Rückblick aus der Sicht des Schachsports auf die erste Dekade
des 21. Jahrhunderts
Teil 2: Die Jahre nach der Jahrtausendwende 2005 - 2010
Von Frank Große
2005
Während die Schachwelt sich auf der Suche nach der Nummer Eins befand, trat
Garri Kasparow nach einer Verlustpartie gegen Topalow überraschend vom professionellen
Schach zurück. Grund sei aber nicht der grauenvolle Fehler, der zum Verlust
führte, sondern die fehlende Perspektive in absehbarer Zeit um den Weltmeistertitel
kämpfen zu können. Kasparow, der kurz zuvor noch die Russische Super-Meisterschaft
gewann, widmete sich in den Folgejahren der Politik und dem Schreiben, ohne
seine im Schach erreichte Präsenz zu erlangen.
Die Hoffnung auf eine geordnete Schachwelt richtete sich auf das im September
in San Luis (Argentinien) ausgetragene Weltmeisterschaftsturnier. Acht Protagonisten,
darunter Judit Polgar, nahmen an dem doppelrundigen Mega-Wettkampf teil. Da
das Event abseits weltlicher Metropolen stattfandet, war die Bedeutung des Internets
für das Schach und der Übertragung der Partien unübersehbar. Für viele war Anand
aufgrund seiner konstanten Leistungen in den vergangenen beiden Jahren der Anwärter
auf den Titel. Doch es kam anders und ein neuer Kandidat im Kampf um die höchste
Stufe brachte sich ins Rennen: Topalow. Sein aggressives Spiel, bei dem er auch
Niederlagen in Kauf nimmt, war in diesem Turnier nicht zu stoppen und durch
eine fulminante Hinrunde (6,5 aus 7!) degradierte er die restlichen Turnierteilnehmer
zu Platzhaltern. Anand wurde mit anderthalb Zählern Rückstand Zweiter vor Peter
Swidler.
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2005 im Überblick:
Traditionell gibt es Erbensuppe beim Corus-Festival in dem kleinen holländischen
Seedorf. Wie beim Erbsenzählen wechselte die Führung bis kurz vor Schluss permanent,
bevor sich Anand und Leko absetzen konnten und der Ungar in seinem ersten Auftritt
nach der WM-Niederlage den alleinigen Sieg errang. In Linares teilten sich Kasparow
und Topalow den Turniersieg, wobei ersterer, mit seinen Gedanken wohl bei der
bevorstehenden Pressekonferenz, die alleinige Ehrung verschenkte. Beim M-Tel
Masters in Sofia wurde es den Teilnehmern erstmals verboten Remis anzubieten.
Damit versuchte der Veranstalter auf die Kurzremisen der vergangenen Jahre zu
reagieren und hatte Erfolg damit - die Regel wird sich in den Folgejahren etablieren.
Nutznießer der ersten Veranstaltung war Topalow, der nach verkorkstem Start
zu großer Aufholjagd ansetzte und vor den Patzern der Konkurrenz profitierte.
Die deutsche Mannschaftsmeisterschaft - kurz Bundesliga - konnte mit einem spannenden
Dreikampf Aufmerksamkeit erregen. Die ursprünglichen Anwärter SG Porz und OSC
Baden-Baden wurden von Werder Bremen attackiert und letztlich düpiert. Ein Sieg
im finalen Stichkampf ernannte die Bremer zum Deutschen Meister.
In Dortmund machte Arkadij Naiditsch auf sich aufmerksam und ließ als Lokalmatador
und Außenseiter der Weltelite den Blick auf seinen Rücken, indem er das Sparkassen-Meeting
gewann und den Grundstein für seine weitere Karriere legte.
