Demchenko ist Europameister, Vincent Keymer ist Vize-Europameister

von André Schulz
06.09.2021 – Nach einem erstklassigen Turnier wurde Vincent Keymer bei der Europameisterschaft in Reykjavik Zweiter, punktgleich mit dem Sieger Anton Demchenko, aber mit der schlechteren Zweitwertung. Niclas Huschenbeth, Matthias Blübaum, Daniel Fridman und Rasmus Svane qualifizierten sich für den World Cup. | Fotos: Turnierseite

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Die Europameisterschaft 2021 wurde vom isländischen Schachverband ausgerichtet und fand in Reykjavik statt. Traditionell wird der Wettbewerb als "Open" mit einer großen Anzahl von Teilnehmern gespielt. Gegensätzlicher können Turniere eigentlich nicht sein: Die Weltmeisterschaft wird als Zweikampf Mann gegen Mann ausgetragen. Die Europameisterschaft ist eine Massenveranstaltung mit bisweilen Hunderten von Teilnehmern.

Seitdem der Schweizer Lehrer Julius Müller 1895 ein Paarungssystem für Schachturniere mit großen Teilnehmerzahlen entwickelt hat, das "Schweizer System", ist man hier im Verlauf von 125 Jahren Schachgeschichte nicht viel weiter gekommen. Im Prinzip wird das Turnier immer noch nach dem gleichen Prinzip gespielt. Bei 180 Teilnehmern wie in Reykjavik, oder auch mehr, sind elf Runden, bei anderen Open werden auch nur 9 oder 7 Runden gespielt, zu wenig, um für eine leistungsgerechte Platzierung zu sorgen. Die erste, zweite und manchmal dritte Feinwertung entscheiden bei Punkgleichheit über den Endrang. Im Tabellen-Niemandsland mag das egal sein, aber nicht, wenn es um Preise, Tiel oder Qualifikationen geht. Das Zweitwertungs-System sorgt bisweilen für kuriose Situationen: Bei einigen Schacholympiaden der jüngeren Zeit war auch nach Ende der Spitzenspiele einige Zeit nicht klar, wer Gold gewonnen hat, weil die "Weihnachtsinseln" (um irgendeinen Phantasieverband anzugeben und niemanden zu diskriminieren) ihren Wettkampf noch nicht beendet hatten, der aber entscheidend für die Sonderwertung war.

Vielleicht könnte man sich bei der Vergabe eine Titels "Europameister" auch einmal ein anderes Format überlegen. Vielleicht ist aber ja auch alles gut so wie es ist.

Die Europameisterschaft 2021 auf Island war immer noch von der weiter anhaltenden Corona-Pandemie überschattet. Viele potenzielle Teilnehmer konnten  - aufgrund von Reisebestimmungen - oder wollten nicht mitspielen.

Der Deutsche Schachbund war bei der Europameisterschaft in Reykjavik quantitativ und qualitativ allerdings sehr stark vertreten. Sieben Großmeister traten die Reise in die isländische Hauptstadt an, darüber hinaus einige weitere ehrgeizige Spieler. Mit 18 Spielern stellte der DSB die zweitgrößte Delegation nach dem Gastgeber Island. In der Startrangliste nahmen Liviu-Dieter Nisipeanu, Matthias Blübaum und Alexander Donchenko Plätze weit oben ein und gehörten damit zum Favoritenkreis. Wichtiger als der Kampf um den Europameistertitel war für viele Spieler sicher die Möglichkeit, einen von 23 Qualifikationsplätzen zu ergattern, einfach weil die Chancen schon rein statistisch größer waren.

Ein Deutscher hatte dann aber mit einem starken Auftritt beste Chancen, Europameister zu werden. Vincent Keymer hat als jüngster deutscher Großmeister und größtes deutsches Talent großes Entwicklungspotenzial, war und ist aber durch die Corona-Pandemie und die vielen ausgefallenen Turniere in seiner Entwicklung stark eingeschränkt. Bei der Europameisterschaft in Reykjavik zeigt er, was in ihm steckt. Keymer, 32ter der Setzliste, spielte sich trotz einer Niederlage zwischendurch ganz nach oben und kämpfte in den letzten Runden um den Titel mit. 

