Die Entscheidungspartie

von Thorsten Cmiel
09.08.2022 – Die Entscheidung über die Vergabe der Goldmedaille bei der Schacholympiade in Chennai fiel in einer Partie: im Duell zwischen Gukesh und Abdusattorov. Der 16-jährige Inder stand nach der Eröffnung besser und schließlich auf Gewinn. Doch dann glitt Gukesh die Partie nach und nach aus den Händen.

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

Anatomie eines schachlichen Unfalls

Chennai. In der zehnten Runde kam es bei der 44 Schacholympiade 2022 zum Kampf der zwei Überraschungsmannschaften. Die Youngster von Indien 2 spielten endlich gegen Usbekistan. Die Usbeken lagen zu diesem Zeitpunkt mit einem Matchpunkt vorne. Damit war klar, dass dieser Wettkampf eine Vorentscheidung für die Goldmedaille in der offenen Klasse bringen würde. Es lief zunächst hervorragend für die Inder, die mit Schwarz zwei Remis erreichten. Kurz vor der Zeitkontrolle war damit klar, dass Pragg seine Partie gegen Sindarov gewinnen würde. Am ersten Brett spielten die zwei überragenden Spieler am Spitzenbrett gegeneinander. Gukesh für Indien und Nodirbek Abdusattorov für Usbekistan.

Die Anspannung der Kontrahenten in dieser Partie fängt am besten ein Videozusammenschnitt von Chessbase India ein.

 

 

Der Verlauf der Partie ist einfach erzählt: Gukesh hatte erneut einen hervorragenden Tag erwischt. Nodirbek stand hinten drin und nach 32 Zügen sah es nach einem klaren Sieg für Indien aus. Gukesh musterhafte Partieführung hatte zu der folgenden Stellung geführt.

 

 

Gukesh – Abdusattorov Weiß ist am Zuge

 

Der Bauer auf c5 geht verloren und die einzige Aufgabe von Weiß besteht darin, Eindringen der gegnerischen Dame zu verhindern. Gukesh kann den Bauern hier schlagen, aber sein Zug mit dem f-Bauern von f2 nach f3 ist ebenfalls bestens geeignet. Der Usbeke weiß nicht wie er überhaupt weiterspielen soll, zieht seine Dame nach d6 und nimmt das Feld g3 ins Visier. Nach diesem Zug kann der Inder mit dem Springer auf c5 nehmen, den Läufer angreifen und mit dem Springer zurück nach d3 ziehen. Es kann nicht mehr lange dauern und Indien jubelt, denkt man.

Gukesh spielt seinen König nach f1, vermutlich um mit seinem König von e2 oder e1 das Eindringen auf der eigenen Grundreihe zu verhindern und erst dann auf c5 mit dem Springer, oder mit einem König auf e2 mit der Dame auf c5 zu nehmen. Diese Methode wirkt etwas umständlich, sollte aber ebenfalls funktionieren.

 

 

Gukesh – Abdusattorov Weiß ist am Zuge

 

Zeitkontrolle geschafft. Weiß steht klar auf Gewinn. Der Usbeke hatte seinen Läufer kurzzeitig auf f5 eingesetzt und Gukesh den a-Bauern gegen den e-Bauern seines Gegners getauscht. Aber erstmals stört eine gegnerische Drohung, wäre Schwarz hier am Zuge, er würde ein Schach auf g1 geben. Gukesh wehrt die vermeintliche Drohung seines Gegners ab und arbeitet weiter an der Verwertung seines Vorteils. Dennoch ahnt man als erfahrener Spieler, dass der weiße König langfristig ein sicheres Versteck benötigt, um gegnerischen Schachgeboten auszuweichen. Nach dem Springerzug nach c5 und Zug der gegnerischen  Dame nach a5, antwortet Gukesh mit dem Zug seines Königs nach d1. Erstmals bekommt man als Beobachter kleine Zweifel an einem zweiten Sieg heute für Indien. Der König wäre gefühlt auf h2 sicherer und würde nebenbei den eigenen Bauern auf g2 verteidigen. Aber Gukesh ist ein guter Rechner und wird schon wissen was er macht, beruhigen sich erstmals zweifelnde Beobachter.