Elisabeth Pähtz gewann den Titel der U20-Weltmeisterschaft bei den Frauen. Mit
10 aus 13 wird sie ungeschlagener Champion und hofft später im Rahmen einer
Sportsoldatin bei der Bundeswehr ihre Möglichkeit auszuloten. Alterstechnisch
auf dem Weg zur Frau machte ebenfalls auf sich aufmerksam: Katerina Lahno! Sie
wird mit 15 Jahren Europameisterin.
Bobby Fischer erhielt die Staatsbürgerschaft von Island und verhindert nach
achtmonatiger Abschiebehaft in Japan die Auslieferung an die USA.
2006
Der langersehnte WM-Kampf zwischen Topalow und Kramnik war das Ereignis des
Jahres. Bereits vor dem Match bestanden Spannungen zwischen den Spielern, Managern
und der FIDE. Schließlich wurde der von Vielen lang ersehnte Wiedervereinigungswettkampf zum Skandalmatch. Dabei begann der Wettkampf furios: Kramnik,
der im Vorjahr nach weniger guten Ergebnissen zwischenzeitlich auf Platz sechs
der Weltrangliste abgerutscht war, wurde in der ersten Partie von Topalow unter
Druck gesetzt und konnte nur durch den übertriebenen Ehrgeiz des Bulgaren triumphieren,
der seine Stellung überzog. In der zweiten Partie übersah Topalov ohne Zeitnot sogar
einen klaren Gewinn und verlor erneut, was an Dramatik kaum zu überbieten war.
Danach begann die Unruhe, die sich primär um die nicht videoüberwachten Toiletten drehten. Kramnik wurde die vertraglich zuvor zugesichtere persönliche Toilette geschlossen, woraufhin der Russe zur fünften Partie nicht antrat - und eine kampflose Null kassierte. Das Match stand kurz vor dem Abbruch. Ilyumzhinov reiste von einem Treffen der Republikpräsiendetn an und rettete die "Wiedervereinigung". Topalow kam nach dem Konflikt mit zwei Siegen zurück, musste aber prompt eine weiterte Niederlage einstecken. Der Gleichstand nach
zwölf Partien forderte vier Runden Schnellschach, bei denen Kramnik die besseren
Nerven präsentierte und den Titel gewann.
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2006 im Überblick:
Beim Kampf um die Spitze der ELO-Liste zeigen sich Anand und Topalow auf Augenhöhe
und mit mikroskopischen Abstand. In Wijk aan Zee reichten +5 nicht für den alleinigen
Turniersieg, den sich beide teilten, der Konkurrenz aber deutlich ihre Vormachtstellung
aufzeigten. In Linares spielte sich Levon Aronian vor die Weltelite und sorgte
für Aufmerksamkeit. Nichts Neues hingegen in Dortmund und Mainz: Kramnik und
Anand lauten die Abo-Sieger.
Eine Sensation zeichnete sich bei der Schacholympiade ab, bei der Russland wie
so oft der klare Favorit war und sich dem kleinen Außenseiter Armenien beugen
musste. Silber ging an China und Bronze an die USA. Der sechste Platz der russischen
Mannschaft kam einer nationalen Erschütterung gleich. Bei den Damen gewann die
Ukraine. Deutschland blieb mit Platz 15 (Herren) und 11 (Damen) im Rahmen seiner
Möglichkeiten. Bei der Wahl zum FIDE-Präsidenten scheiterte Bessel van Kok mit
seiner Kandidatur an Iljumschinow.
Arik Braun in den Fußstapfen von Elisabeth Pähtz. Der 18-jährige holte mit 9
aus 11 und einem ganzen Punkt Vorsprung auf die Konkurrenz den Titel des Jugendweltmeisters.
Der OSC Baden-Baden wurde nach mehreren Anläufen und knappen zweiten Plätzen
erstmals Deutscher Mannschaftsmeister. Die SG Porz wechselte nach dem enttäuschenden
dritten Platz einen Großteil des Kaders aus und mit dem TSV Bindlach griff ein
schlagkräftiger Aufsteiger in das Titelrennen ein. Die Bundesliga selbst strebte
die Selbstständigkeit an.
2007
Die Kandidatenkämpfe um die nächste Weltmeisterschaft in Mexiko sind die Chance
derer, die bislang noch nicht zum Zug gekommen waren. Die Weltmeisterschaft
wurde wie zwei Jahre zuvor wieder als Achterturnier ausgetragen. Anand, Swidler,
Morosewitsch und Kramnik waren vorberechtigt. Während Topalow - zu dem Zeitpunkt
aktiver und in den Turnieren erfolgreicher Weltranglistenerster - aufgrund seiner
Vorjahresniederlage vom Zyklus ausgeschlossen wurde, genoss Kramnik trotz Teilnahme
am WM-Turnier das Privileg ein Match gegen den Sieger ausrichten zu dürfen.
Die Unfähigkeit der FIDE ihr Reglement für die WM-Kämpfe weitestgehend fair
und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar zu gestalten, trat besonders zu Tage.
Souveräner Sieger wurde Anand, der Kramnik auf den zweiten Platz verwieß. Viele
Schachfans sympathisierten mit dem Inder, der seit 1995 in diversen WM-Kämpfen
seinen Erfolg suchte. Mit vier Siegen und ohne Verlustpartie zeigte er sich
auf dem Höhepunkt seiner Form. Den dritten Platz belegte Boris Gelfand, den
man vor dem Turnier eher Außenseiterchancen zubilligte. Das Turnier konzentrierte
sich erfreulicherweise auf die Aspekte auf den Brettern und verzichtete auf
Nebenschauplätze. Die FIDE verabschiedete sich nach dem Ereignis vom Turniermodus
und kehrte zum traditionellen Zweikampfformat zurück.
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2007 im Überblick:
Während zwischen Topalow und Kramnik die Eiszeit ausgebrochen war, bewegte sich
Aronian weiter in den Frühling und konnte gleich das erste Event des Jahres
für sich entscheiden: Wijk aan Zee. Anand siegte im zweigeteilten Turnier zu
Morelia/Linares vor Carlsen - der damit in der Weltspitze angekommen war - und
Morosewitsch. Das einst als K.O.-Weltmeisterschaft ausgetragene System wurde
zum World Cup umbenannt und versammelte fast die komplette Weltelite. Altbekannte
drängten bis ins Finale vor: Alexei Schirow und Gata Kamsky. Der Amerikaner
feierte ein bemerkenswertes Comeback, gewann das Finale und stand als Matchgegner
von Topalow fest.
Dresden richtete die Europameisterschaft aus und verwendete dieses Turnier als
Generalprobe für die im darauf folgenden Jahr stattfindende Schacholympiade.
Besonders im Bereich der Pressearbeit musste sich die Veranstaltung berechtigte
Kritik gefallen lassen, die Spielbedingungen wurden von den Teilnehmern gelobt.
Der hohe Preisfond sorgte dafür, dass das Teilnehmerfeld so groß und stark wie
nie zuvor war. Wladislaw Tkatschiew und Tatjana Kosinzewa trugen sich in die
Siegerlisten ein.
Der OSC Baden-Baden begann seine Ära als neuer Abonnement-Meister. Der stärkste
Widerpart, die SG Porz wurde von seinem Mäzen Wilfried Hilgert vom Spielbetrieb
zurückgezogen, da sich dieser in die Eigenständigkeit und Selbstvermarktung
jenseits des DSB begeben hatte.
2008
Deutschland ist im Schachherbst zweimal präsent: Zuerst der WM-Kampf in Bonn zischen Anand und Kramnik, dann die Schacholympiade,
die in Dresden stattfand und als eine der größten Ausrichtungen dieser Veranstaltung
in die Geschichte einging. 146 Mannschaften beim offenen und 111 beim Frauenturnier,
sowie ca. 3700 Teilnehmer bei den Rahmenturnieren ließen die sächsische Landeshauptstadt
für vierzehn Tage im Zeichen des karierten Brettes stehen. Die Mängel der Euro
2007 wurden weitestgehend ausgeräumt, die Finanzlücke von 1,7 Millionen Euro
wurde mittels Steuergeldern ausgeglichen. Als Regelneuerung wurden Remisgebote
vor dem 30. Zug untersagt, sowie die Null-Karenzzeit eingeführt. Das armenische
Team konnte seinen Erfolg wiederholen und Russland landete mit dem fünften Platz
erneut außerhalb der Preisränge. Silber belegte Israel und Bronze ging erneut
an die USA. Deutschland trat mit drei Teams an, wobei die A-Nationalmannschaft
insbesondere in der erste Turnierhälfte ausgezeichnet mitspielte. Der in der
Endabrechnung festgehaltene 13. Platz offenbarte nicht die ordentliche Leistung,
da gegen die starken Teams gespielt wurde. Die deutsche Jugendnationalmannschaft
belegte den 42. Platz. Bei den Frauen gab es mit Georgien auch einen Überraschungssieger,
während die Damen-Mannschaft unter den Erwartungen blieb.
Jan Gustafsson und Arkadij Naiditsch bei der Schacholympiade in Dresden 2008
ChessBase Olympiastudio. André Schulz hat die indische Spielerin Tania
Sachdev zu Gast.
Der vorherige WM-Kampf zwischen zwischen Anand und Kramnik in Bonn verlief klarer als erwartet. Gab man
vor dem Kampf beiden Protagonisten annähernd gleiche Chancen, erwies sich der
Verlauf als recht einseitig: Anand hatte nach der Hälfte der Wettkampfpartien bereits
drei Siege auf dem Habenkonto, die er sicher abtrug und das Match 6,5:4,5 für
sich entschied. Damit hatte Anand alle verschiedenen Weltmeister-Zyklen (K.O.-WM,
Achterturnier und Zweikampf) gewonnen und alle evtl. noch vorhandenen Zweifel an seiner Berechtigung
als Träger der Schachkrone nachhaltig beseitigt.
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2008 im Überblick:
Die 70. Auflage des im Januar stattfindenden Traditionsturniers von Wijk aan
Zee versammelte die Weltelite im A-Turnier, konnte auf ein gut besetztes B-Turnier
und für die Nachwuchstalente C-Turnier verweisen. Carlsen, der noch vor wenigen
Jahren im C-Turnier gespielt hatte, teilte sich den Turniersieg mit Aronian.
Mehr journalistische Aufmerksamkeit erregte die Partie zwischen Topalow und
Kramnik, dessen Stellung nach dem 11. Zug sich auf der Titelseite der FAZ wiederfand.
Anand wiederholte in Morelia/Linares seinen Vorjahressieg und platzierte den
Norweger Carlsen und Topalow auf dem Treppchen. Während sich Linares, Wijk aan
Zee und Sofia Grand Slam-Turnierserie zusammenfügen, die ihr Finale in der Öffentlichkeit
in Bilbao austrug, hatte der Grand Prix der FIDE Schwierigkeiten mit der Finanzierung
und Veranstaltungsplätzen. Topalow gewann das Grand-Slam-Finale im Glaskasten.
Beim Sparkassen-Chess-Meeting meldete sich Dauergast Peter Leko mit einem Sieg.
Jan Gustafsson landete nur einen halben Punkt hinter ihm in der Gesamtabrechnung,
aber vor Seriensieger Kramnik, der den enttäuschten vorletzten Platz belegte.
Anand verteidigte den Titel des schnellsten Spielers in Mainz.
Bobby Fischer starb in Island.
