Das Wichtigste ist die
Harmonie
Interview mit Exweltmeister Wassili Smyslow
Von Dagobert Kohlmeyer
Wassili Smyslow ist eine
lebende Schachlegende. Der Moskauer spielte in den 50er Jahren dreimal mit
seinem berühmten Vorgänger Michail Botwinnik um die Schachkrone, wobei er
einmal ein 12:12 - Unentschieden erreichte, einmal gewann und einmal verlor.
Den WM-Titel eroberte er 1957. Im Jahr darauf musste er ihn im Revanchematch
gegen Botwinnik zwar wieder abgeben, blieb aber noch über Jahrzehnte einer der
weltbesten Spieler. Wladimir Kramnik sagt über Smyslow: „Er verkörpert die
Wahrheit im Schach und ist derjenige Großmeister mit der höchsten Reinheit des
Spiels.“
Der heute 83-jährige
Exweltmeister wohnt seit fünfzig Jahren mit seiner Frau Nadjeshda mitten in
Moskau in einem riesigen Hochhaus aus der Stalinzeit. Trotz seines Alters
verbringt Smyslow täglich noch etliche Stunden im Arbeitszimmer und entwirft
neue Schachstudien. Ein Buch mit seinen gesammelten Etüden ist derzeit in
Vorbereitung. Neben dem Schach war in Smyslows Leben die Musik seine zweite
Leidenschaft. Der Großmeister mit dem lyrischen Bariton nahm in seiner
russischen Heimat zahlreiche Schallplatten sowie CDs auf und gab bis zu seinem
80. Lebensjahr Konzerte.
Dagobert Kohlmeyer sprach am
Rande des Superfinales der russischen Landesmeisterschaft mit Wassili Smyslow
über sein Leben sowie die Veränderungen in der Schachszene.
Wie sind Ihre bisherigen
Eindrücke vom Turnier?
Es ist
interessant, dass hier Spieler verschiedener Generationen aufeinander treffen.
Neben Vitali Zeschkowski ist Garri Kasparow schon der zweitälteste. Was die
Teilnehmerzahl angeht, so dominieren die jungen Großmeister eindeutig das
Turnier. Damit habe ich aber noch nichts über die Qualität ihres Spiels
gesagt.
Was sagen Sie dazu,
dass Anatoli Karpow und Wladimir Kramnik ihre Teilnahme im letzten Moment
zurückgezogen haben?
Das ist sehr bedauerlich.
Wissen Sie, zu meiner aktiven Zeit gab es nie so hohe Preisgelder. Schon
deshalb hätten alle gespielt. Was die moralische Seite der Angelegenheit
betrifft, möchte ich, da ich ja auch zum Kreis der Weltmeister gehöre, jetzt
keinen meiner Kollegen verurteilen. Sie werden ihre Gründe gehabt haben und
sollen darum ihr Verhalten selbst verantworten.
Wer ist Ihr
Turnierfavorit?
Ich denke, dass Kasparow hier
die meiste Beachtung verdient. Als ich ihn am Eröffnungsabend der
Meisterschaft sah, fragte ich scherzhaft: „Garri, was ist los - Sie spielen
hier?“ Er hob die nur Hände und erwiderte: „Was soll ich denn tun, ich kann
doch nicht auch noch wegbleiben!“ Da konnte ich nicht anders, als ihm Erfolg
zu wünschen.
Sie haben selbst eine
lange, erfolgreiche Schachlaufbahn hinter sich. Erinnern Sie sich noch an Ihre
erste Turnierpartie?
Ja, das war Anfang der 30er
Jahre in einem Moskauer Pionierhaus, das direkt am Moskwa-Fluss stand. Die
erste von mir veröffentliche Partie stammt aus dem Jahre 1935.
Und wann spielten Sie
ihre letzte Wettkampfpartie.
Im Jahre 2002 in Amsterdam
beim abschließenden Wettkampf Ladies gegen Veteranen. Meine Gegnerin war die
Chinesin Zhu Chen und das Spiel endete, obwohl ich besser stand, remis.
Über Jahrzehnte hinweg
haben Sie große Leistungen gezeigt. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Es liegt an der Spezifik des
Schachs und an meiner gesunden Lebensweise. Ich konnte deshalb meine Form
lange Zeit konservieren. 1984 spielte ich mit 63 Jahren das Kandidatenfinale
gegen Garri Kasparow, 1993 nahm ich noch am Interzonenturnier in Biel und 1997
an der FIDE-WM in Groningen teil.
Nur wenige
Großmeister können auf eine 70-jährige Schachkarriere zurückblicken. Was hat
Ihnen das königliche Spiel gegeben?
