Die Glocke von Zug

von ChessBase
19.10.2002 – Das Wahrzeichen der Stadt Zug im gleichnamigen schweizerischen Kanton ist der Zeitturm ("Zytturm"). Der 52m hohe Turm stammt aus dem 13. Jahrhundert. 1574 wurde die große Uhr eingebaut. Unterhalb des Zifferblattes der Hauptuhr befindet sich eine astronomische Uhr."The Bell of Zug" ("Die Glocke von Zug" usw.) ist der Titel eines geheimnisvollen Manifestes, das nach Erörterungen unter Philosophen, Theologen, Wissenschaftlern, Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen etc. zustande kam und am 30. Juli 2001 im spätgotischen Stadthaus von Zug unterzeichnet wurde. Das Manifest soll zu einem "globalen Dialog" über eine Wiederbelebung moralischer und geistiger Werte aufrufen. Oder geht es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes. Und was hat das alles mit Schach zu tun? Nun, Anatoly Karpov spielt als Präsident der Organisation "NDF" eine nicht unmaßgebliche Rolle. Bericht von Gerald Schendel...

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Die Glöckner von Zug

Auf der Grundlage des Manifestes "The Bell of Zug" hat die in Zug ansässige Firma NDF AG einen Friedenspreis ins Leben gerufen ("Demiurgus Peace International"), der am 12. Oktober 2002 im Zuger Casino erstmals vergeben wurde. Als Schirmherr und Eröffnungsredner trat der frühere sowjetische Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow auf. Vor 500 Gästen (darunter der US-Botschafter Mercer Reynolds und der frühere israelische Aussenminister Moshe Arens) gehörten zu den sieben Preisträgern u.a. der Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu (Südafrika), Prinzessin Elisabeth von Jugoslawien (USA), der Schriftsteller und Islam-Professor Maulana Wahiduddin Khan (Indien) sowie der Jesuit und ehemalige Soziologie-Professor Michael Windey (Belgien).

Das russische Staatsorchester unter der Leitung von Wladimir Spiwakow spielte Tschaikowski und Rachmaninow, es gab Champagner und Kaviarhäppchen, und moderiert wurde die Veranstaltung von den bezaubernden Schönheiten Michelle Hunziker und Lolita Morena.
Ihre Brisanz erhält die scheinbar beschauliche Veranstaltung dadurch, dass der Verwaltungsrats-Vorsitzende der Zuger Aktiengesellschaft NDF kein Geringerer als der mehrmalige Schach-Weltmeister Anatoli Karpow ist und dass die Firma NDF mit nuklearer Abrüstung und der Atomindustrie zu tun hat: NDF = Nuclear Disarmament Forum.

Greenpeace protestierte mit der Begründung, die Veranstaltung sei lediglich eine PR-Aktion der schweizerischen und europäischen "Nukleokraten". Eine angemeldete Delegation von Stadt und Kanton Zug sagte kurz vor Beginn der Veranstaltung ihre Teilnahme ab. Was steckt dahinter?

In einem "Briefing Paper" von Greenpeace International (10. Oktober 2002) wird die "Demiurgus Peace International"-Initiative der NDF als eine "mysteriöse Organisation" bezeichnet (Introduction); Informationen über das Nuclear Disarmament Forum (NDF), dessen Hintermänner und Ratgeber seien nicht gerade leicht zu beschaffen. Das NDF sei eine relativ neue Organisation und "irgendwann während der letzten zwei Jahre gegründet" worden (3.4). Es sei zu vermuten, dass die Akteure des NDF Verbindung zu hochrangigen Politikern sowohl in Russland wie in den USA hätten - "which in itself is deeply troubling" (3.5.3).

