Vor wenigen Wochen erst schrieb die indische Schachjournalistin Manisha
Mohite über die ihrer Meinung nach
"eurozentrische Schachwelt". Dagegen klagte Boris Kutin, seit 1998 Präsident
der European Chess Union (ECU), während der ECU-Generalversammlung in Dresden:
"Europa besitzt innerhalb des Weltschachbundes FIDE kein sehr hohes Ansehen."
Gegründet wurde die ECU 1985 während des 56. FIDE-Kongresses, der in Graz
(Österreich) von Prof. Kurt Jungwirth und Gertrude Wagner perfekt organisiert
worden war. Die FIDE befand sich seit 1982 unter der Leitung von Florencio
Campomanes (Philippinen), dem ersten FIDE-Präsidenten aus Asien. Den Delegierten
war noch gut in Erinnerung, wie FIDE-Präsident Campomanes den ersten WM-Kampf
Karpow-Kasparow von 1984/85 abgebrochen hatte. Weiterer Sprengstoff war die
Vergabe der Schacholympiade 1986 an Dubai wegen der absehbaren
Nichtteilnahme Israels. Der
schwedische FIDE-Delegierte
Rolf Littorin
engagierte sich in dieser Angelegenheit und wurde am
30. August 1985 zum
ersten ECU-Präsidenten gewählt.
Nachdem in den zurückliegenden Jahren immer mehr Entwicklungsländer des
Schachs stimmberechtigte Mitglieder des Weltschachbundes geworden waren, war man
in Europa damals der Ansicht, dass der Einfluss der Europäer in keinem
Verhältnis zu der Rolle stand, die sie auf dem Gebiet des Spitzenschachs
spielten.
In einer deutschen Schachzeitschrift wurde der FIDE-Kongress 1985 in Graz mit
den Worten kommentiert: "Die Agenda wurde straff durchgezogen, wie man es
von autoritär beherrschten Hierarchien kennt. Für so etwas wie demokratisch
angehauchte Sachdiskussionen war da kein Platz. (...) 29 europäische Verbände
haben eine Europäische Schachunion ins Leben gerufen, von der (...) vielleicht
ein 'aufgeklärtes' Gegengewicht zur 'FIDE a la Dritte Welt' zu erhoffen ist."
(Europa-Rochade 9-1985, S. 8)
Der Gedanke, die ECU als "Gegengewicht" oder gar als Konkurrenz, bzw.
Alternative zur FIDE auszubauen, tauchte in den vergangenen Jahren immer wieder
einmal auf - sei es als Befürchtung seitens der FIDE-Führung, sei es als
Illusion derjenigen, die mit dem Weltschachbund unzufrieden sind. Tatsächlich
ist eine derartige Entwicklung "nicht realistisch", so meint jedenfalls der
derzeitige ECU-Generalsekretär Horst Metzing (Deutschland). Sinn und Zweck der
ECU war und ist, europäische Schachinteressen zu definieren und zu verteidigen.
Das Modell für die organisatorische Funktion der ECU ist im Fußball die UEFA
innerhalb der FIFA.
Der Österreicher Prof. Kurt Jungwirth übernahm 1986 den Vorsitz in der
Europäischen Schachunion. Unter seiner Präsidentschaft (bis 1998) wurde
im Jahr 1997 ein
grundlegender Schritt in der Entwicklung der ECU eingeleitet: die Entwicklung
einer eigenständigen Finanzstruktur. Diese Aufgabe innerhalb der ECU übernahm ab
1998 der damalige Präsident des Deutschen Schachbundes (DSB) Egon Ditt als
ECU-Schatzmeister (bis zu seinem Tode im Jahre 2005).

Noch immer in der ersten Reihe: Kurt Jungwirth
während der ECU-Generalversammlung in Dresden.
Da der langjährige DSB-Geschäftsführer Horst Metzing seit 1998 zugleich
Generalsekretär der ECU ist und sich die Räume des ECU-Sekretariats in der
Geschäftsstelle des DSB befinden (vergl.
ChessBase-Bericht vom
November 2000), ist die Beziehung zwischen DSB und ECU sehr eng. Der
Deutsche Schachbund lud die ECU-Offiziellen am Abend vor der
ECU-Generalversammlung in Dresden zu einem Empfang ein.

