochenschach Juli-August 1914
Ehn,M. (Hrsg): Rudolf Spielmann: Portrait des Schachmeisters in Texten und
Partien, Koblenz 1996
Lauterbach,W.: Mannheim 1914, Rau-Verlag 1964
Vidmar,M: Goldene Schachzeiten: Erinnerungen, Berlin: de Gruyter 1961