Interview mit Europameister Evgeny Tomashevsky
Guten Tag. Stell dich doch den Lesern kurz einmal vor.
GM Evgeny Tomashevsky (Saratow, Russland) wurde am 01. Juli 1987 geboren. Meine
Mutter war Ärztin und mein Vater Professor und Doktor für Ingenieurswissenschaften.
Wann hast du angefangen, Schach zu spielen?
Schach habe ich mit vier gelernt, in meiner Familie. Im Januar 1994 habe ich
meine Eltern dann gebeten, mich in den Schachklub zu schicken.
Wer waren deine ersten Trainer?
Meine erste Trainerin war WFM Alexandra Shestoperova und danach habe ich lange
mit ihrem Mann IM Alexey Shestoperov trainiert. Ich bin ihnen heute noch dankbar.
Zwei bemerkenswerte Menschen, die in den für Russland schweren 1990ern eine
Menge für meine Entwicklung als Schachspieler getan haben.
Erinnerst du dich noch an deine ersten Erfolge?
Die ersten Erfolge kamen 1997, als ich russischer Jugendmeister U-10 wurde und
bei der Europameisterschaft in der gleichen Altersgruppe die Bronzemedaille
gewann. Ohnehin habe ich bei russischen Meisterschaften, genau wie Welt- und
Europameisterschaften als Jugendlicher zahlreiche Erfolge erzielt. Besonders
gut im Gedächtnis geblieben sind mir der Gewinn der russischen Jugendmeisterschaft
U-18 (2001 im Alter von 13!) und die Silbermedaille bei der Jugendweltmeisterschaft
U-18 2004. 2001 wurde ich IM, 2005 GM. Nach heutigen Maßstäben nicht allzu früh,
aber ich kam in der Anfangsphase meiner Karriere nicht in den Genuss der Unterstützung
durch Sponsoren. In der Hinsicht habe ich heute mehr Glück. Ich studiere in
Saratow und der Universitätsdirektor Prof. Vladimir A. Dines ist großer Schachfan.
Und obwohl ich mich zurzeit als Schachprofi bezeichnen würde, studiere ich ernsthaft.
Welche Interessen außer Schach verfolgst du noch?
Ich habe viele Interessen - Sport und Denkspiele, Literatur, Wissenschaft, Kino,
Musik. Ich treffe mich gerne mit Freunden und bin gerne mit Leuten zusammen,
mit denen ich mich wohl fühle und ich schätze gutes Essen. Ich versuche, mich
nicht nur aufs Schach zu konzentrieren und glaube, Vielseitigkeit ist im Leben
kein Nachteil. Im Schach übrigens auch nicht.
Mit welchem Trainer arbeitest du im Moment zusammen?
Im Moment arbeite ich mit dem berühmten GM Yuri Razuvaev. Sein Anteil an meinen
kürzlich errungenen Erfolgen ist enorm. Er hat ein erstaunliches Talent, den
Kern eines jeden Problems zu erkennen, verfügt über seltenes Taktgefühl und
natürlich über eine außergewöhnliche Schachbildung. Die Zusammenarbeit mit Yuri
Sergeevich war ein Geschenk des Schicksals.
Hattest du in Montenegro einen Sekundanten?
In Montenegro hatte ich keinen Sekundanten. Natürlich ist die Europameisterschaft
ein wichtiges Turnier, aber sich einen Trainer leisten zu können, ist großer
Luxus.
Hast du dich speziell auf die Europameisterschaft vorbereitet?
Nein, ich habe mich auf das Turnier in Budva nicht besonders vorbereitet. Die
Pause zwischen dem "Aeroflot"-Open und der Europameisterschaft war ohnehin zu
kurz. Außerdem kann man sich auf ein offenes Turnier nur schwer gezielt vorbereiten.
Bei einem Runden- oder K.O-Turnier, in denen man lange vor Beginn weiß, gegen
wen man spielen muss, ist das anders. Ich habe einfach versucht, die richtige
Einstellung zu finden.
Du hast erwähnt, dass du vor der Europameisterschaft am "Aeroflot"-Open teilgenommen
hast. Michail Botvinnik, der Patriarch der Sowjetischen Schachschule, hätte
so etwas nicht gut geheißen?
