Der Europameister im Gespräch

von ChessBase
26.03.2009 – Sein Sieg bei der Europameisterschaft in Budva machte Evgeny Tomashevsky zum jüngsten Europameister aller Zeiten. Mit GM Dejan Bojkov sprach der 21-Jährige russische Großmeister, der sich als Schachprofi bezeichnet und nebenbei studiert, über seine Schachkarriere, warum man ihn Professor nennt und über die dramatischen Stichkämpfe in Budva. Außerdem verrät er, warum man beim Armageddon besser Weiß hat und weshalb eine Partie, die er gar nicht gespielt hat, bei der Europameisterschaft so wichtig war. Zum Interview...

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Interview mit Europameister Evgeny Tomashevsky

Guten Tag. Stell dich doch den Lesern kurz einmal vor.
GM Evgeny Tomashevsky (Saratow, Russland) wurde am 01. Juli 1987 geboren. Meine Mutter war Ärztin und mein Vater Professor und Doktor für Ingenieurswissenschaften.

Wann hast du angefangen, Schach zu spielen?

Schach habe ich mit vier gelernt, in meiner Familie. Im Januar 1994 habe ich meine Eltern dann gebeten, mich in den Schachklub zu schicken.



Wer waren deine ersten Trainer?
Meine erste Trainerin war WFM Alexandra Shestoperova und danach habe ich lange mit ihrem Mann IM Alexey Shestoperov trainiert. Ich bin ihnen heute noch dankbar. Zwei bemerkenswerte Menschen, die in den für Russland schweren 1990ern eine Menge für meine Entwicklung als Schachspieler getan haben.

Erinnerst du dich noch an deine ersten Erfolge?
Die ersten Erfolge kamen 1997, als ich russischer Jugendmeister U-10 wurde und bei der Europameisterschaft in der gleichen Altersgruppe die Bronzemedaille gewann. Ohnehin habe ich bei russischen Meisterschaften, genau wie Welt- und Europameisterschaften als Jugendlicher zahlreiche Erfolge erzielt. Besonders gut im Gedächtnis geblieben sind mir der Gewinn der russischen Jugendmeisterschaft U-18 (2001 im Alter von 13!) und die Silbermedaille bei der Jugendweltmeisterschaft U-18 2004. 2001 wurde ich IM, 2005 GM. Nach heutigen Maßstäben nicht allzu früh, aber ich kam in der Anfangsphase meiner Karriere nicht in den Genuss der Unterstützung durch Sponsoren. In der Hinsicht habe ich heute mehr Glück. Ich studiere in Saratow und der Universitätsdirektor Prof. Vladimir A. Dines ist großer Schachfan. Und obwohl ich mich zurzeit als Schachprofi bezeichnen würde, studiere ich ernsthaft.

Welche Interessen außer Schach verfolgst du noch?
Ich habe viele Interessen - Sport und Denkspiele, Literatur, Wissenschaft, Kino, Musik. Ich treffe mich gerne mit Freunden und bin gerne mit Leuten zusammen, mit denen ich mich wohl fühle und ich schätze gutes Essen. Ich versuche, mich nicht nur aufs Schach zu konzentrieren und glaube, Vielseitigkeit ist im Leben kein Nachteil. Im Schach übrigens auch nicht.

Mit welchem Trainer arbeitest du im Moment zusammen?
Im Moment arbeite ich mit dem berühmten GM Yuri Razuvaev. Sein Anteil an meinen kürzlich errungenen Erfolgen ist enorm. Er hat ein erstaunliches Talent, den Kern eines jeden Problems zu erkennen, verfügt über seltenes Taktgefühl und natürlich über eine außergewöhnliche Schachbildung. Die Zusammenarbeit mit Yuri Sergeevich war ein Geschenk des Schicksals.

Hattest du in Montenegro einen Sekundanten?
In Montenegro hatte ich keinen Sekundanten. Natürlich ist die Europameisterschaft ein wichtiges Turnier, aber sich einen Trainer leisten zu können, ist großer Luxus.

