Nigel Davies: "Chess for Scoundrels"
Rezension von FM Matthias Krallmann
Beim Hamburger Open 1993 spielte
ich gegen einen seriös wirkenden Großmeister aus England, welcher von seinem
ganzen Habitus und seinem Auftreten den Eindruck vermittelte, er würde
korrektes Schach spielen. Seine Spielanlage erwies sich jedoch als höchst
spekulativ. Der Erfolg gab ihm Recht, ich verlor chancenlos. Nach fünfzehn
Jahren habe ich ihn durchschaut. Sein Name ist Nigel Davies. Der Titel seiner
neuen DVD “Chess for Scoundrels” lässt sich vielleicht am besten mit “Schach
für Schurken” übersetzen.
Der Autor konstatiert, dass es gut ist, wenn man im Privatleben nett ist. So findet und behält man leichter
einen Partner oder Freunde. Auch für das Berufsleben kann es nicht schaden,
wenn man gut mit anderen zusammenarbeiten kann. Davies meint jedoch, dass auf
dem Schlachtfeld des Schachbrettes ein guter Schachspieler etwas von einem
Schurken braucht um zu überleben. Er will den Zuschauer nicht dazu motivieren
unfair zu sein. Fußtritte unter dem Tisch, wie Petrosjan sie einst praktizierte,
liegen ihm fern. Davies Gebiet ist die Psychologie, seiner Ansicht nach einer
der wichtigsten Aspekte des Schachs, der von vielen Spielern jedoch weitgehend
ignoriert oder zumindest unterschätzt wird. Ich erinnere mich an einen Vortrag
des Psychologen Munzert bei einem A-Trainer-Lehrgang. Im Anschluss daran wurden
die Teilnehmer aufgefordert, einzuschätzen, wie hoch der Anteil der Psychologie
am Ausgang eines Schachturniers sei. Das Ergebnis war, dass die Teilnehmer
(unter ihnen deutsche Spitzenspieler wie die Großmeister Lutz, Bönsch und
Müller) zur Überzeugung gelangten, dass bei einem geschlossenen Rundenturnier
mit annähernd gleicher Spielstärke die Psychologie durchaus eine gewisse Rolle
spielen könne. Bei einem Open mit großen Spielstärkenunterschieden hingegen
würden sich die besseren Spieler immer durchsetzen, auch wenn die schwächeren
Spieler psychologisch vorbereitet wären. Grundsätzlich hatte ich den Eindruck,
dass die meisten Trainer eher an Elo als an Psychologie glaubten. Mittlerweile
sind einige Jahre ins Land gegangen und der Weltmeisterschaftskampf Kramnik-Topalov
hat verdeutlicht, wie wichtig die Psychologie zumindest für den Ausgang eines
Zweikampfes sein kann.
Davies unterteilt sein Material in
verschiedene Kapitel, denen er teilweise originelle Titel gibt, z.B.
„Quälerei“, „Einschüchterung“, „Strick geben“ oder „Klassisches
Konditionieren“. Quälerei nennt Davies das bekannte „Kneten“ in leicht besserer
Stellung ohne Verlustgefahr. Unbestritten ist dies eine wichtige Technik, die jeder
ambitionierte Spieler beherrschen sollte. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob
man einen erfahrenen Spieler mit Albins Gegengambit wirklich einschüchtern
kann, wie Davies behauptet. Da leuchtet mir schon eher ein, dass man einem
weniger guten Spieler einen Strick geben muss, damit er sich selbst aufhängen kann.
Natürlich ist hier alles im übertragenen Sinne gemeint, das heißt gegen einen
schwächeren Spieler sollte man nicht mit direkten Drohungen arbeiten, sondern
ihm viele Möglichkeiten lassen, damit er sich eine schlechte aussuchen kann.
Auf Pawlows Hund kommt Davies, wenn er standardisiertes Spiel ohne Beachtung
der konkreten Stellung anprangert. Dazu gibt er ein instruktives Beispiel von
einer Partie, in der Weiß sich gegen die beschleunigte Drachenvariante ohne d6
genauso aufbaut, wie man dies gegen die normale Drachenvariante mit d6
gewöhnlich tut, also mit Le3, Dd2 usw. Da Schwarz nun d7-d5 spielen kann,
erhält er ausgezeichnetes Spiel. Dies ist Davies Standardaufbau: In jedem
Kapitel wird anhand einer oder mehrerer typischer Partien das psychologische
Verfahren oder die psychologische Technik verdeutlicht, die zuvor nur kurz
verbal erklärt wurde. Natürlich muss die entsprechende Technik immer zum Gegner
passen, sonst funktioniert es nicht. Den Gegner durch äußerst provokative Züge
zu beleidigen, klappt dann besonders gut, wenn der Gegner sehr stolz ist. Karpov
war als amtierender Weltmeister laut Davies beleidigt, als Miles 1980 bei der
Europamannschaftsmeisterschaft gegen ihn auf 1.e4 a6 zog und spielte deshalb
schlecht. Eine Rolle spielte sicherlich auch, dass Miles bis zu diesem
Zeitpunkt eine sehr schlechte Bilanz gegen Karpov hatte und dieser ihn
vielleicht unterschätzte.
Klicken Sie hier, um einen Ausschnitt aus
der Lektion "Insults" zu starten...
