Dr. Karsten Müllers „Schachendspiele 3 – Schwerfiguren“
Rezension von Marcus Wegener
"Schachkennern ist Karsten
Müller als Endspielkolumnist des ChessBase Magazins, spätestens aber seit
seinem zusammen mit Frank Lamprecht veröffentlichtem „Secret of Pawn Endings“
ein Begriff. Das zur Jahrtausendwende im englischen Everyman Chess Verlag
erschienene Werk erhielt, ebenso wie das nachfolgende „Fundamental Chess
Endings“ beim Gambit-Verlag, höchste Weihen der Kritik. Als Endspielautor steht
Karsten Müller seitdem auf einer Stufe mit John Nunn, der in den 90er Jahren
mit seiner „Secrets“-Reihe im Batsford Verlag das Revival der Endspielliteratur
einleitete, sowie dem Trainer-Guru Mark Dworetzki und dessen Kompendium „Die
Endspiel-Universität“.

Mancher wird sich
fragen, was denn aus dem Awerbach und dem Chéron geworden ist? Nun, wie sich
schlicht und ergreifend in den letzten Jahrzehnten herausgestellt hat, sind
diese ehemals so epochalen Werke in so vielen Punkten falsch oder zumindest
unvollständig gewesen, dass die Zeit einfach reif für neue Endspielbücher war.
Dies hat vor allem mit dem Ding zu tun, auf dessen Bildschirm Sie vermutlich
gerade starren: Durch den Einsatz von Computern konnten viele
Endspielstellungen komplett ausanalysiert werden. Momentan sind alle Endspiele
mit 2 Königen und höchsten 4 anderen Figuren auf dem Brett, die sogenannten
6-Steiner, vollständig gelöst. Als Ergebnis hieraus verfügt man nun über
riesige Datenbanken, sogenannte Tablebases, die in jeder beliebigen Stellung
mit 3-6 Steinen auf dem Brett angeben können, wie diese Position bei
beiderseits bestem Spiel endet und welches dabei die besten Züge für die
jeweilige Partei sind. Wie sich zeigte, entsprach in den alten Büchern schon
bei einigen simplen theoretischen Positionen die Darstellung nicht mehr den
harten Fakten.
Abgesehen von den Funden der Tablebases haben aber natürlich auch
Schachprogramme wie FRITZ ihren Anteil an zahlreichen Neubewertungen, weil sie
in vielen Positionen fehlerhafte Lösungen oder bessere Gewinnwege aufzeigten.
Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die neue Endspielliteratur das Licht
der Welt erblickte. Die aktuellen Endspielwerke, namentlich die von Karsten
Müller und Mark Dworetzki, sind Gott sei Dank nicht mehr so dröge wie zu früheren
Zeiten. [...] Wie aus dem bisher Gesagten deutlich wird, liegen mit den Büchern
von Müller und Dworetzki solche Endspiellehren als Printmedium bereits vor. Was
kann in diesem Zusammenhang nun noch eine DVD, was das Buch nicht kann? Um es
kurz zu sagen: Sehr viel!

Grundsätzlich ist bei Schach auf Video meines Erachtens Skepsis
geboten. Sicher ist es für manche eine schöne Sache, wenn sie z.B. Großmeistern
live dabei zusehen können, wie diese ihre Partien besprechen. Doch dass durch
das passive Rezipieren eines Films ein ähnlich großer Lerneffekt entsteht wie
beim selbstständigen Studium einer kommentierten Partie, wag(t)e ich zu
bezweifeln.
Im Fall von Karsten Müllers DVD ist jedoch alles anders! Ich würde
in diesem Fall sogar so weit gehen, dass ich zum Training der Endspiele PRIMÄR
das Studium der DVD empfehlen würde, um erst zur weiteren Intensivierung auf
die Literatur zuzugreifen. Das hat folgende Gründe:
- Die Gesamtspielzeit der DVD beträgt ca. 7 Stunden.
Dies ist zum einen ein vernünftiger Gegenwert für den Kaufpreis, zum
anderen aber bedeutet dies eine weitere Reduktion der Lehrbuchinhalte auf
das Wesentliche. Denn die Laufzeitlänge entsteht ja durch die intensive
Besprechung der einzelnen Stellungen durch GM Karsten Müller. Die Anzahl
der besprochenen Endspiele ist demzufolge deutlich kleiner. Man erhält
also wirklich die absoluten Endspiel-„Basics“ und kann dann auf diesen
aufbauend weitere Beispiele aus der Literatur hinzunehmen – wenn man will.
