Nigel Davies: The Accelerated Dragon
Rezension von Frank Zerfas (Woltersdorf)
Wer an seinem eigenen, schachlichen Fortkommen interessiert ist, wird über kurz oder lang eine Erweiterung seines Eröffnungsrepertoires anstreben. Aus Angst vor einer möglichen Überfrachtung sollte man davor niemals zurückschrecken, denn das menschliche Gehirn ist keine Festplatte, die irgendwann „voll“ ist. Je mehr in ihm „gespeichert“ ist, desto mehr „freier Speicherplatz“ wird verfügbar. Egal, ob Sie ein Musikinstrument, eine Sprache oder eine Eröffnung erlernen wollen, es wird ihnen wesentlich leichter fallen, sobald Sie schon deren acht statt lediglich zwei beherrschen!
Der „beschleunigte Drachen“ (engl.: „accelerated dragon“) lässt sich als eigenständiges Eröffnungssystem erlernen, ohne dass Kenntnisse aus anderen Hauptvarianten der Sizilianischen – insbesondere der gewöhnlichen Drachenvariante – dazu notwendig wären. Nigel Davies, ein erfahrener englischer internationaler Großmeister führt Sie mit seiner Trainings-DVD schrittweise und aus der Perspektive des Schwarzspielers in dessen Theorie bzw. Praxis ein. Neben 28 Einzellektionen mit einer Gesamtlaufzeit von mehr als vier Stunden enthält diese noch 85 unkommentierte Meister- und Großmeisterpartien, von denen 48 einen Sieger (36 mit den schwarzen Steinen!) fanden. Davies referiert flüssig und in sehr gut verständlichem Englisch, die optische Unterstützung seiner Anmerkungen beherrscht er zu jeder Zeit mit sicherer Hand.
Insgesamt 10 Lektionen widmet der Autor dem Maroczy-Aufbau. Aus dessen Grundstellung
nach 9.) … Lc8-d7 analysiert er sieben weiße Fortsetzungen und erläutert dabei sehr ausführlich die typischen Manöver mit ihrer strategischen Zielsetzung. Wie der Autor in seinem Einleitungsvortrag darlegt, galt der Maroczy-Aufbau gemäß einer Einschätzung Botwinniks über viele Jahre hinweg als vorteilhaft für Weiß. Widerlegt hat diese Ansicht bis heute niemand, aber ein Beweis für deren Richtigkeit ist ebenfalls noch nicht erbracht. Davies jedenfalls glaubt an die Lebensfähigkeit der schwarzen Stellung und liefert dazu jede Menge Hinweise. Hier ein Beispiel aus Lektion 7, das ich für sehr lehrreich halte:
Stellung nach 14.) Ta1-c1
Der Anziehende verfügt über Raumvorteil im Zentrum und einen mächtigen Vorpostenspringer, aber sein weißfeldriger Läufer ist hinter der eigenen Bauernkette eingesperrt. Schwarz kann deshalb in ein bequemes Endspiel mit der besseren Leichtfigur abwickeln. Dazu tauscht er zunächst auf d4, gewinnt ein Tempo mit e7-e5 und tauscht anschließend auch noch auf d5. Egal, ob Weiß nun mit einem Bauern oder mit der Dame auf d5 zurückschlägt, immer wird sich ein schwarzer Springer auf c5 einnisten können, da der Zug b3-b4 durch das vorausgegangene schwarze a7-a5 verhindert ist.
In den folgenden 9 Lektionen geht es um die Stellungen, in denen Weiß seinen Damenspringer zunächst nach c3 entwickelt, um in das Rauser-System mit langer Rochade und Bauernsturm am Königsflügel überzuleiten zu können:
Stellung nach 6) … Sg8-f6
Wer als Weißer die Stellung nun schablonenhaft so behandelt, als ob d7-d6 an Stelle von Lf8-g7 gespielt worden wäre und sich „normal“ mit f2-f3 oder Dd1-d2 entwickelt, muss sich nach d7-d5! bereits Gedanken um den Ausgleich machen. Gerade durch diesen Bauernvorstoß nach d5 in einem Zug spart Schwarz in einigen Abspielen ein wichtiges Tempo, so dass Weiß die lange Rochade nicht rechtzeitig vollenden kann. Der Rauser-Angriff wird somit verhindert. Einzig mit 7.) Lf1-c4! kann Weiß um Vorteil kämpfen. Davies empfiehlt dagegen 7.) … Dd8-a5 und analysiert zahlreiche Abspiele, die nach beiderseitiger kurzer Rochade entstehen. Dazu ein Beispiel aus Lektion 19:
Stellung nach 11.) Tf1-e1
Weiß hat sich jedes gewaltsamen Versuchs enthalten und versucht sich nun mit einem Druckspiel auf der e-Linie. Nach dem Prophylaxezug 11.) … Tf8-e8 zeigt Davies einen hübschen Konter, der den Schwarzen auf den plausiblen Zug 12.) Dd1-d2? in Vorteil bringt. Überlegen Sie einmal selbst!
Schwarz am Zug kommt in Vorteil
Das Motiv für diesen Gegenschlag wird bereits in Lektion 12 vorgestellt und ist eine Kombination aus einem aufgedeckten Angriff und einer Ablenkung, ein möglicher weißer Zwischenzug wird durch ein Scheinopfer entkräftet.
In den übrigen Lektionen beleuchtet Davies noch einige Abspiele, die nach einem Springertausch auf c6 entstehen bzw. in denen Weiß durch den Rückzug Sd4-b3 schnellen Vereinfachungen aus dem Weg geht, sowie strategisch hochinteressante Versuche des Schwarzen, seinen heiligen Fianchettoläufer gegen einen Springer auf c3 zu tauschen, um aus der zerstörten weißen Bauernformation Vorteil zu ziehen. Dass letzteres Vorgehen unbedingt ernst zu nehmen ist, beweist eine Partie zwischen den beiden Spitzengroßmeistern Eugenio Torre und Anthony Miles, in welcher Schwarz nach kompliziertem Kampf die Oberhand behielt.
Mein persönlicher Eindruck: Das Material, das Davies in seiner DVD zusammengetragen, geordnet und besprochen hat, ist umfangreich und in meinen Augen mit großer Sorgfalt ausgewählt. Der motivierte Vereinsspieler mit fortgeschrittenen Kenntnissen wird sich mit gestärktem Selbstbewusstsein in den Kampf auch gegen nominell schwerere Gegner begeben, nachdem er die vielen Varianten und Partien eingehend auf dem Brett studiert hat. Ein bloßes Anschauen der Lektionen, ich betone ausdrücklich, ist zu wenig! Als Lohn für seine Mühen erhält er nicht nur eine zuverlässige Waffe, wenn Weiß mit 1.) e2-e4 eröffnet, auch nach 1.) c2-c4 bzw. 1.) Sg1-f3 und sogar nach 1.) d2-d4 kann sich durch Zugumstellung eine Maroczy-Aufstellung aus dem beschleunigten Drachen ergeben. Wer damit erfolgreich war, wird später auch versuchen, die vertrauten Stellungsbilder mit den weißen Steinen und einem Mehrtempo zu spielen.
Mein Fazit: Ein hochwertiges Produkt, dessen Anschaffung dem Nutzer langfristige Erträge bringen wird!
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