Mehr über die NDF-Gründungsgeschichte ist in der Schweiz bekannt. Der Initiator und Hauptakteur bei NDF, ein 39-jähriger Russe namens Andrei Bykow, liess sich bei der Unternehmensgründung vor zwei Jahren in Zug von einem bekannten "Atomlobbyisten" (Sonntagszeitung) helfen: Dr. Franz Hoop, damals laut Greenpeace Brennstoffeinkäufer bei einer Schweizer Elektrizitätsgesellschaft, die das Atomkraftwerk Leibstadt betreibt, und Mitglied der Schweizer Brennstoff-Kommission. Zum Jahreswechsel 1998/99 wurden der Umweltorganisation Greenpeace zwei Dokumente zugespielt, aus denen hervorging, a) dass die Schweizer Atomindustrie am 17. September 1998 in Zürich ihre Absicht erklärte, "Atommüll" (also abgebrannten Brennstoff) nach Russland zu entsorgen, und b) dass das russische Atomministerium Minatom in Gesprächen u.a. mit Dr. Hoop Entsorgungsdienstleistungen nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Deutschland, Spanien, Südkorea, Taiwan und eventuell Japan anbot. Das damals geltende russische Umweltgesetz verbot den Import von radioaktiven Abfällen, wurde jedoch inzwischen geändert. Dies beschloss das russische Parlament, die Duma, am 6.6.2001, und der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnete ein entsprechendes Gesetzespaket am 11. Juli 2001. Dr. Hoop gehört der Firma NDF mittlerweile nicht mehr an.

Ein weiteres, wie Dr. Hoop im Sommer 2001 ausgeschiedenes NDF-Gründungsmitglied ist Dieter Delwing, ehemals stellvertretender Zuger Landschreiber. Er sagte einer Schweizer Zeitung, dass er eine Stiftung in Genf vorgeschlagen habe und dass "man" jedoch die Gründung einer Aktiengesellschaft im steuerlich attraktiven Zug vorgezogen habe. Er habe das operative Geschäft von NDF "immer weniger durchschaut". Sollte Dieter Delwing bei seinem Ausscheiden entgangen sein, dass die gesetzliche Grundlage in Russland für das operative Geschäft zum Teil gerade erst entstanden war?

Am Namen und am Geschäftszweck der Nuclear Disarmament Forum AG hat sich seit der Eintragung in das Handelsregister am 18. September 2000 nichts geändert. Zweck der NDF-Aktivität ist demnach

    Schaffung eines internationalen Forums mit Sitz in der Schweiz zur Förderung der weltweiten nuklearen Abrüstung, insbesondere durch die zivile Nutzung der spaltbaren waffenfähigen Materialien sowie Beteiligung an Gesellschaften mit gleicher oder ähnlicher Zielsetzung sowie Beratung und Verwaltung dieser Gesellschaften; knüpft Kontakte und unterhält Beziehungen zu den im Bereich der nuklearen Abrüstung zuständigen Behörden sowie zu Unternehmen und Non Governmental Organizations; kann Wertschriften und Schutzrechte aller Art sowie Liegenschaften erwerben, verwalten und veräußern.

Der NDF-Vizepräsident und -Geschäftsführer Andrei Bykow (seit dem Herbst 2001 nicht mehr in Moskau, sondern in Zug ansässig) beschrieb in einem vor der Preisverleihung am 12. Oktober erteilten Interview seine Aktivität:

    Wir arbeiten an zwei Geschäftsmodellen: Einerseits vermitteln wir den Verkauf von atomaren Brennstoffen an Kernkraftwerke in westeuropäischen Ländern. Damit verlagern wir das gefährliche Material aus den zahlreichen militärischen Standorten wie den russischen U-Booten, machen es kommerziell nutzbar und generieren Gelder, die wir für neue Studien und Programme investieren. In russischen U-Booten lagern bis dato 220 atomare Sprengköpfe. Außerdem beginnen wir sehr bald mit der Erarbeitung eines Leasing-Projekts.

Das so genannte "MOX-Leasing" ist umstritten - die Argumente sind der Fachliteratur zu entnehmen. In seinem Schweizer Interview erwähnte Andrei Bykow einen Vertrag zwischen allen Kernkraftwerken in Deutschland und Verkäufe an schwedische Kraftwerke. Tatsächlich wurde am 8. August 2002 bekannt, dass das Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim bereits "ohne öffentliches Aufheben" Brennelemente aus russischer Produktion einsetzt - man wolle aber den Kauf von Brennstäben aus russischer Produktion "nicht an die große Glocke hängen".