Hast du dich speziell auf die Europameisterschaft vorbereitet?
Nein, ich habe mich auf das Turnier in Budva nicht besonders vorbereitet. Die Pause zwischen dem "Aeroflot"-Open und der Europameisterschaft war ohnehin zu kurz. Außerdem kann man sich auf ein offenes Turnier nur schwer gezielt vorbereiten. Bei einem Runden- oder K.O-Turnier, in denen man lange vor Beginn weiß, gegen wen man spielen muss, ist das anders. Ich habe einfach versucht, die richtige Einstellung zu finden.

Du hast erwähnt, dass du vor der Europameisterschaft am "Aeroflot"-Open teilgenommen hast. Michail Botvinnik, der Patriarch der Sowjetischen Schachschule, hätte so etwas nicht gut geheißen?
Ich war der Meinung, das "Aeroflot"-Open wäre ein gutes Training für Budva, da ich vorher mehr als drei Monate keine Partie gespielt hatte - was bei einem Profi heutzutage selten vorkommt. Aber natürlich haben Botvinniks Ansichten viel Gewicht - ich respektiere und schätze ihn wie kaum einen anderen Schachspieler. Allerdings ist der Turnierkalender heutzutage prall gefüllt und wir müssen in der Lage sein, eine Reihe von Turnieren nacheinander zu spielen.

Du hast im klassischen Schach 8 Punkte aus 11 Partien geholt. Welche Partie war für dich am schwierigsten? Die schwedische Schachlegende Ulf Andersson ist zu eurer Partie gar nicht erschienen und hat kampflos verloren. Weißt du, warum?
Ich glaube, meine wichtigste Partie war tatsächlich die nicht gespielte Partie gegen Ulf. Diese paradoxe Behauptung verlangt natürlich eine Erklärung. Letztes Jahr habe ich bei der Europameisterschaft in Plovdiv sehr schlecht gespielt und es war mir nicht vergönnt, das Gefühl eines Sieges zu spüren. Hier begann ich mit 2/2, aber dann kamen vier farblose Remis. Das dämpfte meine Stimmung und ich sah den "Geist von Plovdiv" schon am Horizont auftauchen. In solchen Situationen glaubt man leicht, man könnte überhaupt nicht mehr punkten. Deshalb brauchte ich endlich wieder einen Sieg. Die ganze Vorbereitung auf die Partie verlief sehr angespannt und am Morgen vor der Partie war ich viel nervöser als sonst und fühlte mich psychologisch ausgelaugt. Nach dem kampflosen Sieg hatte ich +3, und war nur einen Sieg von der Qualifikation für die Weltmeisterschaft entfernt und beruhigte mich wieder. Den Rest des Turniers spielte ich zuversichtlich - relativ problemlose Remis mit Schwarz und Siege mit Weiß. Zugegeben, ich hatte Glück, einen ganzen Punkt zu bekommen ohne spielen zu müssen - zu allem Überfluss hatte ich so noch einen Ruhetag mehr. Warum Andersson nicht zur Partie erscheinen ist, kann ich nicht beurteilen. Aber etliche Leute, die sich auskennen, behaupten, dies kam in seiner Praxis nicht zum ersten Mal vor.


Ulf Andersson am Brett

Welche deiner bei der Europameisterschaft gespielten Partien gefällt dir am besten?
Ich kann nicht behaupten, dass ich in diesem Turnier am laufenden Band Meisterwerke hervorgebracht habe. Teile meiner Partien gegen Artashes Minasian und Sanan Sjugurov gefallen mir gut, genau wie der relativ gute Sieg gegen Anton Shomoev.



Aber zu meiner eigenen Überraschung gelang mir die beste Partie, die ich im Turnier gespielt habe, in der ersten Runde des Stichkampffinals gegen Vladimir Malakhov.

In den Schnellschachwettkämpfen hast du Nerven aus Stahl bewiesen - hast du vorher das Blitzen trainiert?
Danke für das Kompliment, aber ich fürchte, ich verdiene es nicht. Während der Stichkämpfe waren meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Wahrscheinlich nur ein bisschen weniger als die der anderen. Ich spiele nicht allzu oft Blitz, aber auch nicht so selten. Mein Vertrauen in meine Blitzfähigkeiten schwankt allerdings. Manchmal glaube ich, ich spiele sehr stark Schnellschach, manchmal glaube ich, ich spiele sehr schwach. Mehr und mehr neige ich zu der Ansicht, dass Blitz für mich eine Frage von Motivation und Tagesform ist. Wenn ich in guter mentaler Verfassung bin und mich gut konzentrieren kann, dann bin ich überzeugt, dass ich jedem "Blitzmeister" Probleme bereiten kann.