 

 

Gukesh – Abdusattorov Weiß ist am Zuge

 

Einzig die weiße Königsstellung ohne Schutz gibt Schwarz hier noch etwas Hoffnung. Aber der weiße König steht auf c2 so postiert, dass der gegnerischen Dame auf der d-Linie keine Einbruchsfelder verbleiben. Läuft gut. Der nächste Zug von Gukesh überrascht, verblüfft, erschreckt den Zuschauer. Es ist der erste Zug ohne erkennbaren, nachvollziehbaren Hintergrund in dieser Partie, vermutlich in diesem Turnier. Der Inder zieht seinen König nach b2. Stand dieser König nicht auf c2 besser? Teamkollege Praggnanandhaa am Nebenbrett kennt die entscheidende Hürde in seinem Endspiel mit Turm und h-Bauer gegen Läufer offensichtlich und insofern wäre ein Unentschieden kein großer Verlust. Beruhigungspillen.

 

Einige Züge später sieht die Situation auf dem Brett so aus.

 

 

 

Die gegnerische Dame ist auf g1 eingedrungen und Weiß kann hier seine Dame erneut nach c2 ziehen und Nodirbek bleibt vermutlich nichts anderes als mit dem Damenzug nach c5 und nach erneutem Seitenstep der Dame nach d2 den Gegner zu fragen, ob er nach Damenzug nach g1 weiterzuspielen gedenkt. Falls er das will, weil er muss, kann Gukesh und damit Indien einen kleinen Erfolg melden. Die angedrohte Stellungswiederholung wäre in jedem Fall eine sichere Testmethode, die nichts kostet. Gukesh versucht es nicht einmal, sondern zieht seinen König nach c2. Das ist typisch für die junge Generation, aber kritikwürdig. Peter Svidler versteht es nicht und die Fans von Indien müssen weiter zittern, denn die Partie geht weiter in objektiv etwa gleicher Stellung

Gukesh wird einen Tag später sagen, dass seine Entscheidung unverantwortlich war. Tatsächlich ist dies der Kippmoment dieser Partie, welcher Indien die Goldmedallie gekostet haben könnte, wobei man so nicht argumentieren darf in der Retrospektive, aber es fühlt sich so an.

Vishy Anand erklärt die Situation ausführlich in seiner täglichen Kolumne zur Schacholympiade im The Hindu. Chess Olympiad: A very tough day at the office for India 2 - The Hindu BusinessLine Gukesh habe auf Autopilot geschaltet und bekam den bisherigen Verlauf der Partie bei einer objektiven Bewertung nicht mehr aus dem Kopf. Aufmunternd schreibt er, dass das ihm selbst schon öfters passiert sei. Er, Anand, habe auf das Unentschieden gehofft, denn es komme unweigerlich sonst ein Punkt ohne Umkehr.

Gukesh verschmähte das wahrscheinliche Remis und wird vom amtierenden Schnellschachweltmeister aus Usbekistan zunächst gekontert. Die Bewertung schwappt hin und her zwischen Ausgleich und Gewinn für Nodirbek. Bis dann der plötzliche Tod durch ein grobes Versehen eintritt. Diese Spielphase ist eingefangen in einem anderen Video, diesmal mit Blick auf Uhr und Brett und vielen Fotos.

 

In Erwartung, Foto: Stev Bonhage

Foto: Stev Bonhage

Foto: Lennart Ootes

Gukeshs Patzer Foto: Lennart Ootes

Zeit! Foto: Lennart Ootes

Die Fotos fangen eine für das Schachspiel typische Situation ein, einem Spieler unterläuft ein grober Fehler, und man weiß weder als Betroffener noch als Glückspilz wie man reagieren soll. Gukesh fällt in sich zusammen, lässt seine Bedenkzeit ablaufen und bleibt zunächst konsterniert sitzen. Der Usbeke ist ebenfalls erkennbar geschockt über die Situation, vermutlich fühlt der Usbeke einen kurzen Moment mit seinem Gegner mit. Ein Lächeln kann ihm erst sein Team-Captain aufs Gesicht zaubern.

Solche Situationen kommen vor im Schach, oft. Selten ist der Einsatz allerdings so hoch wie hier. Vergleichbar ist diese Wucht der Emotion für die Beteiligten vermutlich nur mit einem Weltmeisterschaftskampf oder einer finalen Runde in einem Kandidatenturnier.
 

 

 

 

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.