Die Glöckner von Zug wissen sicher auch, dass seit einiger Zeit im Block B des bayerischen Kernkraftwerks Gundremmingen Brennelemente aus der russischen Stadt Elektrostal verwendet werden, dass in Obrigheim ein solches Element schon getestet wurde und dass mittelfristig geplant ist, in den Deal mit einem Volumen von 800 Millionen Dollar neun Reaktoren aus Deutschland, Schweden und der Schweiz einzubeziehen.

Anatoli Karpow ist seit Mitte August 2001 Präsident des NDF. Andrei Bykow, der früher im diplomatischen Dienst in Bonn (bzw. Köln) und Berlin beschäftigt war und jetzt zum Beraterstab des russischen Präsidenten Putin zählt, kennt Karpow als langjährigen Vorsitzenden der sowjetischen Friedensstiftung und als großzügigen Mäzen für wohltätige Zwecke. Aus NDF-Publikationen geht ferner hervor, dass der NDF-Geschäftsführer das Schachspiel kennt und schätzt.

Mitte August 2001 wurde Anatoli Karpow zugleich auch Präsident der Anfang März 2001 von dem Trio Bykow/Dr.Hoop/Delwing in Zug gegründeten Aktiengesellschaft EUREPA Suisse SA. Deren Geschäftszweck ist

    Aufbau eines internationalen Netzwerks zur Herstellung und Pflege wirtschaftlicher, politischer und kultureller Beziehungen zwischen Westeuropa und den GUS-Ländern, insbesondere in den Bereichen Energie und Versicherungswesen; kann Wertschriften und Schutzrechte aller Art sowie Liegenschaften erwerben, verwalten und veräußern.

Nach dem Ausscheiden von Dr. Hoop und Delwing und dem Einstieg von Anatoli Karpow bei NDF und EUREPA wurden drei Schweizer Anwälte in die Vorstände der beiden Firmen berufen: Alban Brodbeck, Glarus, (den die Schachwelt als Anwalt Karpows in dessen juristischen Disputen mit dem Weltschachbund FIDE kennen gelernt hat), Dr. Otto C. Meier-Boeschenstein, Zürich, (der dem europaweiten, 1995 in Köln gegründeten juristischen Netzwerk JCA Juris Consult Alliance angehört) und der Hobby-Golfer Hans-Rudolf Wild, Zug.

Die juristisch unabhängig voneinander existierenden Firmen NDF und EUREPA haben nicht nur dieselbe Adresse und sind im Frühsommer 2001 gemeinsam aus der Gubelstrasse 15 in die Baarerstrasse 8 in Zug umgezogen, sie pflegen auch geschäftliche Kontakte miteinander. EUREPA Suisse SA beauftragte das Nuclear Disarmament Forum mit der Aufgabe, eine Studie zu dem Thema "Russisches Waffenplutonium und die Westoption" zu erstellen.

Grundlage der Studie ist eine im September 2000 zwischen Russland und den USA getroffene Vereinbarung. Im März 2002 war die NDF-Studie abgeschlossen. Um Konzept und Realisierung des Projekts hatten sich Anatoli Karpow und Andrei Bykow (NDF) gekümmert, für das Projektmanagement waren die Experten Bengt Tveiten (technischer Direktor NDF) und Dr. Wolfgang Kersting (Energy Consulting, Deutschland) zuständig. Beiträge kamen von Wissenschaftlern aus Russland, Schweden, Deutschland und den USA, ferner von Firmen wie Atomspetstrans (Russland), TVEL (Russland), Catey (Schweiz) und von mehreren Firmen aus Deutschland. Veröffentlicht wurde die umfangreiche Studie im Internet unter der erst seit Ende September 2002 bestehenden Internet-Adresse: http://www.dpi-zug.com.