Was hältst du ganz generell von dem System, dass nach elf anstrengenden Runden im klassischen Schach der Sieger im Schnellschach ermittelt wird?
Natürlich ist dieses System nicht perfekt. Aber bei den anderen Tie-Break-Systemen tauchen andere Probleme auf. So könnte hier der Sieger durch eine Partie an den hinteren Brettern entschieden werden. Beim Fußball ist es ähnlich - die Leute schimpfen oft über das Elfmeterschießen, nennen es eine Lotterie, aber etwas Besseres hat man bislang nicht gefunden. Generell glaube ich, dass Schnellpartien nicht die schlechteste Möglichkeit sind, den Sieger zu ermitteln. Nebenbei bemerkt: Andere Systeme sind ebenfalls möglich, nur sollte man sie nicht mitten im Turnier wechseln (lacht).

Wolltest du in der ersten Wettkampfpartie gegen David Navara eigentlich die Stellung wiederholen?
Offen gesagt, habe ich den Wettkampf gegen Navara schlecht gespielt. Mein schwerfälliges Spiel mit Weiß brachte keinerlei Vorteil und ich hatte nichts gegen Zugwiederholung. Allerdings musste ich dann in Zeitnot ums Remis kämpfen. In der zweiten Partie war ich nur einen kleinen Schritt vom Ausscheiden entfernt. In dieser Partie ging es auf und ab - ich stand irgendwann schlechter, dann auf Gewinn, dann vollkommen auf Verlust ud am Ende habe ich schließlich gewonnen. Dieses Match bildete den ersten Akt sich allmählich steigernder Emotionen.

Nach einer Auftaktniederlage im Zweitrundenmatch gegen Baadur Jobava hast du dich wieder gefangen. Wie hast du deine Ruhe wieder gefunden?
Ich glaube, dass Baadur sich selbst um all seine Chancen gebracht hat. Wahrscheinlich war der Druck einfach zu viel für ihn. Er begann die Stichkämpfe im Achtelfinale, aber galt als Geheimfavorit, da jeder weiß, wie gut er Schnellschach spielt. Und wie es oft geschieht, wurde er kurz vorm Finale nervös. Ich blieb ruhig, da ich nichts mehr zu verlieren hatte.


Baadur Jobava

Was war mit der "Armageddon" Partie, die du mit Weiß gewonnen hast? Hast du dich bei der Farbwahl für Weiß entschieden?
Auch da hatte ich Glück - in beiden Fällen hatte ich das Recht, mir die Farben in den "sudden death" Partien auszusuchen. Und ich glaube, mit Weiß ist man im Vorteil, da die zusätzliche Minute einen enormen Unterschied ausmacht. In solchen Partien sind Remis höchst unwahrscheinlich. Tatsächlich war die Partie gegen Baadur das erste "Armageddon" meines Lebens und ich konnte meine Theorien in der Praxis prüfen. Und der Beweis für ihre Richtigkeit war ziemlich überzeugend (lacht).

Du hast mit Weiß generell recht gut gespielt - bist du ein typischer Weißspieler?
Ja, bis zum gewissen Grad kann man das wohl so sagen. Meine Weiß-Statistiken sind sehr gut. Nach dem "Aeroflot" Open 2007 habe ich in zwei Jahren mit Weiß nur eine Partie verloren, wobei ich zugleich eine gute Gewinnrate mit Weiß hatte. Interessant ist, dass ich meine Weiß-Eröffnungen nicht für besonders schlagkräftig halte. Im Prinzip kam dieses positive Ergebnis durch das Spiel nach der Eröffnung, im Mittelspiel, zustande. Allerdings habe ich in letzter Zeit gelernt, auch in der Anfangsphase der Partie mehr Druck auszuüben.

