27.11.2017 – Fedor Bohatirchuk ist selbst bei Schachspielern heute fast vergessen. Dabei hatte der ukrainisch-kanadische Mediziner und Schachmeister eine bewegte Biografie in bewegten Zeiten und zudem gegen den späteren Weltmeister Mikhail Botwinnik eine einzigartige Bilanz: 3,5:0,5. Außerdem diente Bohatirschuk Boris Pasternak als Vorbild für die Romanfigur des Dr. Schiwago. Heute jährt sich Bahatirschuks Geburstag zum 125sten Mal.
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"Sie gewinnen nicht noch einmal gegen Botvinnik"
Fedor Parfenovich Bohatirchuk wurde am 27. November 1892 geboren, vor 125 Jahren. In den meisten Quellen findet man auch den 14. November 1892 als Geburtsdatum, nicht zuletzt in der Wikipedia. Der Grund für die beiden unterschiedlichen Angaben zum geburtsdatum dürfte in den 13 Tagen Differenz zwischen dem Julianischen und dem Gregorianischen Kalender zu suchen sein. Nach der Russischen Revolution wurde auch in der Sowjetunion der genauere Gregorianische Kalender eingeführt. Der zuvor in Russland gebräuchliche Julianische Kalender eilte diesem zuletzt um 13 Tage hinterher. Deswegen fand die Russische Oktoberrevolution nach westlichem (Gregorianidchem) Kalender auch im November 1917 statt.
Bohatirchuks Geburtsort ist Kiev, heute Ukraine. Zum Zeitpunkt seiner Geburt gehörte die Ukraine zum Russisches Zarenreich, danach zur Sowjetunion. Bohatirchuks Name wurde und wird auf verschiedene Weise aus dem Kyrillischen transkribiert: Aus dem russischen Original "Фёдор Парфеньевич Богатырчук" wurde Fedor oder Fjodor Parfenowitsch (Parfenovich) Bohatyrtschuk, Bogatirtschuk, Bogatyrtschuk, Bohatyrtschuk, oder Bohatyrczuk. Wir verwenden in diesem Aufsatz die Schreibweise in der Mega Datenbank, die sich wiederum auf die an der englischen Sprache orientierte Schreibweise der FIDE orientiert.
Schach lernte Bohatirchuk im Alter von 15 Jahren. Zu Beginn seiner Schachkarriere besuchte Bohatirchuk noch einige Turniere zusammen mit Mikhail Chigorin, der zeitweise als sein Schachlehrer fungierte. Chigorin starb allerdings schon bald, 1908. Im Jahr 1910 gewann Bohatirchuk erstmals die Stadtmeisterschaft von Kiew, vor Efim Bogoljubow. 1914 besuchte Raul Capablanca Kiev und gewann in einem Schaukampf gegen den jungen Kiewer Meister.
Über 100 Partien gegen Aljechin
1914 gehörte Bohatirschuk zu den Russen, die bei den Turnieren des DSB-Kongresses in Mannheim mitspielten und bei Beginn des Ersten Weltkrieges in Deutschland interniert wurden. Bohatirchuk spielte in Mannheim das Hauptturnier mit und lag bei Abbruch auf dem geteilten 6. Platz. Aljechin und Bogoljubov waren die bekanntesten Namen unter insgesamt elf russischen Spielern. Zusammen mit Aljechin, Peter Saburov und N. Koppelmann wurde er aber bereits recht bald wieder aus seiner Internierungshaft in die Schweiz entlassen. Die Russen schlugen sich nach Genua durch und warteten dort etwa einen Monat auf ein Schiff, dass sie nach Russland bringen konnte. Die Zeit vertrieben sie sich mit Schach spielen und Bohatirchuk räumte später ein, dass dieser eine Monat mit weit über 100 Partien gegen Aljechin ihm mehr gebracht hätte als alle übrigen Wettkämpfe und Turniere.
Zwischen 1923 und 1934 (1923, 1924, 1927, 1931, 1933, 1934) nahm Bohatirchuk insgesamt sechsmal bei UdSSR-Meisterschaften teil und konnte diese 1927 zusammen mit Romanovsky vor Spielern wie Botvinnik und Dus-Chotomirsky gewinnen. 1925 war er einer der Teilnehmern beim ersten großen internationalen Schachturnier in der Sowjetunion, in Moskau, und wurde 11. bei 21 Teilnehmern. Bogoljubow gewann das Aufsehen erregende Turnier vor Lasker und Capablanca.