Ich war der Meinung, das "Aeroflot"-Open wäre ein gutes Training für Budva,
da ich vorher mehr als drei Monate keine Partie gespielt hatte - was bei einem
Profi heutzutage selten vorkommt. Aber natürlich haben Botvinniks Ansichten
viel Gewicht - ich respektiere und schätze ihn wie kaum einen anderen Schachspieler.
Allerdings ist der Turnierkalender heutzutage prall gefüllt und wir müssen in
der Lage sein, eine Reihe von Turnieren nacheinander zu spielen.
Du hast im klassischen Schach 8 Punkte aus 11 Partien geholt. Welche Partie
war für dich am schwierigsten? Die schwedische Schachlegende Ulf Andersson ist
zu eurer Partie gar nicht erschienen und hat kampflos verloren. Weißt du, warum?
Ich glaube, meine wichtigste Partie war tatsächlich die nicht gespielte Partie
gegen Ulf. Diese paradoxe Behauptung verlangt natürlich eine Erklärung. Letztes
Jahr habe ich bei der Europameisterschaft in Plovdiv sehr schlecht gespielt
und es war mir nicht vergönnt, das Gefühl eines Sieges zu spüren. Hier begann
ich mit 2/2, aber dann kamen vier farblose Remis. Das dämpfte meine Stimmung
und ich sah den "Geist von Plovdiv" schon am Horizont auftauchen. In solchen
Situationen glaubt man leicht, man könnte überhaupt nicht mehr punkten. Deshalb
brauchte ich endlich wieder einen Sieg. Die ganze Vorbereitung auf die Partie
verlief sehr angespannt und am Morgen vor der Partie war ich viel nervöser als
sonst und fühlte mich psychologisch ausgelaugt. Nach dem kampflosen Sieg hatte
ich +3, und war nur einen Sieg von der Qualifikation für die Weltmeisterschaft
entfernt und beruhigte mich wieder. Den Rest des Turniers spielte ich zuversichtlich
- relativ problemlose Remis mit Schwarz und Siege mit Weiß. Zugegeben, ich hatte
Glück, einen ganzen Punkt zu bekommen ohne spielen zu müssen - zu allem Überfluss
hatte ich so noch einen Ruhetag mehr. Warum Andersson nicht zur Partie erscheinen
ist, kann ich nicht beurteilen. Aber etliche Leute, die sich auskennen, behaupten,
dies kam in seiner Praxis nicht zum ersten Mal vor.
Ulf Andersson am Brett
Welche deiner bei der Europameisterschaft gespielten Partien gefällt dir
am besten?
Ich kann nicht behaupten, dass ich in diesem Turnier am laufenden Band Meisterwerke
hervorgebracht habe. Teile meiner Partien gegen Artashes Minasian und Sanan
Sjugurov gefallen mir gut, genau wie der relativ gute Sieg gegen Anton Shomoev.
Aber zu meiner eigenen Überraschung gelang mir die beste Partie, die ich im
Turnier gespielt habe, in der ersten Runde des Stichkampffinals gegen Vladimir
Malakhov.
In den Schnellschachwettkämpfen hast du Nerven aus Stahl bewiesen - hast
du vorher das Blitzen trainiert?
Danke für das Kompliment, aber ich fürchte, ich verdiene es nicht. Während der
Stichkämpfe waren meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Wahrscheinlich nur
ein bisschen weniger als die der anderen. Ich spiele nicht allzu oft Blitz,
aber auch nicht so selten. Mein Vertrauen in meine Blitzfähigkeiten schwankt
allerdings. Manchmal glaube ich, ich spiele sehr stark Schnellschach, manchmal
glaube ich, ich spiele sehr schwach. Mehr und mehr neige ich zu der Ansicht,
dass Blitz für mich eine Frage von Motivation und Tagesform ist. Wenn ich in
guter mentaler Verfassung bin und mich gut konzentrieren kann, dann bin ich
überzeugt, dass ich jedem "Blitzmeister" Probleme bereiten kann.
Was hältst du ganz generell von dem System, dass nach elf anstrengenden Runden
im klassischen Schach der Sieger im Schnellschach ermittelt wird?
