Von Jörg Schulz
Der 8. August 2008. Die Olympischen Spiele in Peking werden
eröffnet, Georgien überfällt Südossetien und Russland bombardiert als Antwort
darauf Georgien und marschiert in das Nachbarland ein. Gleichzeitig auf dem
Berliner Flughafen Tegel versammeln sich dreizehn Jugendliche und ein Vertreter
der Deutschen Schachjugend, um zum ersten deutsch-russischen Jugendaustausch
über Moskau nach Obninsk aufzubrechen. Jugendaustausch steht für Freundschaft
zwischen den Völkern, Verständigung zwischen den Kulturen.
Als die Deutsche Sportjugend zu Beginn diesen Jahres die
Deutsche Schachjugend bat, Vorreiter beim neu aufzubauenden Jugendaustausch zu
werden und den Kontakt zur russischen Sportjugend aufzubauen, konnte keiner
wissen, welche Aktualität dieser beginnende Jugendaustausch erhalten sollte.
Die Verständigung mit der Russischen Sportjugend und ihrem
Ansprechpartner Ilja Baksalyar verlief problemlos und einvernehmlich. Schnell
wurden Altersgrenzen und Programme eines Jugendaustausches festgelegt. Nicht
wissen konnten wir zu dem Zeitpunkt, dass gar nicht die Russische Sportjugend
den Jugendaustausch durchführte, sondern damit eine Schachschule in Obninsk,
einer Stadt mit ca. 100.000 Einwohnern, ungefähr 100 km von Moskau entfernt
gelegen, beauftragte, allerdings dabei vergaß die getroffenen Absprachen
weiterzuleiten. So hatten wir zwar ein interessantes Programm in den Händen,
wussten ansonsten weder, wer unsere Partner sein würden, wo wir hin sollten, wo
wir wohnen würden. Eine Reise ins Ungewisse.
Dies trübte die Erwartungshaltung der dreizehn Jugendlichen
aus Bayern, Sachsen, NRW, Hessen, Niedersachsen und Berlin nicht. Sie alle
hatten sich über die offene Ausschreibung für den Austausch beworben und
bestiegen nun voller Spannung den Flieger nach Moskau.
Die erste Überraschung erwartete uns bei der Abholung.
Warum auch immer unsere russischen Partner hatten ein zu kleines Automobil
mitgebracht. Der Kleintransporter reichte eventuell für zwölf Personen ohne
Gepäck aus. Wir waren aber dreizehn mit Koffern, hinzu kamen die beiden Abholer.
Bequem wurde die Fahrt so nicht. Dafür aufregend.
Denn der Fahrer zeigte uns gleich bei total überfüllten
Straßen, wir kamen am Freitagabend an, wo alle Moskauer raus aus der Stadt in
ihre Wochenendhäuser fahren, wie man in Russland Auto fährt auf Straßen, die in
keinem guten Zustand sind. Die so genannten Schnellstraßen hatten kaum
Markierungen außer einem Mittelsteifen, aber auch den nicht immer. Im Prinzip
passen auf eine Fahrbahn zwei Autos neben einander. In unserem Fall wurden die
Spuren aber gleichzeitig in Dreierreihen befahren und überholen tut man links,
rechts und in der Mitte, oder aber über den Seitenstreifen, also der vierten
Spur.
Und ist einem die Schlange des Staus zu lang, dann schert
man aus und überholt auf der Spur des Gegenverkehrs. Da nun aber auch dort ab
und an ein Auto fährt, wird dann scharf abgebremst und das Steuer scharf nach
rechts gedreht, man muss ja in die Schlange zurück. Irgendwie hat es unser
Fahrer auch immer wieder geschafft. Wer schwache Nerven hat, sollte in Russland
beim Autofahren nicht vorne auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, sondern Augen zu
und auf die Rückbank!
Nach gut vier Stunden waren wir am Ziel. Am Ziel? Es war
nichts zu erkennen als Wald. Wo war Obninsk? Noch ungefähr 10 km entfernt.
Untergebracht wurden wir in einem eigenen Haus in einer Ferienanlage mitten im
Wald, in dem sich auch die Mücken sehr wohl gefühlt haben.
Von außen und im Dunkeln sah alles etwas trübe aus. Innen
aber fanden wir eine gute Unterkunft vor. Mit viel Holz gestaltet, einer Sauna
und einem kleinen Schwimmbecken war unsere Unterkunft gut ausgestattet. In dem
Haus wurden auch das Frühstück und das Abendessen eingenommen. Die russische
Küche bereitete unseren Geschmacksnerven einige Probleme, vor allem der warme
Griesbrei und andere Breivarianten am Morgen wussten nicht zu gefallen.
Obninsk, wo wir uns bis zum Abreisetermin am 16. August
aufhielten, ist in den fünfziger Jahren in die Wälder Russland hinein gebaut
worden. Eine dementsprechend leblose Stadt ohne Herz und Geschichte mit
vorwiegend monotonen Plattenbauten und kaputten Straßen, übersäht mit
Schlaglöchern. Sieht man davon ab, dass dort die sowjetischen Wissenschaftler an
der Atomwirtschaft forschten und das weltweit erste Atomkraftwerk für die
Stromerzeugung ans Netz brachten. Dementsprechend heißt Obninsk auch Stadt der
Wissenschaft. Heutzutage widmet man sich der Wettererforschung und hat dort
einen der höchsten Forschungsmasten der Welt installiert, um dem Wetter auf die
Spur zu kommen.
Aber auch der Sport wird in Obninsk groß geschrieben. Wir
waren mit unseren Schachaktivitäten in der Sportschule von Obninsk angebunden.
Mit sehr modernen Sportstätten ist die Schule ausgestattet, wobei der
Schwerpunkt auf den Kampfsportarten liegt. Geist und Körper sollen dort geformt
werden, weshalb auch alle Schüler in den ersten beiden Klassen Schach lernen
müssen als reguläres Schulfach. Danach ist Schach ein freiwilliges Angebot und
mit Interesse vernahm ich, dass es auch in Russland immer schwerer fällt, ältere
Jugendliche für Schach zu gewinnen beziehungsweise beim Schach zu halten. Immer
mehr andere Freizeitaktivitäten drängen in den Vordergrund, weshalb versucht
wird, immer früher mit Schach zu beginnen, um überhaupt Nachwuchs zu bekommen.
Der Jugendaustausch erfuhr große Aufmerksamkeit. Der
Schulleiter der Sportschule führte ebenso Gespräche mit uns über einen
langfristigen Austausch wie das Fernsehen zu Gast war und die Printmedien. Und
alle berichteten mit Erstaunen, dass die deutschen Gäste den Vergleichskampf und
auch den Schnellschachvergleich jeder gegen jeden gewannen. Sehr zum Ärger des
russischen Schachtrainers Igor Sokrustov, der uns die ganze Zeit über betreute.
Er gehört zum Trainerstab der Karpow Schachschule und ist Leiter der Obninsker
Schachschule sowie Schachlehrer an der Sportschule. Das mit den schachlichen
Vergleich hatte er sich anders vorgestellt, vor allem da unsere Spielstärke im
Team von DWZ 1020 bis 2183 reichte, wir also nicht unbedingt unschlagbar
schienen.
Das durch ihn vorgenommene Training verlief, wie man es
erwarten konnte. Vorne am Demobrett wurden Partien in Reihe vorgestellt, wobei
Technik nicht genutzt wurde, vielmehr arbeitete er mit alten Kladden, wie man es
von früher in der Sowjetunion gewohnt war.
Dafür war der Schachraum vom feinsten ausgestattet. Lauter
Schachtische fanden wir vor, allerdings mit recht abgewetzten alten
Schachfiguren, die Weltmeister mit Porträts an der Wand und Merksätze für die
Schüler.