Zum Ausnutzen der gegnerischen
Zeitnot ist bereits einiges publiziert worden. Davies schließt sich hier der
allgemeinen Ansicht an, dass man nichts überstürzen, keine direkten Drohungen
aufstellen sondern dem Gegner viele Möglichkeiten und viel Stoff zum Nachdenken
geben sollte. Der Engländer warnt vor der äußerst riskanten psychologischen
Taktik, sich selbst freiwillig in Zeitnot zu begeben um den Gegner leichtsinnig
oder nervös zu machen. Dzindzichashvili und Reshevsky waren absolute Meister in
dieser Taktik. Davies erzählt die Anekdote, dass Dzindzichashvili sich einst in
einer Entscheidungspartie um 10 000 Dollar mit wenigen Sekunden auf der Uhr in
aller Ruhe eine Zigarette anzündete. Das Feuerzeug funktionierte nicht richtig
und er musste es mehrfach betätigen. Alburt stellte daraufhin postwendend die
Partie ein. Er war dem psychologischen Druck offensichtlich nicht gewachsen.
Davies warnt seine Zuhörer vor zu
vielen Remisangeboten. Mit einer solchen Offerte gibt man dem Gegner auch eine
Information, nämlich dass man mit einem Remis zufrieden ist. Der Gegner ist nun
psychologisch im Vorteil. Allerdings kann man mit einem Remisangebot den Gegner
auch verärgern und aus dem Gleichgewicht bringen. Manche Spieler spielen
schlechter, nachdem sie ein Remisangebot ausgeschlagen haben. Einige forcieren
das Spiel um dem Gegner zu zeigen, dass das Remisangebot falsch war. Hart an
der Grenze zur Unsportlichkeit ist meines Erachtens das Verhalten Fischers beim
Interzonenturnier auf Mallorca 1970. Als sein Gegner Geller ihm mit Weiß
spielend im 7.Zug Remis anbot, lachte Fischer ihn aus, spielte weiter und
gewann ein „todremises“ Turmendspiel.
Zur „Must-win-Situation“ führt
Davies das bekannte Beispiel der letzten Partie Kasparov-Karpov aus Sevilla
1987 an, in der Kasparov in einer langen, extrem ruhig angelegten Reti-Partie
gewann. Dies ist meines Erachtens ein bisschen antiquiert. Kramnik-Leko in Brissago
2004 ist die moderne Variante dieses „Siegen auf Bestellung“. Kramnik meinte
nach der Partie in einem Interview, ein bisschen mehr Druck müsste man gegen Leko
schon machen, von alleine würde dieser nicht zusammenbrechen.
Wenn man ein Remis braucht, um ein
erwünschtes Turnierergebnis zu erzielen oder eine Norm zu machen, sollte man
auf keinen Fall bewusst auf Remis spielen. Dies führt laut Davies zielsicher in
den Untergang. Der Gegner weiß ja in der Regel, dass man ein Remis benötigt und
kann dies ausnutzen. Er wird also eine ausgeglichene Stellung immer
weiterspielen und auf einen Fehler warten, der sich aufgrund der
außergewöhnlichen Belastung auch leichter einstellen kann. Viel besser sei es „normal“
zu spielen. Dies verunsichere den Gegner, der nun nicht wisse, ob man überhaupt
ein Remis akzeptieren würde. Schließlich ist ein Remis am leichtesten aus einer
Position der Stärke zu erreichen.
Eine Technik, die ein „Schurke am
Schachbrett“ auf jeden Fall beherrschen sollte, ist die Täuschung des Gegners
durch Mimik. Verzweifelt Aussehen in einer scheinbar hoffnungslosen Position,
in der man eine tiefe Falle aufgestellt hat, führte bereits zu vielen
unerwarteten Punktgewinnen. Davies illustriert diese Taktik mit einer Partie
von De Firmian. Eine schlechtere Position zu gewinnen, ist natürlich eine sehr
schwierige Aufgabe. Hier hilft manchmal die Provokation des Gegners auf dem
Brett. Der Angriffsspieler Bronstein agierte in einer Partie gegen Kavalek in
Amsterdam 1968 so provokant passiv, bis diesem der Kragen platzte und er
unberechtigt eine Figur opferte. In einer anderen Partie, die Davies auswählt,
wurde Bronstein selbst zum Opfer. Der hinhaltende Widerstand von Keres
zermürbte ihn so sehr, dass er eine klar bessere Position noch verlor. Die
schwindende Bedenkzeit spielte in dieser klassischen Partie aus dem Jahr 1956
ebenfalls eine Rolle. Davies hat seine Lehren aus den Partien der Vergangenheit
gezogen. In einer Partie gegen Rowson aus dem Jahr 2004 opferte er spekulativ
eine Figur, als seinem Gegner die Bedenkzeit davonlief. Davies gibt zu, dass
seine Spielweise einer Computeranalyse nicht standhalten würde, doch dreimal
dürfen Sie raten, wer die Partie gewann...
Fazit: Eine äußerst unterhaltsame
DVD, auf der Davies eine ganz andere Botschaft für seine Zuhörer als Kasparov
in seinem Buch „Strategie und die Kunst zu leben“ für seine Leser hat: Schach
ist etwas ganz anderes als das normale Leben. Schach ist Krieg, hier ist alles
erlaubt. Man sollte nicht zu höflich sein und jede Möglichkeit nutzen um die
Partie zu gewinnen. Kurz gesagt: „Spielen Sie wie ein Schurke!“
Mehr Videotraining mit GM Nigel Davies: