Debüt in Wijk aan Zee: Volodar Murzin

von Thorsten Cmiel
11.02.2022 – Volodar Murzin war der jüngste Teilnehmer beim Tata Steel Turnier. Der 15-Jährige gilt als größtes Talent in Russland und spielte im Challenger Turnier. Thorsten Cmiel hat seine Partien beobachtet und lädt zum Mitlösen der Probleme ein, denen Murzin in seinen Partien begegnete. | Fotos: Lennart Ootes (Tata Steel Chess)

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Debüt in Wijk. Volodar Murzin, Jahrgang 2006.

Volodar Murzin ist bereits Internationaler Meister und eines der größten Talente aus Russland. Geboren wurde er am 18. Juli 2006 in Nischni Tagil, einer Stadt im Ural. Er lebt inzwischen in Chimki, nordwestlich von Moskau. Die erste Partie in der Mega-Datenbank kennt den jungen Russen mit knapp acht Jahren und einer Wertzahl von über 2000 Ratingpunkten. Volodar gewann 2018 die U12-Europameisterschaft in Riga. Im letzten Jahr gehörte er zum Team Polgar in der „Julius Bär Challengers Tour“. Wegen seiner guten Ergebnissen wurde  vermutlich erstmals ein breiteres Publikum auf Volodar aufmerksam. In diesem Jahr folgte die Einladung in die Niederlande. Im ebenfalls inzwischen legendären Tata Steel Challengers spielen regelmäßig talentierte junge Spieler, die oft in ihrer Entwicklung noch am Anfang stehen.

Das Challengers 2022 bot Chancen auf eine Titelnorm in einem stark besetzten Großmeister-Turnier mit einem Elo-Durchschnitt von 2561. Bei dieser Rating-Betrachtung ist Volodars eigene Wertzahl mit dabei. Der Durchschnitt der Ratingzahlen seiner Gegner betrug 2564. Ein Ergebnis von +2 war über das Gesamtturnier gesehen erforderlich für das gewünschte Großmeisterresultat.

Leider ist über die jungen Spieler wenig mehr zu erfahren. Die Organisatoren führten kein öffentliches Interview mit ihm, was bei Volodar an fehlenden englischen Sprachkenntnissen liegen könnte. Vielleicht besitzen die jüngsten Spieler in Wijk zudem eine Art Welpenschutz und müssen nicht zu den Sieger-Interviews. Der jüngste Teilnehmer im Feld, der Franzose Marc Andria Maurizzi, ist bereits Großmeister, immer noch erst 14 Jahre alt und bisher der jüngste französische Großmeister aller Zeiten. Von ihm existieren ebenfalls keine dokumentieren Interviews der Organisatoren in Wijk aan Zee.

Video von Chessbase India

 

Turnierverlauf

Kommen wir zum Spiel von Volodar. Der junge Russe spielte in Wijk 2022 mehrfach längere bekannte Varianten. In zwei Partien (Runde 1 und 12) unterliefen dem Youngster überraschend grobe Fehler in dieser Phase. Man kann nur spekulieren wie es dazu kam: zu schnelles Spielen, Verwechseln von Varianten, Nervosität. Volodar und seine Coaches dürften diese Schwäche bald adressieren. Keiner der Eröffnungsfehler führte letztlich zum Verlust. Seine Gegner (Daniel Dardha und Max Warmerdam) bemerkten ihre große Chance entweder nicht oder konnte keine rechnerische Lösung finden.