Neben Igor kümmerte sich rund um die Uhr Boris Borisov um
uns. Er ist der Vorsitzende der Obninsker Schachspieler und hauptberuflich
Immobilienmakler, ein derzeit einträglicher Beruf in Russland, da die neuen
Reichen im Land alle nach Eigentum auf dem Land trachten. Nebenbei betreibt er
weitere Geschäfte und so erzählte man sich, dass ihm auch die Ferienanlage
mitgehören sollte.
Ein weiterer Besuch galt dem Museum der Weltraumforschung
in Kaluga, der Hauptstadt der Region, in der wir uns aufhielten.
Dort war in der Sowjetunion die Weltraumforschung
angesiedelt und von dort machte sich Juri Gagarin auf in den Weltraum!
Für die deutschen Teilnehmer war natürlich der Höhepunkt
des Austausches der Besuch in Moskau. Für mich eher eine nervenaufreibende
Sache, denn ich wollte so gerne mit dreizehn Jugendlichen nach Moskau fahren und
auch mit dreizehn zurück kommen, was in der Millionenmetropole nicht so
einfach ist, vor allem nicht wenn man die örtliche Metro benutzt. Ein
wahnsinniges Verkehrsmittel. Wir nutzten gleich die erste Chance der ersten
Fahrt, um ein Drittel unserer Gruppe zu verlieren. Doch schon eine Stadion
später fanden wir zusammen und blieben es fortan auch. Zuvor hatten wir schon in
Obninsk an einem Supermarkt einen Teilnehmer stehen lassen und vermissten ihn
erst später. Doch er behielt die Ruhe und wartete geduldig, bis wir ihn wieder
eingefangen hatten.
Einmal auf dem Roten Platz stehen vor dem Kreml, vor dem
Mausoleum von Lenin und all den anderen Sehenswürdigkeiten, das war es wert nach
Moskau gefahren zu sein.
Das Historische Museum
Das Auferstehungstor
Die Basiliuskathedrale
Lenin und Zar Nikolaus
Welchen Stellenwert dem Jugendaustausch beigemessen wurde,
zeigte auch der Besuch von GM Igor Glek, der extra aus Moskau zu uns gefahren
kam. Vor allem aber zeigte dies der Besuch des Vorsitzenden der Russischen
Sportjugend. Mit ihm verhandelten wir zwei, drei Stunden lang den weiteren
Fortgang des Austausches. Es bahnt sich eine langfristige Zusammenarbeit an. Die
russische Seite möchte aus dem ersten Besuch eine regelmäßige Begegnung machen.
Jährlich soll die Deutsche Schachjugend mit Jugendlichen nach Russland kommen
und natürlich auch Russen nach Deutschland einladen. Wenn die deutschen
Geldgeber mitspielen, warum nicht?
Der erste Jugendaustausch hatte hier und da noch seine
Anfangsprobleme, vieles wurde improvisiert, doch die Gespräche versprechen
Besserung für die nächsten Jahre. Die Jugendlichen waren begeistert und wollen
unbedingt weiter dabei bleiben.
Und vielleicht denken die Russen im nächsten Jahr daran,
dass nicht alle Deutschen Russisch sprechen. Denn wir stießen nur auf Russen,
die bestimmt gut Russisch sprachen, sonst aber nichts. Und einen Dolmetscher gab
es auch nicht. Zum Glück hatten wir drei gebürtige Russen beziehungsweise
Usbeken im Team, die die Dolmetscherarbeit übernahmen. Noch mal vielen
herzlichen Dank an Valeria Pantusenko, Leonid Zeldin und Jürgen Mazarov, ohne
euch wären wir verloren gewesen!
Vom Krieg zwischen Georgien und Russland blieben wir
unbehelligt und vielleicht, wenn der internationale Jugendaustausch weiter
ausgebaut wird, verzichtet die Welt ja irgendwann einmal auf kriegerische
Problemlösungsstrategien.
Russland wir kommen wieder!
Jörg Schulz