In der vorletzten Runde verpasste er den möglichen Sieg gegen den neuen Europameister Anton Demchenko. In der letzten Runde profitierte Keymer von einem Rechenfehler seines Gegner Daniele Vocaturo in Remisstellung und holte Demchenko mit seinem Sieg nach Punkten noch ein. Die Zweitwertung gab den Ausschlag für den russischen Großmeister, den neuen Europameister 2021.

Vincent Keymer

Keymer,Vincent (2602) - Vocaturo,Daniele (2630) [A15]

21st ch-EUR Indiv 2021 Reykjavik ISL (11.2), 05.09.2021

1.Sf3 Sf6 2.c4 e6 3.b3 d5 4.Lb2 Le7 5.e3 0–0 6.Sc3 c5 7.cxd5 exd5 8.d4 Sc6 9.Le2 Se4 10.dxc5 Da5 11.Tc1 Lf6 12.Sd4 Sxc5 [Diese Eröffnung hatte Keymer kürzlich schon einmal auf dem Brett: 12...Sxc3 13.Lxc3 Dxc5 14.0–0 De7 15.Lf3 Td8 16.Sxc6 bxc6 17.La5 Td7 18.Txc6 Lb7 19.Tc2 Te8 20.Lg4 d4 21.Lxd7 Dxd7 22.Ld2 d3 23.Tc4 Ld5 24.Tc5 h6 25.Lc3 Le7 26.Ta5 La8 27.Ta4 Lc5 28.Dg4 Dxg4 29.Txg4 Le4 30.Txg7+ Kf8 31.Tg4 f5 32.Th4 Tc8 33.Txh6 Kf7 34.Td1 La3 35.Ld4 Tc2 36.f3 d2 37.Kf2 Tc1 38.Txd2 1–0 (38)  Keymer,V (2591)-Motylev,A (2641) Chess.com INT 2021]

13.Sxc6 bxc6 14.0–0 Se4 15.Dc2 Sxc3 16.Lxc3 Lxc3 17.Dxc3 Dxa2 18.Tc2 Da3 19.Ta1 De7 20.Dxc6 Le6

 

21.Dc5 [21.Td2 Db4 22.Td3 Tfc8 23.Da6= 1–0 (103) So,W (2770)-Duda,J   (2743) chess24.com INT 2021]

21...Dxc5 22.Txc5 Tfd8 23.b4 d4 24.exd4 Txd4 25.b5 Td2 26.Lf3 Tad8 27.h3 T2d7 28.Tc3 Ld5 29.Lg4 Le6 30.Le2 Td2 31.Lf3 Tb2 [31...T2d7?! 32.Tca3 mit Gewinn des a-Bauern.]

32.Lc6 g6 33.Txa7 Td1+ 34.Kh2

 

34... Txf2? [Nach 34...Kg7 ist eine Verwertung des Freibauern kaum  möglich, z.B. 35.Ta6 (35.Kg3 h5 36.h4 Td4=) 35...Txf2 36.b6 Ld5 37.Lxd5 Txd5 38.Tb3 Tg5 39.Tg3 Tb5]

35.b6 Tb2 36.b7 Kg7 37.Tc5 [Dieses  Manöver hatte Schwarz bei seiner Berechnung wohl übersehen. Es droht Lb5 oder Tb5.]

37...Tdb1 38.Le4 Td1 39.Taa5 Ld7 [Oder 39...Td8 40.Tcb5 Txb5 41.Txb5 Tb8 Und nun einfach 42.Kg3 z.B.: (42.Ta5 Lc8 43.bxc8D Txc8 bietet Schwarz noch etwas mehr Chancen auf Gegenwehr.) 42...Kf6 43.Kf4 Ke7 44.Ta5 Kd6 45.Kg5 und gewinnt.] 40.Tab5 1–0

Eine großartige Turnierleistung von Keymer, der mit einer Eloleistung von 2751 etwa 20 Elopunkte hinzugewinnen wird.