2009
Stellung nach 27. h5 in Morosewitsch - Vachier-Lagrave, Biel 2009
Eine Diagrammstellung hielt die Schachwelt im Sommer in Atem. Nach
27… Th7
konnte der Weiße den schwarzen Turm vierundzwanzig Züge lang schlagen und doch
nicht! Gespielt wurde das studienartige Juwel beim Traditionsturnier in Biel,
wo der erst 18-jährige Franzose Maxim Vachier-Lagrave dem russischen Seriensieger
Alexander Morosewitsch die Show und seinen vierten Turniertriumph stahl. Vachier-Lagrave
bewies wenige Monate später seine Klasse und errang den Titel des Junioren-Weltmeisters.
Seit vier Jahren nicht mehr aktiv in das Turniergeschehen eingreifend, waren
Garri Kasparows Medienauftritte immer noch polarisierend. Gegen seinen ehemaligen
Erzrivalen Anatoli Karpow bestritt er einen Jubiläumskampf der epochalen Weltmeisterschaftskämpfe
der 80er. Der Wettstreit hatte keine sportliche Relevanz und Karpow war in allen
Belangen deutlich unterlegen. Mit dem gerade 19-jährigen Magnus Carlsen im Schlepptau
absolvierte er zahlreiche Trainingseinheiten und führte ihn an die Weltranglistenspitze.
Beim ersten Auftritt nach der Bekanntgabe der Trainingseinheiten verwies Carlsen
in Nanking die Konkurrenz deutlich in die Schranken und siegte mit einer ELO-Performance
jenseits der 3000 und 2,5 Punkten Vorsprung vor Topalow. Dabei gewann er doppelt
so viele Partien wie der Rest des Feldes zusammen! Kurz darauf schlug Carlsen
erneut zu und gewann die Blitzweltmeisterschaft mit drei Punkten Vorsprung.
Den zweiten Platz belegte der amtierende Weltmeister Anand, der sich Carlsen
in beiden Partien geschlagen geben musste.
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2009 im Überblick:
Den Auftakt im Reigen der "großen Turniere" machte wie jedes Jahr das Corus-Festival
im kleinen holländischen Seedorf Wijk. Der frisch gekürte Weltmeister Anand
fehlte erstmals, ebenso wie Kramnik und Topalow. Mit einem ELO-Schnitt von 2716
(bei 14 Teilnehmern) zählte das Wijk aber natürlich immer noch zu den besten
und vor allem interessantesten Turnieren des Jahres. Der Sieger in diesem Jahr
war der erst 19-jährige Sergej Karjakin, der sich damit wieder für höhere Aufgaben
empfahl.
Mit einem Preisfond von 314.000 Euro lief Linares allen anderen Superturnieren
deutlich den Rang ab! Das konnte auch Weltmeister Anand erstmals nach seinem
Titelgewinn hervorlocken. Als Turnierfavorit gestartet, musste er den Turniersieg
aber Alexander Grischuk gewähren, der das ganze Turnier über in Führung gelegen
hatte und mit dieser unerwarteten Leistung den bisher größten Erfolg seiner
Karriere erreichte.
Alexei Schirow ist wieder da! Der Wahlspanier stahl Topalow und Carlsen die
Show und wurde ungeschlagener Turniersieger. Er feierte mit dem Gewinn des 5.
M-Tel Masters (Kategorie 21) in Sofia den größten Turniererfolg seiner Karriere.
Der FIDE-Grand Prix war fest in der Hand des armenischen Großmeisters Levon
Aronjan. Nach Siegen und guten Platzierungen in den Qualifikationsturnieren
stand er bereits vorzeitig als Finalteilnehmer fest. Dort fuhr er einen nie
gefährdeten Sieg ein und krönte damit seine Wettkampfleistungen des Jahres.
Zum neunten Mal konnte sich Kramnik in die Siegerliste des Sparkassen Chess-Meetings
von Dortmund eintragen, womit er Rekordsieger ist. Im kommenden Jahr wird er
die "Zehn" nicht vollmachen können. Die "Neun" zum Verhängnis wurde Anand, der
neun Mal in Folge die Rapid World Championship bei den beliebten Chess Classics
in Mainz gewinnen konnte. Der Weltmeister präsentierte sich völlig außer Form
und strauchelte bereits in der Vorrunde. Neuer Schnellschachweltmeister wurde
Aronian.