1926 schrieb Bohatirchuk das erste Schachbuch in ukrainischer Sprache, mit dem Titel "Shahy". Außerdem war er im Schachverband der Ukrainischen Sowjetrepublik aktiv.
Nikolai Krylenko spricht
Der am meisten geförderte Spieler in der frühen Sowjetunion war Mikhail Botvinnik. Im Laufe seiner Schachkarriere traf Bohatirchuk viermal auf den späteren Weltmeister, ging dreimal als Sieger vom Brett und ließ ein Remis zu. Besonders schmerzvoll war der Sieg von Bohatirchuk über den gehätschelten kommenden sowjetischen Schachstar, beim großen internationalen Turnier 1935 in Moskau. Hier sollte die Überlegenheit der Arbeiterklasse mit einem Turniersieg von Botvinnik demonstriert werden, aber wegen der Niederlage gegen Bohatirchuk musste sich Botvinnik den Sieg mit Salo Flohr teilen. Lasker wurde damals Dritter, Capablanca Vierter.
Nach Bohatirchuks Sieg kam der russische Justizkommissar Nikolai Krylenko, Freund und Kampfgenosse von Lenin und Kopf des organisierten Schachs in der Sowjetunion auf Bohatirschuk zu und sagte ihm: " Du wirst nicht noch einmal gegen Botvinnik eine Partie gewinnen." Das erwies sich als zutreffende Prognose, denn Bohatirschuk hatte schon deshalb keine Gelegenheit, weil er nie wieder in einem Turniermitspielen durfte, in dem Botvinnik spielte. Auch zur Neuauflage des internationalen Großmeisterturniers 1936 in Moskau wurde Bohatirchuk nicht eingeladen. Von Krylenko stammt die Weisheit: "Es reicht nicht, wenn man die Schuldigen hinrichtet, erst wenn man ein paar Unschuldige erschießt, sind die Leute beeindruckt." Schon drei Jahre später, 1938 wurde Krylenko selber Opfer der stalinistischen "Säuberungs"aktion. "Unschuldig" war er selber wohl eher nicht.
Im Anschluss an seine Schulausbildung hatte Bohatirchuk 1912 ein Medizinstudium begonnen und während des Bürgerkriegs nach der Russischen Revolution ein Lazarett geleitet. Später wurde er Professor für Anatomie am Institut für Körperertüchtigung und Sport in Kiew. Seine beruflichen Aufgaben ließen ihm nur wenig Zeit übrig, um an Schachturnieren außerhalb von Kiew teilzunehmen. Für diese beruflich bedingte Abstinenz wurde er von der örtlichen Partieleitung gerügt, da er sich durch sein Verhalten angeblich nicht genügend an der Entwicklung des Schachnachwuchses und damit am Fortschreiten des kulturellen Lebens der UdSSR beteilige. Bohatirschuk sah keinen anderen Weg aus dieser Zwickmühle zu entkommen als mit dem Turnierschach aufzuhören. 1938 spielte er in Kiew vorerst sein letztes Turnier.
Im September 1941 besetzte die Deutsche Wehrmacht im Zuge ihres Angriffs auf die Sowjetunion Kiew. Bohatirchuk übernahm in Kiew die Leitung des Ukrainischen Roten Kreuzes, offiziell allerdings nicht anerkannt, da die Sowjetunion die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hatte. Mit seinen Mitarbeitern kümmerte sich Bohatirchuk um sowjetische Kriegsgefangene, die von den Deutschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten wurden. Wegen dieser Aktivitäten, aber auch weil er eine jüdische Mitarbeiterin, die Schwester des Schachspielers Boris Ratner, vor den Deutschen versteckt haben soll, wurde Bohatirchuk im Februar 1942 von der Gestapo verhaftet, einen Monat lang im Gestapo-Hauptquartier in Kiew festgehalten, schließlich aber wieder freigelassen.