Natürlich ist dieses System nicht perfekt. Aber bei den anderen Tie-Break-Systemen
tauchen andere Probleme auf. So könnte hier der Sieger durch eine Partie an
den hinteren Brettern entschieden werden. Beim Fußball ist es ähnlich - die
Leute schimpfen oft über das Elfmeterschießen, nennen es eine Lotterie, aber
etwas Besseres hat man bislang nicht gefunden. Generell glaube ich, dass Schnellpartien
nicht die schlechteste Möglichkeit sind, den Sieger zu ermitteln. Nebenbei bemerkt:
Andere Systeme sind ebenfalls möglich, nur sollte man sie nicht mitten im Turnier
wechseln (lacht).
Wolltest du in der ersten Wettkampfpartie gegen David Navara eigentlich die
Stellung wiederholen?
Offen gesagt, habe ich den Wettkampf gegen Navara schlecht gespielt. Mein schwerfälliges
Spiel mit Weiß brachte keinerlei Vorteil und ich hatte nichts gegen Zugwiederholung.
Allerdings musste ich dann in Zeitnot ums Remis kämpfen. In der zweiten Partie
war ich nur einen kleinen Schritt vom Ausscheiden entfernt. In dieser Partie
ging es auf und ab - ich stand irgendwann schlechter, dann auf Gewinn, dann
vollkommen auf Verlust ud am Ende habe ich schließlich gewonnen. Dieses Match
bildete den ersten Akt sich allmählich steigernder Emotionen.
Nach einer Auftaktniederlage im Zweitrundenmatch gegen Baadur Jobava hast
du dich wieder gefangen. Wie hast du deine Ruhe wieder gefunden?
Ich glaube, dass Baadur sich selbst um all seine Chancen gebracht hat. Wahrscheinlich
war der Druck einfach zu viel für ihn. Er begann die Stichkämpfe im Achtelfinale,
aber galt als Geheimfavorit, da jeder weiß, wie gut er Schnellschach spielt.
Und wie es oft geschieht, wurde er kurz vorm Finale nervös. Ich blieb ruhig,
da ich nichts mehr zu verlieren hatte.
Baadur Jobava
Was war mit der "Armageddon" Partie, die du mit Weiß gewonnen hast? Hast
du dich bei der Farbwahl für Weiß entschieden?
Auch da hatte ich Glück - in beiden Fällen hatte ich das Recht, mir die Farben
in den "sudden death" Partien auszusuchen. Und ich glaube, mit Weiß ist man
im Vorteil, da die zusätzliche Minute einen enormen Unterschied ausmacht. In
solchen Partien sind Remis höchst unwahrscheinlich. Tatsächlich war die Partie
gegen Baadur das erste "Armageddon" meines Lebens und ich konnte meine Theorien
in der Praxis prüfen. Und der Beweis für ihre Richtigkeit war ziemlich überzeugend
(lacht).
Du hast mit Weiß generell recht gut gespielt - bist du ein typischer Weißspieler?
Ja, bis zum gewissen Grad kann man das wohl so sagen. Meine Weiß-Statistiken
sind sehr gut. Nach dem "Aeroflot" Open 2007 habe ich in zwei Jahren mit Weiß
nur eine Partie verloren, wobei ich zugleich eine gute Gewinnrate mit Weiß hatte.
Interessant ist, dass ich meine Weiß-Eröffnungen nicht für besonders schlagkräftig
halte. Im Prinzip kam dieses positive Ergebnis durch das Spiel nach der Eröffnung,
im Mittelspiel, zustande. Allerdings habe ich in letzter Zeit gelernt, auch
in der Anfangsphase der Partie mehr Druck auszuüben.
Im Finale hast du in der ersten Partie gegen deinen Landsmann Vladimir Malakhov
gewonnen, aber dann mit Weiß verloren. Was ist in der zweiten Partie passiert?
Wie bereits erwähnt, verschaffte mir die erste Partie tiefe kreative Befriedigung.
In der zweiten Partie wollte ich die Partie nicht "trocken" anlegen, ich wollte
mit kämpferischem Schach Meister werden, mit einem Idealergebnis von 2:0 (lacht).