Wassili Iwantschuk - und seine Fans - erlebte(n) hingegen eine Berg- und Talfahrt.
Im ersten Halbjahr überspielt wirkend, brach er reihenweise in Turnieren ein
und musste gar bangen unter die ELO-Schallmauer von 2700 zu fallen. Im Sommer
meldete er sich eindrucksvoll zurück, bevor er beim Tal-Memorial seine letzte
Partie - auf Gewinn stehend - verdarb und Kramnik den Turniersieg "schenkte".
Als er wenige Wochen später in Runde 2 beim Welt Cup gegen den bis dato unbekannten
philippinischen Spieler Wesley So verlor, war dann aber Schluss mit lustig und
der charismatische Ukrainer kündigte frustriert den Rücktritt vom Profischach
an. Der Rücktritt vom Rücktritt folgte ein paar Tage später, als er sich bei
seinen Fans für seine emotionale Entscheidung entschuldigte.
2010
2004 - und nach achtjähriger Turnierpause - kehrte der Amerikaner Gata Kamsky
zurück in die Arena. Fünf Jahre später verlor er unglücklich das WM-Qualifikationsmatch
gegen Topalow, der ein halbes Jahr später als geplant Anand zum Kampf um die
Krone herausforderte. Dieser Zweikampf war das mediale Ereignis des Frühjahrs
mit dem Ergebnis, dass der neue und alte Weltmeister Anand lautete. Mit seinem
Herausforderer Topalow lieferte er sich bei seinem Heimspiel in Sofia einen
der spannenderen Wettkämpfe der Neuzeit. War der Ausgang vor dem Match aufgrund
der verhältnismäßig gleichen Spielstärke unklar, entwickelte sich ein nervenaufreibendes
Ringen, das seinen Höhepunkt in der letzten Partie mit dem Triumph des alten
Weltmeisters fand, der sich Topalows fehlende Coolness zu Nutze machte.
Damit vollzog der Bogen seine Bahn zurück zum Ausgangspunkt und innerhalb eines
Jahrzehnts konnte Anand seinen Titel dreimal gewinnen. Die Suche nach dem ‚wahren'
oder besser ausgedrückt, von allen Seiten anerkannten Weltmeister, hatte ein
Ergebnis gefunden und die FIDE als alleinige Schachföderation sah sich einer
guten Ausgangslage für die Zukunft gegenüber. Wäre da nicht eine gewisse Beständigkeit
der Unbeständigkeit in Bezug auf die Änderungen seitens des Reglements. Dies
führte dazu, dass Kronprinz Carlsen kurz vor Jahresfrist den Rückzug aus dem
aktuellen WM-Kandidatenzyklus mitteilte. Seine Begründung: der Zyklus dauere
ihm zu lange (2008-2012) und die mehrfachen kurzfristigen Änderungen des Reglements
werde er nicht akzeptieren. Beginnt nun das Spiel von neuem oder hat der Titel
des Weltmeisters aufgrund jahrelanger Querelen seine Anziehungs- und Aussagekraft
verloren?