Seit der Fertigstellung der NDF-Studie hat sich etwas Wichtiges geändert. Bei dem G-8-Gipfel 2001 in Genua konnten sich die Beteiligten noch nicht auf finanzielle Maßnahmen einigen, doch bei dem G-8-Gipfel 2002 in dem kanadischen Wintersportort Kananaskis wurde ein milliardenschweres Programm zur "G-8-Partnerschaft gegen die Verbreitung von Waffen und Material zur Massenvernichtung" beschlossen. 20 Milliarden Dollar innerhalb der nächsten zehn Jahre soll zunächst Russland erhalten, um ausgemusterte Atomwaffen sowie chemische und biologische Kampfstoffe aus sowjetischer Zeit zu entsorgen. Ausserdem sollen etwa 200 Atomreaktoren aus U-Booten sicher für die Umwelt entsorgt werden. An dieser Partnerschaft können sich alle interessierten Staaten beteiligen. Die USA wollen 10 Milliarden Dollar investieren, Deutschland will sich mit 1,5 Milliarden Euro an dem Projekt in Russland beteiligen.


In einer im September 2002 veröffentlichten NDF-Dokumentation zum "Demiurgus Peace International Project" schreibt Anatoli Karpow als NDF-Chairman, President der Internationalen Assoziation der Friedensstiftungen und als mehrfacher Schach-Weltmeister einführend, gemäss dem Manifest "Die Glocke von Zug" müsse das erste Ziel eines Globalen Dialoges darin bestehen, Nuklearwaffen zu beseitigen und die Produktion von hoch angereichertem Uran und Waffenplutonium zu stoppen. Mit der NDF-Studie vom Frühjahr 2002 sollte ein Beitrag zur nuklearen Abrüstung in Russland geleistet werden.

Das Schachspiel spielt bei diesen Überlegungen keine geringe Rolle. Die Menschheit habe nur noch wenige Züge auf dem Schachbrett zu machen, auf dem sich die Weltgeschichte abspielt. Bei falschen Zügen besteht die Gefahr nicht einfach in dem Verlust der Partie, sondern in dem Verschwinden des Schachbretts!



Gerald Schendel / 17.10.2002

 

Postsriptum:

Die Demiurgus-Friedenspreis-Verleihung in Zug hatte mehrere Facetten. Man kann die Veranstaltung unter der Rubrik "Party" abhandeln, wie die "Schweizer Illustrierte" in ihrer neuesten Ausgabe ( http://www.schweizer-illustrierte.ch/Partys.231.0.html ) mit netten Fotos von Anatoli Karpow, Michail Gorbatschow und Michelle Hunziker. Karpow wird darin mit der banalen Äusserung zitiert: "Ich fahre in der Schweiz gern Ski und mein Lieblingskäse ist der Emmentaler.." Eine andere Facette beleuchtet die Presseerklärung des Armenischen Zentrums für nationale und internationale Studien ( http://acnis.am/pr/zug.htm ). Auszug:

"RAFFI HOVANNISIAN AT NUCLEAR DISARMAMENT FORUM

Meetings with Gorbachev, Bessmertnykh, Tutu, International Leaders Zug, Switzerland—Raffi K. Hovannisian, Armenia’s first Minister of Foreign Affairs, was here over the weekend to take part in a special conference of the Nuclear Disarmament Forum (NDF). Devoted to the prevention of nuclear proliferation, the Forum held deliberations on world peace, regional conflicts, and the dangers of nuclear terrorism. Among officials and specialists from 40 countries, Hovannisian represented the Armenian perspective at the conclave, its roundtables and press conferences. During the two-day program, Raffi Hovannisian held separate meetings with former USSR President Mikhail Gorbachev, former Soviet Foreign Minister Alexander Bessmertnykh, Nobel Peace Prize winner Archbishop Desmond Tutu of South Africa, Princess Elizabeth of Yugoslavia, Russia’s former Chief of Military Intelligence General Fyodor Ladigin, Russian MP General Anatoliy Kulikov, Sheikh Salem al-Sabah of Kuwait, NDF founder Andrey Bykov, and NDF chairman and world chess champion Anatoliy Karpov. Hovannisian also participated in a working meeting, held under the auspices of the World Council of Former Foreign Ministers, with colleagues from Italy, Jordan, Cyprus, Malta, Guatemala, Mauritius, Turkey, and Russia."


Gerald Schendel / 18.10.2002

 


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