Betrachtet man sämtliche Partien von Volodar über das gesamte Turnier, dann wird man wohl zu dem Ergebnis kommen, dass er viele gute Chancen (gegen Jumabayev, Nguyen, Ganguly) ausgelassen hat. Die Niederlage gegen Lucas Van Foreest ist völlig unerklärlich. Er opferte völlig überraschend auf e3 einen Läufer und verlor in der Folge recht klar. Neben dem Sieg in der Startrunde gewann der junge Russe ebenfall seine Schlusspartie. Das Ergebnis liegt mit Plus Eins einen halben Punkt unter der gewünschte Grßmeister-Norm. Aber: Bis zur zehnten Runde erzielte Volodar ein Ergebnis von +1 gegen einen Gegnerschnitt von gerundet 2567. Schaut man in die aktuellen Titelbestimmungen, dann entspricht dieses Ergebnis von sieben Punkten bei 13 Runden einer Großmeister-Norm. Das ist bekanntlich hier ohne Gewähr bis der Weltschachbund das Resultat irgendwann anerkennt.

Partien und Situationen

Betrachten wir einige interessante Stellungen aus den Partien von Volodar Murzin in Wijk aan Zee 2022. Die Lösungen finden sich in den Kommentaren der Partien und am Ende des Beitrags in Kurzform.

Die erste Stellung ist aus der Spanischen Eröffnung entstanden, einem festen Bestandteil von Volodars Repertoire. Zuletzt hatte Polina Shuvalova hier ihren h-Bauern nach h6 gezogen. Wie sollte Weiß jetzt fortsetzen?

Diagramm 1

 

1. Volodar vertreibt hier mit 17.f3 den Springer aus dem Zentrum und setzte nach 17….Sg5 nach vorheriger Vorbereitung (Sg3) später mit seinem f-Bauern weiter nach. Einige Züge später stand der Bauer auf f6 und betätigte sich als Sargnagel.

 

In der zweiten Stellung aus derselben Partie ist ebenfalls Weiß am Zuge. Wie kann der Angriff fortgesetzt werden? Volodar spielte hier 28.Kh1. Was ist davon zu halten?

Diagramm 2

 

2. Der von dem jungen Russen hier gespielte Königszug nach h1 ist erkennbar zu langsam. Er sollte mit dem Damenschach auf g4 beginnen und schnell den Bauern auf h6 zum Hauptangriffsziel erklären.

 

In der Partie aus der fünften Runde gegen den indischen Dominator Arjun Erigaisi war hier Schwarz in einem Turmendspiel am Zuge. Wie ist die Stellung einzuschätzen und wie sollte Volodar hier spielen?

Diagramm 3

 

3. Gegen Arjun Erigaisi hatte Volodar früh schlecht gestanden. Der Inder setzte jedoch nicht genügend nach und Volodar hatte zwischendrin das Kommando übernommen. Später dann stand er erneut im Turmendspiel auf Verlust, konnte allerdings nach einer erneuten Wendung hier mit dem Zug 56….Te8 Ausgleich erzielen. Der Turm bekommt von e8 mehr Beinfreiheit, um Schachs auf den Linien geben zu können und vor allem kann der schwarze König, der von seiner Deckungsaufgabe befreit wird, später aktiv werden (c6-b5).

 

Die Partie gegen Thai Dai Van Nguyen war ein Theorieduell bis Zug 27. Schwarz gibt eine Figur für mehrere Bauern und bekommt vom Rechner die dreifache Null genannt. In einer praktischen Partie ist solch ein asymmetrisch verteiltes Material ein große Herausforderung. In der Partie hatten beide Spieler Gewinnchancen. Volodar ist mit Weiß am Zuge. Es gibt drei grundsätzlich Konzepte die Stellung zu behandeln:% Er kann seinen attackierten Springer ziehen, mit einem Turmzug den Springer decken (Tg1) oder auf d5 schlagen. Was ist hier die beste Wahl?

Diagramm 4

 

4. Hier glaubten beide Spieler, dass Weiß den Springer auf g3 aufgeben muss. Volodar ließ sich nach einer drastischen Entscheidung mit 33.Kxd5 auf ein letztlich gleiches Rennen ein. Die richtige Idee war es, den Springer mit Tg1 zu decken und nach späterem h5-h4 den Springer auf h1 zu parken, um so die gegnerischen Bauern zu blockieren. Derweil wird der weiße König über die Route e5-d6-c7-b7 den gegnerischen a-Bauern erobern. Springerzüge nach h1 oder f1 kamen ebenfalls in Betracht, sind aber gegenüber Tg1 weniger stark. Die Enginebewertung deutet auf eine weiße Gewinnstellung hin.