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Vier weitere deutsche Spieler haben einen der begehrten Qualifikationsplätze für den World Cup 2022 erreicht. Niklas Huschenbeth erreichte als 36ter der Setzliste mit 7,5 Punkten Platz 8. Der Hamburger hatte im Laufe des Turnier einige starke Gegner zu bespielen, was sich in seiner Zweitwertung positiv niederschlug. Nur einem Gegner gelang es, Huschenbeth zu besiegen - Robert Hovhanisyan. 

Matthias Blübaum kam mit der gleichen Punktzahl als Elfter ins Ziel. Blübaum spielt ein eher durchwachsenes Turnier und bewegte sich im oberen Mittelfeld. Zum Schluss brachte er sich aber mit drei Siegen auf einen Qualifikationsplatz.

Routinier Daniel Fridman absolvierte ein sehr solides Turnier und spielte in der vorletzten Runde in Sichtweite der Topplätze, an Tisch drei. Er unterlag aber dem russischen GM Alexey Sarana. Mit einem Sieg über Hedinn Steingrimmson in der letzten Runde kam auch Fridman auf einen Qualifikationsplatz.

Als vierter Deutscher erreichte Rasmus Svane die Qualifikationsplätze für den Worldcup. Auch Svane spielte lange im oberen Mittelfeld, brachte sich aber mit Siegen in den Runden neun und zehn nach vorne.

Auch Liviu-Dieter Nisipeanu und Alexander Donchenko hätte man auf den Qualifikationsplätzen erwartet. Beide verpassten die Qualifikation knapp, mit 7 Punkten, aber Zweitwertungen, die schlechter als die anderer Spieler waren.

Mit Anton Demchenko hat nicht unbedingt ein Favorit das Turnier gewonnen. Aber so ist es in großen Open. Mit einer Eloleistung von 2786 ist sein Sieg sicher mehr als verdient. Unterwegs räumte Demchenko mit Matthias Blübaum und Alexander Donchenko zwei deutsche GMs aus dem Weg. Bei seinem Remis gegen Vincent Keymer stand ihm allerdings Caissa und alle ihre Schwestern zur Seite.

Elofavorit war eigentlich Gawain Jones. Doch der Engländer wurde mit 6 Punkten nur 70ter. Die deutschen IMs Roven Vogel, Nikolas Lubbe und Spartak Grigorian schnitten besser ab. Manchmal gelingt ein Turnier eben nicht,.

 

Ergebnisse der letzten Runde

Name Pts. Result Pts. Name
Deac Bogdan-Daniel ½ - ½ 8 Demchenko Anton
Keymer Vincent 1 - 0 Vocaturo Daniele
Mamedov Rauf 7 ½ - ½ Sarana Alexey
Antipov Mikhail Al. 7 ½ - ½ 7 Navara David
Huschenbeth Niclas 7 ½ - ½ 7 Yilmaz Mustafa
Mamedov Nidjat 7 ½ - ½ 7 Svane Rasmus
Erdos Viktor 7 ½ - ½ 7 Piorun Kacper
Sargissian Gabriel ½ - ½ 7 Sanal Vahap
Romanov Evgeny 0 - 1 Bluebaum Matthias
Nisipeanu Liviu-Dieter ½ - ½ Bjerre Jonas Buhl
Lupulescu Constantin ½ - ½ Ivic Velimir
Gabuzyan Hovhannes ½ - ½ Donchenko Alexander
Thybo Jesper Sondergaard ½ - ½ Martirosyan Haik M.
Quparadze Giga ½ - ½ Lagarde Maxime
Paichadze Luka 1 - 0 Hovhannisyan Robert
Fridman Daniel 1 - 0 Steingrimsson Hedinn

... 