Bohatirchuk in seinem Labor
Im Dezember 1943 rückte die Rote Armee auf Kiew vor. Bohatirschuk verließ zusammen mit seiner Familie die Stadt und flüchtete nach Krakau. Hier residierte Hans Frank als Generalgouverneur von Polen. Hans Frank gehörte seit den 1920er Jahren zum engeren Kreis um Adolf Hitler und fungierte vor der Machtergreifung der NSADP in vielen Prozessen als Rechtsanwalt von Hitler und anderen Nazigrößen. 1933 wurde er Justizminister von Bayern, war "Reichsrechtsführer", "Reichsleiter des Rechtsamtes der NSDAP" und schließlich "Generalgouverneur" des besetzten Polen. Seinen Sitz nahm er in der Wawelsburg in Krakau, dem früheren Sitz der polnischen Könige. Hans Frank und seine Frau plünderten Polen in der Folge systematisch aus. Frank Spitzname war "Der Schlächter von Polen."
Hans Frank beim Schach (Foto: Ullstein-Foto)
Frank intersseierte sich für Kunts, Musik und Philsophie war zudem ein großer Schachfreund und hatte in den besetzten Gebieten Schachkurse, Simultanvorstellungen und Schachturniere mit deutschen und solchen ausländischen Großmeistern, die im deutschen Einflussgebiet lebten, organisiert, darunter Keres und Aljechin. Im Februar spielte Bohatirchuk bei der 5. Meisterschaft des Generalgouvernements in Radom mit. In den Jahren zuvor hatte es bereits solche Meisterschaften in Krakau, Krynica-Zdrój, Warschau und Lublin mit zum Teil erlesener Besetzung gegeben. 1941 und 1942 hatte jeweils Aljechin gewonnen. Bei der Meisterschaft 1944 in Radom wurde Bohatirchuk Zweiter hinter Bogoljubow, der wie er aus der Ukraine stammte und mit dem er seit Jugendzeiten gut befreundet war. 1944 spielt Bohatirchuk dann in Prag gegen acht junge tschechische Spieler, darunter Cenek Kottnauer und Ludek Pachmann, und schlug sie 7,5:0,5.
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Zum Ende des Zweiten Weltkrieges trat Bohatirschuk, der auch Mitglied des Ukrainischen Nationalrats war, der "Russischen Befreiungsarmee" unter General Wlassow bei. Sie bestand aus Freiwilligen, russischen Emigranten, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die an der Seite der Deutschen Wehrmacht gegen die sowjetischen Kommunisten und die Rote Armee kämpften. Nach Kriegsende wurden die Mitglieder der Wlassow-Armee der Sowjetunion übergeben. Bohatirschuk konnte sich seiner Gefangennahme entziehen, wurde aber von der Sowjetführung fortan als Staatsfeind angesehen. Seine Partien wurden aus den sowjetischen Lehr- und Turnierbüchern getilgt und konnten erst später wieder aus anderen Quellen rekonstruiert werden. Vor der weiter vorrückenden Sowjetarmee brachte sich Bohatirchuk erst nach Berlin und Potsdam in Sicherheit, dann nach Bayreuth. Zeitweise lebte er in München. Seine Schachturniere spielte er unter dem Pseudonym "Bogenhols".
Fedor Bohatirschuk (Foto: Russiangrave)
1946 nahm Bohatirchuk in Regensburg am Klaus Junge Gedenkturnier teil. Die deutsche Nachwuchshoffnung hatte als Offizier der Wehrmacht in den letzten Kriegstagen in den Harburger Bergen mit einer kleinen Schar versucht, anrückende englische Panzer aufzuhalten und war dabei gefallen. Bohatirschuk gewann das Turnier vor dem baltischen Meister Elmars Zemgalis und Wolfgang Unzicker. 1947 nahm Bohatirchuk auch noch an einem Turnier in Kirchheim-Teck teil, bei dem er hinter Paul Tröger und Walter Niephaus Dritter wurde. Im Mai 1957 wurde er bei einem Internationalen Turnier in Kassel Sechster bei zehn Teilnehmern. Bogoljubow gewann das Turnier überlegen. Das letzte Turnier auf deutschem Boden spielte Bohatirchuk im September 1947 in Stuttgart und beendete es als geteilter Vierter. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hielten sich eine Reihe von weiteren "Displaced Persons" in Deutschland auf, darunter ein paar gute Schachspieler. Sie nahmen an einigen Turnieren teil und verschwanden dann nach und nach in Richtung Australien, Neuseeland, USA und Kanada. Edgars Zemgalis beispielsweise ging in die USA, Bohatirchuk wanderte 1948 nach Kanada aus und lebte von nun in Ottawa. Beruflich fasste Bohartirchuk als Mediziner schnell in seinem neuen Heimatland Fuß, lehrte an der Universität von Ottawa als Professor für Röntgen-Anatomie und veröffentlichte zahlreiche medizinische Studien. 1955 wurde er von der Britischen Radiologischen Gesellschaft mit der Barclay-Medaille ausgezeichnet. Nach 1960 war er Ehrenmitglied der Kanadischen Radiologischen Gesellschaft. Auch politisch war Bohatirchuk aktiv. Die "Ukrainischen Demokraten" wählten ihn 1952 zu ihrem Vorsitzenden. Zudem war er Chefredakteur des Exilmagazins "Skhidnyak" der "Vereinigung der föderalistischen Demokraten der Ukraine". In seiner 1978 erschienen Autobiografie "Moi zhiznenny put k Vlasovu i Prazhskomu manifestu" erklärte und rechtfertigte Bohatirschuk seine Kollaboration mit den Nazis als Mitglied der Wlassow-Armee. In diesem Jahr erschien ein Reprint.