Im Finale hast du in der ersten Partie gegen deinen Landsmann Vladimir Malakhov gewonnen, aber dann mit Weiß verloren. Was ist in der zweiten Partie passiert?
Wie bereits erwähnt, verschaffte mir die erste Partie tiefe kreative Befriedigung. In der zweiten Partie wollte ich die Partie nicht "trocken" anlegen, ich wollte mit kämpferischem Schach Meister werden, mit einem Idealergebnis von 2:0 (lacht). Ich glaube, diese Partie war ziemlich bemerkenswert, denn Vladimir spielte ebenfalls sehr kreativ. Bislang habe ich es noch nicht über mich bringen können, sie zu analysieren, aber man hat mir erzählt, dass ich irgendwann den Gewinn ausgelassen habe. Aber am Ende kam es zu einem Turmendspiel, das Weiß mit einem Minimum an technischen Schwierigkeiten hätte Remis halten können. Und dann kam es zur Katastrophe. Ich habe einfach die Uhr vergessen und nach Zeit verloren(!). Das war ein harter Schlag. Da verliert man mit Weiß in den letzten 80 Partien nur ein einziges Mal und dann, wenn man das Remis unbedingt braucht, verliert man? Auf Zeit? Danach "Armageddon" zu spielen war sehr schwer. Um die Qualität der Partie mussten wir uns keine Gedanken mehr machen.

Wie lief die entscheidende Partie der Europameisterschaft denn nun ab?
Zum Glück machten sich die Nerven schließlich auch bei Vladimir bemerkbar (er musste ebenfalls im Achtelfinale anfangen). So endete das Ganze plötzlich und unerwartet - mein Gegner stellte einen Turm ein, anstatt in sieben Zügen Matt zu setzen. Ich habe mich eher wie jemand gefühlt, der im Lotto und nicht im Schach gewonnen hat. Ich möchte übrigens die Gelegenheit nutzen, Vladimir meine Anerkennung auszusprechen - er nahm die Niederlage großartig hin, stoisch, wie ein wirklicher Gentleman.


Evgeny Tomashevsky auf der richtigen Seite des Bretts

Wie war die Organisation in Montenegro?
Generell bestand Einigkeit darüber, dass wahrscheinlich noch keine Europameisterschaft so gut organisiert war. Auch wenn ich nicht gewonnen hätte, wäre ich dieser Meinung gewesen (lacht). Alles war bis ins kleinste Detail durchorganisiert und die Organisatoren waren freundlich und respektvoll.

In einer russischen Schachzeitschrift habe ich einmal gelesen, dass deine Mannschaftskollegen dich "Professor" nennen. Wie kam es dazu?
Nicht nur meine Mannschaftskollegen, sondern auch meine Freunde (lacht). Das hat wahrscheinlich eine Reihe von Gründen. Erstens meine Brille (lacht). Und zweitens ist mein Vater ein Professor und viele wissen das. Und schließlich und endlich verfalle ich manchmal ins Philosophieren und lese Bücher über Ethik und Moral (lacht).

Du giltst als einer der Hoffnungsträger, wenn darüber geredet wird, der russischen Nationalmannschaft frisches Blut zu verleihen. Wie realistisch sind deine Chancen, in die Mannschaft aufgenommen zu werden?
Russland ist wahrscheinlich das einzige Land der Welt, in dem der Europameister nicht (übrigens objektiv absolut zu Recht!) automatisch einen Platz in der Nationalmannschaft bekommt. Wir haben genug Spieler der Extraklasse. Aber an der Olympiade teilzunehmen ist mein Traum. Und ich bin bereit, dafür zu arbeiten.

Rechnest du nach deinem Erfolg in Budva mit Einladungen zu Superturnieren?
Die Erfahrung hat gezeigt, dass man darauf besser nicht zählt. Der Titel des Europameisters lässt die Organisatoren von Superturnieren nicht sofort vor Ehrfurcht erschauern. Übrigens bin ich nicht mit Einladungen zu Superturnieren verwöhnt und bereit, jede in Betracht zu ziehen.

Du bist der jüngste Europameister aller Zeiten. Welche Pläne hast du jetzt?
Ich habe viele Pläne. Ich würde gerne persönlich und im Schach weiterkommen und auch mein Studium mit Anstand beenden. Aber mein größter Traum ist, dass die Leute um mich herum glücklich sind. Das wünsche ich auch den verehrten Lesern!

Danke für das Gespräch. Ich hoffe, wir sehen dich bald in ein paar Superturnieren!

Die Fragen stellte GM Dejan Bojkov

Zum Blog von Dejan Bojkov

Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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