DSB-Präsident Robert von Weizsäcker und
ECU-Präsident Boris Kutin

Auch Frederic Friedel (ChessBase) war
eingeladen.

ECU-Generalsekretär Horst Metzing,
ECU-Marketing-Direktor Theodoros Tsorbatzoglou (Griechenland),
ECU-Vorstandsmitglied Damir Levacic (Frankreich), ECU-Präsident Boris Kutin und
Patrick Wiebe (Deutsche Schachjugend).

ECU-Präsident Boris Kutin traf in Dresden
erstmals den im Herbst 2006 ernannten ECU Press Officer Gerald Schendel
(Deutschland).
Am nächsten Tag begrüßte DSB-Präsident Robert von Weizsäcker bei der
ECU-Generalversammlung ECU-Vorstand und Delegierte.
ECU-Präsident Boris Kutin zeigte sich in seinem Tätigkeitsbericht zufrieden:
Alle größeren ECU-Veranstaltungen verzeichneten Teilnehmer-Rekorde. Eben dieser
Punkt gab gleichzeitig zu Bedenken Anlass. Wenn bei den
Jugendeuropameisterschaften annähernd eintausend Spieler teilnehmen, so könnte
dies dazu führen, dass die Bedingungen bei der Unterkunft nicht optimal gehalten
werden können, gab Kurt Jungwirth zu bedenken. Der Vorschlag andererseits, die
Veranstaltung zu teilen, fand keine Gegenliebe, weil es den nationalen
Föderationen lieber ist, wenn sie nur eine Delegation zu entsenden brauchen.
ECU-Kassenprüfer Willy Iclicki war mit den Finanzen der ECU zufrieden. Zwar
sei es ihm (wie in den vergangenen Jahren) nicht gelungen, den ECU-Schatzmeister
zu treffen, doch die Konten, die vom Deutschen Schachbund, bzw. dem
ECU-Sekretariat in Berlin betreut werden, seien sehr ordentlich geführt. Auf
Vorschlag von Iclicki wurde der ECU-Vorstand einstimmig entlastet.
Im Zusammenhang mit den Finanzen der ECU stand übrigens die Bemerkung Kutins,
dass Europa (bzw. die ECU) bei der FIDE nicht in sehr hohen Ansehen stehe. Die
Kehrseite der finanziellen Unabhängigkeit der ECU von der FIDE ist nämlich, dass
Zuschüsse, die anderen Kontinentalorganisationen aus den zuweilen
unergründlichen Tiefen der FIDE-Finanzräume gewährt werden, für die ECU nicht
(mehr) zur Verfügung stehen.
Der bisherige ECU-Schatzmeister, Mahir Mammedov (Aserbeidschan), war wenige
Tage vor der ECU-Generalversammlung aus beruflichen Gründen zurückgetreten. Zu
seinem Nachfolger wurde Kurt Gretener (Schweiz) gewählt.
Der Vorschlag der Association of Chess Players (ACP) den europäischen
Vereinscup mit künftig 9 statt 7 Runden zu spielen und es bei den Frauen bei 7
Runden zu belassen, wurde von den Delegierten mit klarer Mehrheit
zurückgewiesen. Es werden also weiterhin 7 Runden gespielt.
Lange Diskussionen, in denen es auch zu heftigen Vorwürfen einzelner
Delegierter gegenüber dem ECU-Präsidium, insbesondere ECU-Präsident Boris Kutin,
kam, gab es bei der Vergabe europäischer Meisterschaften. Dabei zeigte sich, wie
wichtig es ist, Bewerbungsprozeduren klar zu definieren. Was im Bewusstsein
mancher Delegierter noch nicht verankert ist, ist die Tatsache, dass das Land
"Jugoslawien" nicht mehr existiert. Wenn etwa eine Veranstaltung an Montenegro
vergeben werden soll und eine andere an Kroatien, so sehen manche darin einen
Verstoß gegen das Prinzip, dass kein Land zwei Veranstaltungen übernehmen soll.
Zum Abschluss der ECU-Generalversammlung präsentierte Marketing-Direktor
Theodoros Tsorbatzoglou sein Marketing-Konzept. Marketing ist der Bereich, in
dem die ECU ihre Aktivitäten verstärkt ausbauen möchte.
Text/Bilder: Gerald Schendel / Hedwig K.
Albrecht