Ich glaube, diese Partie war ziemlich bemerkenswert, denn Vladimir spielte ebenfalls
sehr kreativ. Bislang habe ich es noch nicht über mich bringen können, sie zu
analysieren, aber man hat mir erzählt, dass ich irgendwann den Gewinn ausgelassen
habe. Aber am Ende kam es zu einem Turmendspiel, das Weiß mit einem Minimum
an technischen Schwierigkeiten hätte Remis halten können. Und dann kam es zur
Katastrophe. Ich habe einfach die Uhr vergessen und nach Zeit verloren(!). Das
war ein harter Schlag. Da verliert man mit Weiß in den letzten 80 Partien nur
ein einziges Mal und dann, wenn man das Remis unbedingt braucht, verliert man?
Auf Zeit? Danach "Armageddon" zu spielen war sehr schwer. Um die Qualität der
Partie mussten wir uns keine Gedanken mehr machen.
Wie lief die entscheidende Partie der Europameisterschaft denn nun ab?
Zum Glück machten sich die Nerven schließlich auch bei Vladimir bemerkbar (er
musste ebenfalls im Achtelfinale anfangen). So endete das Ganze plötzlich und
unerwartet - mein Gegner stellte einen Turm ein, anstatt in sieben Zügen Matt
zu setzen. Ich habe mich eher wie jemand gefühlt, der im Lotto und nicht im
Schach gewonnen hat. Ich möchte übrigens die Gelegenheit nutzen, Vladimir meine
Anerkennung auszusprechen - er nahm die Niederlage großartig hin, stoisch, wie
ein wirklicher Gentleman.
Evgeny Tomashevsky auf der richtigen Seite des Bretts
Wie war die Organisation in Montenegro?
Generell bestand Einigkeit darüber, dass wahrscheinlich noch keine Europameisterschaft
so gut organisiert war. Auch wenn ich nicht gewonnen hätte, wäre ich dieser
Meinung gewesen (lacht). Alles war bis ins kleinste Detail durchorganisiert
und die Organisatoren waren freundlich und respektvoll.
In einer russischen Schachzeitschrift habe ich einmal gelesen, dass deine
Mannschaftskollegen dich "Professor" nennen. Wie kam es dazu?
Nicht nur meine Mannschaftskollegen, sondern auch meine Freunde (lacht). Das
hat wahrscheinlich eine Reihe von Gründen. Erstens meine Brille (lacht). Und
zweitens ist mein Vater ein Professor und viele wissen das. Und schließlich
und endlich verfalle ich manchmal ins Philosophieren und lese Bücher über Ethik
und Moral (lacht).
Du giltst als einer der Hoffnungsträger, wenn darüber geredet wird, der russischen
Nationalmannschaft frisches Blut zu verleihen. Wie realistisch sind deine Chancen,
in die Mannschaft aufgenommen zu werden?
Russland ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem der Europameister
nicht (übrigens objektiv absolut zu Recht!) automatisch einen Platz in der Nationalmannschaft
bekommt. Wir haben genug Spieler der Extraklasse. Aber an der Olympiade teilzunehmen
ist mein Traum. Und ich bin bereit, dafür zu arbeiten.
Rechnest du nach deinem Erfolg in Budva mit Einladungen zu Superturnieren?
Die Erfahrung hat gezeigt, dass man darauf besser nicht zählt. Der Titel des
Europameisters lässt die Organisatoren von Superturnieren nicht sofort vor Ehrfurcht
erschauern. Übrigens bin ich nicht mit Einladungen zu Superturnieren verwöhnt
und bereit, jede in Betracht zu ziehen.
Du bist der jüngste Europameister aller Zeiten. Welche Pläne hast du jetzt?
Ich habe viele Pläne. Ich würde gerne persönlich und im Schach weiterkommen
und auch mein Studium mit Anstand beenden. Aber mein größter Traum ist, dass
die Leute um mich herum glücklich sind. Das wünsche ich auch den verehrten Lesern!
Danke für das Gespräch. Ich hoffe, wir sehen dich bald in ein paar Superturnieren!
Die Fragen stellte GM Dejan Bojkov
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Blog von Dejan Bojkov