Am 01. Januar des vergangenen Jahres begann eine neue Dekade und der Blick zurück
auf die Top 20 der ELO-Zahlen vom 01.01.2000 zeigt, dass sich ein Großteil der
Topspieler über diesen langen Zeitraum dort manifestieren konnte. Kasparow,
der seit seinem Rücktritt nicht mehr auftaucht, wurde praktisch von Carlsen
ersetzt und Aronian hat sich seinen Stammplatz in den Top 10 erkämpft. Aber
Topalow, Anand und Kramnik sind nicht wegzuleugnen. Es ist davon auszugehen,
dass neue Namen die nächsten Jahre bereichern werden. Schritt für Schritt oder
Zug um Zug …
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2010 im Überblick:
Die Schlöte der Hochöfen in Wijk aan Zee waren Zeugen von Alexei Schirows Raketenstart
(5 aus 5). Aber nach einem kleinen Knick musste er sich letztlich Kramnik und
Carlsen knapp geschlagen geben und konnte keinen weiteren Turniersieg an seine
Schnalle heften. Die anhaltende Wirtschaftskrise verpasste es auch nicht, die
großen Turniere zu beeinflussen. In Linares wurde das Teilnehmerfeld auf sechs
reduziert, was sich als ideales Vorbereitungsturnier für den WM-Zweikampf von
Topalow erwies. Er siegte trotz einiger Experimente am Brett und musste sich
nur dem Vorjahressieger Grischuk geschlagen geben. Beim Grand-Slam-Finale in
Bilbao setzte sich Kramnik gegen Carlsen durch, wobei die Entscheidung erst
in der letzten Runde fiel.
Das "deutsche Schach" sollte im Laufe des Jahres mehrfach in den Fokus geraten.
Zunächst war da der 18-jährige Niclas Huschenbeth, der überraschend die deutsche
Meisterschaft gewann. Keine Langeweile im Sommerloch bescherte die Unzufriedenheit
zwischen dem Deutschen Schachbund und seinen Nationalspielern Naiditsch, Meier,
Fridman und Gustafsson. Diese hatten in einem Brief an den DSB-Präsident um
eine Erhöhung der Honorare für die bevorstehende Schacholympiade ersucht und
erhielten kein positives Echo. Als Quintessenz dessen sagten die Spieler ab
und Deutschland trat mit einer B-Mannschaft an. Da der Start an einer verhältnismäßig
geringen Gesamtsumme gescheitert ist, entbrannten heftige Diskussionen über
die Arbeit und Ausrichtung des Deutschen Schachbunds. Als Resultat belegte das
deutsche Team bei den Herren mit dem 64. Platz das schlechteste Ergebnis aller
Zeiten bei der Olympiade.
Zum vierten Mal hintereinander eroberte die OSG Baden-Baden den Meistertitel
in der Schachbundesliga bei den Männern und unterstrich damit die Dominanz.
Bei den Frauen scheiterten die Badener und überließen den Titel an das Team
vom USV Volksbank Halle.
Das Schach sich durchaus auch außerhalb von schnöden Plakaten und Filmchen seitens
der Banken und Wirtschaft vermarkten lässt, bewies der Deal der Modemarke G-Star
mit Magnus Carlsen. Der in der Vergangenheit eher schüchterne Norweger gibt
dem Schach quasi auf dem Catwalk ein neues Gesicht. Ein Match gegen "den Rest
der Welt" war der Höhepunkt der Kampagne, bei der der Kronprinz seine Hoheitsansprüche
bewies.
Die Schacholympiade in Chanti-Mansisk war der 14-tägige Höhepunkt des Schachherbstes,
bei dem Russland bei den Männern erneut den Titel nicht erobern konnte. Wassili
Iwantschuk führte sein Team der Ukraine an die Tabellenspitze und bot zugleich
die beste Leistung am ersten Brett: 8 aus 10! Während sich Russland mit Silber
begnügen musste, konnte Israel den dritten Platz belegen. Bei den Damen hingegen
zerstörte das russische Team die Konkurrenz und konnte punktverlustfrei (22:0
Mannschaftspunkte) China und Georgien auf Distanz halten. Am Rande der Olympiade
fanden die Wahlen zum neuen FIDE-Präsidenten statt, bei denen sich Kirsan Iljumschinow
mit einer 95:55-Mehrheit durchsetzte. Damit ließ er dem medienpräsenten Team
um Anatoli Karpow, das vom Deutschen Schachbund unterstützt wurde, das Nachsehen.