 

Die fünfte Stellung stammt aus der Partie gegen den indischen Großmeister Surya Ganguly. Was sollte Volodar mit Schwarz hier spielen? Er fand leider nicht die stärkste Fortsetzung. Aber welcher Zug ist gemeint?

Diagramm 5

 

5. Der offensichtliche Zug ist hier richtig. Schwarz sollte mit seinem Springer auf c3 den gegnerischen Läufer schlagen und danach mit d5-d4 nachsetzen. Weiß kann wegen des ungedeckten Bauer auf e5 nicht auf sein Wunschfeld e4 ziehen und Schwarz übernimmt die Initiative mit einer Kombination aus Turmaktivieren auf a5 und dem Springermanöver Sb8-a6. Anmerkung: Die Route Sc5-a6 ist mit einem Turm auf a5 ist wegen b3-b4 nicht gangbar. Manchmal kommt auch c6-c5 und Sb8-c6 in Betracht.

 

In der sechsten Position ist Volodar mit Weiß am Zuge. Er fand einen guten Weg seine Stellung zu verstärken. Wie?

Diagramm 6

 

6. Hier fand Volodar das starke positionelle Manöver Se2-g1 mit dem späteren Zielfeld e5.

 

Gegen Rinat Jumabayev ist hier Volodar mit Schwarz nach einer zuvor interessanten, lange Zeit schlecht stehenden Partie am Zuge. Schwarz kann mit wenig restlicher Bedenkzeit auf a5 nehmen, oder was machen? Was ist empfehlenswert und was ist von Sxa5 zu halten?
 

Diagramm 7

 

7. Schwarz kann mit 35….e6-e5 einen Freibauern bilden. Die weißen Türme können danach auf der achten Reihe wenig ausrichten und der Turmtausch auf der a-Linie verspricht wenig. Der Springer stand hervorragend auf c4. Nach 35….Sxa5 folgte nach 36.Tg7 Kf7 37.Tgd8 dreimalige Stellungswiederholung.

 

In der Partie gegen den Dänen Jonas-Buhl Bjerre (Weiß) liegt der junge Russe einen Bauern hinten? Wie6 ist die Stellung zu bewerten? Volodar steht vor seinem 31. Zug. Wer hat einen Vorschlag?

Diagramm 8

 

8. Die richtige Idee besteht darin, die Blockadestellung mit 31...Tc4 auszubauen. Dieser Zug richtet sich vor allem gegen das Aktivieren des Springer via e4. Nach 31….Tc2 32.Td3 De6 verbesserte Weiß seine Stellung und die Initiative von Schwarz ging verloren.


Fazit

Das diesjährige Turnier zeigt, dass Volodar Flüchtigkeitsfehler dringend ausmerzen muss. Mit Weiß zieht der Russe bisher praktisch immer seinen Königsbauern vor, vielleicht die einzige prinzipielle Baustelle für den angehenden Großmeister. Mit Schwarz gehören wie bei Vincent Keymer Caro-Kann und der Najdorf-Sizilianer zu seinem Repertoire. Gegen den Damenbauern spielt er entweder Slawisch oder Königsindisch. Für seine Gegner ist diese schon ordentliche Breite seines Repertoires ein Problem bei der Vorbereitung.

Volodar kann mit seinem Turnier zufrieden sein. Eine Großmeister-Norm wäre ein erster großer Schritt in seiner Karriere. Sofern in 2022 genügend Turniere stattfinden, sollte es niemanden verwundern, falls der Russe im kommenden Jahr als Großmeister wieder teilnimmt. Vielleicht gibt es dann Interviews und etwas mehr biografische Informationen über ein herausragendes Talent.

 

Partien

 

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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