- Selbst wenn der Anwender es beim eben kritisierten
„passiven Betrachten“ dieser DVD belässt: Wir haben ja alle so einen
inneren Schweinhund zu überwinden und ich weiß nicht nur aus eigener
Erfahrung, dass wenige das Endspielstudium mit Lust und Feuereifer
betreiben. Ein gründliches, aber ungelesenes Endspielbuch wird jedoch
sicher einen geringeren Lernzuwachs erzielen können, als man ihn bereits
durch das einmalige Anschauen dieser DVD erreicht. Denn:
- Karsten Müller präsentiert die Inhalte so einprägsam
und logisch aufeinander aufbauend, dass unbedingt etwas hängen bleibt. Ich
habe vor dieser DVD gewiss schon einige Male etwas darüber gelesen, wie
man bei der Materialverteilung K+T vs. K+S einen vom König getrennten
Springer einfangen kann (gelingt dies nicht, wird die Partie remis). Ich
bezweifle allerdings, dass ich es während einer Partie hätte
rekapitulieren können. Wenn man aber einmal gesehen hat, wie Karsten
Müller das Prinzip der Dominanz erklärt und dabei nach jedem präzisen
Turmzug „Dominanz! Dominanz!“ schreit, prägt sich dies so gut ein, dass
man förmlich darauf brennt, es in der Praxis selbst demonstrieren zu
können.
- Vor allem aber ist man im Unterschied zum
Selbststudium der früheren „guten alten Zeiten“ mit dieser DVD beim
Training nicht mehr alleingelassen. Denn diese DVD wird mit FRITZ
geöffnet. Das bedeutet, dass man alles, was zuvor erklärt wurde, SOFORT in
der Praxis gegen FRITZ anwenden kann. Somit erhält man augenblicklich eine
Rückmeldung, ob der selbst gewählte Zug einfach nur einer der vielen Wege
nach Rom ist (deren es im Endspiel gewöhnlich eine ganze Menge gibt) oder
ob man damit vom richtigen Weg abkommt. Die enge Verzahnung zwischen
Lehrvortrag und anschließender aktiver Umsetzung macht in meinen Augen
dieses Trainingskonzept unschlagbar.
Auch sehr Gutes kann noch verbessert werden, weshalb ich im
Folgenden noch einige Kritikpunkte loswerden möchte. Zum einen bezieht sich
diese Kritik auf die Machart der Videos, die man vorsichtig umschrieben als
recht spartanisch bezeichnen darf. Bei einem ziemlich eintönigen
Hintergrundbild, einer einzigen Kameraeinstellung und einem schnittlosen
Endprodukt sind kleine Zooms der Kamera schon das höchste der Gefühle. Auf die
Dauer wirkt dies recht eintönig und die Konzentration des Betrachters geht in
den Keller. Gott sei Dank kommt von selbst immer dann wieder etwas mehr Fahrt in
die Sache, wenn Karsten Müller sich warmgeredet hat und dann durch seinen
lebendigen Vortrag den Zuschauer wieder „aufweckt“. Vorstellbar wäre aber,
durch wechselnde Kameraeinstellungen, wechselnde Hintergrundbilder oder einen
Co-Kommentator von vornherein für eine lebendigere Atmosphäre zu sorgen. Manche
werden dies vielleicht als belanglosen Schnickschnack abtun, meines Erachtens
wären diese „Kleinigkeiten“ gerade für ein Aufrechterhalten der Konzentration
wesentlich. Enttäuschend außerdem das Inhaltsverzeichnis: Die wenig
aufschlussreiche Betitelung (Festungen/Brechen von Festungen I,
Festungen/Brechen von Festungen II, Festungen/Brechen von Festungen III usw.
bis Festungen/Brechen von Festungen X [!]) lässt den Anwender ratlos, von wo er
herkam und wo er hin will.
Fazit: Wer im Endspielbereich noch einmal aufrüsten will, dem sei diese
DVD dringendst empfohlen. Für mich ist die ganze Reihe von Karsten Müller der
neue Königsweg zu den Endspielen."
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