Im Jahr 1949 veröffentlichte das Schachmagazin CHESS einen Brief von Fedor Bohatirchuk, in dem dieser sich kritisch zu der Entwicklung und zur Rolle des Schachs in der Sowjetunion äußerte. Schach diene in der Sowjetunion dazu, die Menschen auf harmlose Weise zu beschäftigen, um sie von der Politik fernzuhalten, war eine von Bohatirschuks Thesen. Bohatirschuk wurde für seinen Brief von mehreren Seiten angegriffen, unter anderem von Robert Wade und von Ludek Pachmann, im Zuge der über mehrere Ausgaben andauernden Kontroverse aber auch verteidigt. Pachmann, zu dieser Zeit noch Anhänger des Kommunismus, später Antikommunist und Dissident, entschuldigte sich später persönlich bei Bohatirschuk für seine Angriffe.
1949 nahm Bohatirchuk erstmals an den kanadischen Landesmeisterschaften teil und wurde Zweiter, 1951 belegte er den 3. Platz, inzwischen schon 59 Jahre alt. Während der Schacholympiade in Amsterdam 1954, an der Bohatirchuk als Mitglied der kanadischen Mannschaft teilnahm, wollte die FIDE ihm den Titel eines Internationalen Großmeisters verleihen, doch der UdSSR-Schachverband verhinderte dies. Immerhin wurde Bohatirchuk zum Internationalen Meister ernannt. Bohatirschuk verlegte sich nun mehr und mehr auf das Fernschach und gewann 1963 und 1964 die kanadischen Fernschachlandesmeisterschaften. 1967 erhielt er den Titel eines Internationalen Fernschachmeisters. Auch als Schachtrainer betätigte er sich und nahm den jungen Kanadier Larence Day (*1949) unter seine Fittiche. Day wurde daraufhin Internationaler Meister und spielte auf insgesamt 13 Schacholympiaden für Kanada. Auf Lawrence Day geht der Hinweis zurück, Boris Pasternak habe sich für seine Figur des Doktor Schiwago im gleichnamigen Roman Fedor Bohatirchuk als Vorbild genommen. Pasternak war selber ein guter Schachspieler:
Boris Pasternak schrieb seinen einzigen Roman zwischen 1946 und 1955 und erhielt dafür 1958 den Literaturnobelpreis, konnte diesen aber auf Druck der sowjetischen Regierung nicht annehmen. Der Roman spielt zum großen Teil im Ersten Weltkrieg und in der Zeit des Bürgerkrieges nach der Russischen Revolution und beschreibt eindringlich die Not der Menschen in dieser Zeit - zu eindringlich nach dem Empfinden der sowjetischen Führung. Die Hollywood-Verfilmung aus dem Jahr 1965 wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet.
1970 traf Boris Spassky Fedor Bohatirchuk und war von dessen Persönlichkeit beeindruckt. Zuhause berichtete er Mikhail Botvinnik von seiner Begegnung und seinen Eindrücken. Botvinnik hatte jedoch eine andere Erinnerung. "Wenn ich ihn träfe, würde ich ihn eigenhändig mitten in der Stadt aufknüpfen."
Bohatirchuks Grab (Foto: Soloscachi)
Bohatirchuk starb am 4. September 1984 in Ottawa. Er ist auf dem Pinecrest Cemetery Ottawa beerdigt.
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