Endstand

Rk. Name Pts.  TB1 
1 Demchenko Anton 8,5 2617
2 Keymer Vincent 8,5 2577
3 Sarana Alexey 8,0 2592
4 Deac Bogdan-Daniel 8,0 2510
5 Piorun Kacper 7,5 2605
6 Mamedov Rauf 7,5 2599
7 Erdos Viktor 7,5 2593
8 Huschenbeth Niclas 7,5 2590
9 Navara David 7,5 2577
10 Sanal Vahap 7,5 2572
11 Bluebaum Matthias 7,5 2556
12 Vocaturo Daniele 7,5 2554
13 Antipov Mikhail Al. 7,5 2547
14 Paichadze Luka 7,5 2543
15 Yilmaz Mustafa 7,5 2542
16 Fridman Daniel 7,5 2542
17 Mamedov Nidjat 7,5 2528
18 Svane Rasmus 7,5 2515
19 Gabuzyan Hovhannes 7,0 2619
20 Ivic Velimir 7,0 2618
21 Nagy Gabor 7,0 2618
22 Bjerre Jonas Buhl 7,0 2613
23 Lagarde Maxime 7,0 2573
24 Pantsulaia Levan 7,0 2566
25 Nisipeanu Liviu-Dieter 7,0 2555
26 Sargissian Gabriel 7,0 2554
27 Grandelius Nils 7,0 2548
28 Donchenko Alexander 7,0 2547

180 Spieler

Partien

 

Turnierseite...

Ergebnisse bei Chess-results...

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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Pemoe6 Pemoe6 07.09.2021 05:41
Man sollte in diesem speziellen Falle allerdings den Unterschied in der Wertung zwischen Keymer und Demchenko nicht kleinreden: 40 Punkte Schnittdifferenz! Dafür könnte man bspw. bei sonst gleichen Gegnern und 11 Runden einen Gegner haben, der 440 ELO stärker ist, also Hobbyspieler <-> GM.
Thomas Richter Thomas Richter 07.09.2021 01:30
Bessere Wertung für Demchenko ist dabei durchaus nachvollziehbar: Er spielte ab Runde 3 durchgehend an den ersten 6 Brettern, alle weiteren Gegner hatten mindestens Elo 2594. Keymer fiel durch Niederlage in Runde 3 gegen Sarana vorübergehend zurück und bekam in den nächsten beiden Runden IMs (Elo 2455 und 2441). Eher kann man hinterfragen, warum kleine Unterschiede beim gegnerischen Eloschnitt über Weltcup-Qualifikation (oder nicht) entscheiden, aber das sind eben Grenzfälle. Früher gab es bei Europameisterschaften Massen-Stichkämpfe. Bei diesem Turnier hätten dann 19 Spieler mit 7/11 so lange stechen müssen, bis sich 5 für den Weltcup qualifizieren - und das wäre wohl auch zumindest ein bisschen Lotterie.
michanizm michanizm 06.09.2021 09:58
Irgendeine Zweitwertung muss es geben. Für die breite Mehrheit im wahrsten Sinne des Wortes auch zweitrangig oder auch irrelevant.
Wenn man weiter hinten in der Tabelle platziert ist, beispielsweise irgendwo im Mittelfeld, dann isses egal ob man 46. oder 47. wird.
Wenns allerdings um den Titel geht, kann man ja dennoch eine Regel einführen, die bei Punktgleichheit zu einem Stickkampf führt. Das muss kein Widerspruch zur Zweitwertung sein, sondern eine Ergänzung und wird bei einigen Turnieren längst angewendet. Ich persönlich finds etwas schade, wenn so ein wichtiger Titel durch das Losglück und im konkreten Fall durch eine Kleinigkeit bei der Zweitwertung entschieden wird.
DoktorM DoktorM 06.09.2021 07:03
Irgendweine Zweitwertung wird es geben müssen. Bevor es keine gibt, die das oftmalige Remisgeschiebe in den letzten Runden verhindert, kann man auch bei den bisherigen Zweitwertungen bleiben.
Beseitiger20_# Beseitiger20_# 06.09.2021 11:20
Danke für den Bericht, der alle deutschen Teilnehmer würdigt.
Besonders erfreulich bleibt natürlich die Performance von Vincent Keymer. Er ist erst 16 Jahre jung!
Und wie er seine Partien gewonnen hat! Wie Carlsen spielt er sehr sicher und korrekt auf Position mit Zug zum Tor, bis sein Gegner daneben greift - echt beeindruckend. Dass es dabei natürlich auch remis ausgehen kann, sieht man an seinen knappen Siegen in den ersten Runden...
Schade ist es, dass es keinen packenden Stichkampf bei einem solchen Titel gibt.
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