Sehr viel. Ich hätte am
Anfang nicht im Traum daran gedacht, dass ich eines Tages Weltmeister sein
werde. Zudem es ja, wie Sie wissen, in meinem Leben mit der Musik noch eine
zweite große Leidenschaft gab.
Was war denn wichtiger
für Sie - Schach oder Musik?
Jeder Bereich hatte zu
bestimmten Zeiten Vorrang. Für beide Gebiete ist eines entscheidend - die
Harmonie. Nicht nur in der Musik müssen die Töne stimmen.
Erläutern Sie bitte das
Verhältnis von Schach und Harmonie genauer.
Ich betrachte das Spiel genau
wie die Musik als eine Kunst. Beim Schach habe ich mich stets um eine
harmonische Figurenaufstellung bemüht. Eines meiner wichtigsten Bücher heißt
"Auf der Suche nach Harmonie". Ich bin der Ansicht, dass sie auch in jedem
schöpferischen Beruf angestrebt werden sollte.
Meinen Sie damit die
Bereiche Kunst oder Wissenschaft?
Zum Beispiel. Wenn ein
Professor der Mathematik oder einer anderen Wissenschaft einen Vortrag hält,
dann betont er auch, wie wichtig es ist, eine Strategie oder einen Plan zu
haben, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Ich nenne das ein Gespür für
Harmonie, weil man es in allen Lebensbereichen braucht. Immer geht es darum,
schnelle, richtige Entscheidungen zu treffen.
Hat Harmonie generell
etwas mit Ihrem Schachstil zu tun?
Ja. Die permanente Suche nach
ihr charakterisiert mein Schachverständnis und mein Spiel. Das ist eine
bestimmte Art zu spielen, die auch Lasker und Capablanca auszeichneten. Sie
sprachen von der Koordination der Figuren und Bauern auf dem Brett. Der
geniale Capablanca hat die Stellung sehr gut gefühlt. Wer die Koordination
erreichen will, muss die Harmonie erspüren, also die enge Verbindung zwischen
den Figuren und dem, was auf dem Brett geschieht. Ich nenne es das menschliche
Schachverständnis.
Alle Koryphäen wie
Lasker oder Capablanca haben die für das Spiel so notwendige Begabung
mitgebracht. Wie definieren Sie den Begriff Talent im Schach?
Es ist die Fähigkeit, Figuren
und Bauern auf dem Brett optimal zu koordinieren, so wie die Großen der Zunft
es meisterhaft beherrschten.
Sie haben viele Genies
kommen und gehen sehen. Was hat sich in der Schachwelt im Gegensatz zu früher
geändert?
Etliches. Früher gab es volle
Spielsäle, heute verfolgen die Leute die Turniere vorwiegend zu Hause im
Internet. Die Spieler bereiten sich nur noch mit dem Computer vor. Auf jeden
neuen Zug in einer bestimmten Eröffnungsvariante weiß die Maschine eine
Antwort. Sie übernimmt für den Menschen das Rechnen. Deshalb werden die
Eröffnungen immer wieder in Frage gestellt und präzisiert. Das macht aus dem
Schach einen Kräfte zehrenden Prozess, bei dem die Rolle der
Wettkampfvorbereitung wächst.
Gefällt Ihnen diese
Entwicklung?
Wie bei allen Dingen gibt es
auch hier Plus und Minus. Dass neue Züge gesucht werden, die den Gegner
verblüffen sollen, ist normal und gehört zum Schach. Die negative Seite ist,
dass heute am Brett nicht mehr so viel gearbeitet wird. Wenn ein Schachspieler
früher einen überraschenden Zug vorgesetzt bekam, musste er während der Partie
selbst entscheiden, wie er weiterspielt. In unserer Zeit haben wir unerwartete
Situationen selbst gemeistert und entschieden. Durch den Computer wird die
Kreativität des Schachspielers von heute sehr beeinflusst. Er wird davon
abgelenkt, am Brett selbständige Entscheidungen zu treffen.
Welches ist Ihr
beliebtester Partieanschnitt?
Ich habe immer allen
Partiephasen große Aufmerksamkeit geschenkt. Garri Kasparow sagt, dass es bei
mir mehr interessante Eröffnungsideen gibt als bei anderen Großmeistern. Auch
im Mittelspiel fühlte ich mich wohl. Und im Endspiel habe ich eine genaue
Technik. Es ist eine Sache der Intuition. Man muss nicht so viele Züge
vorausrechnen, sondern die Stellung verstehen. Reti hat einmal gesagt, dass
man immer nur einen Zug voraus denken muss. Seit einiger Zeit wird dieser Satz
kurioserweise mir zugeschrieben.
Sie gelten als der
Endspielkünstler schlechthin und haben auch Bücher darüber veröffentlicht.
Ja, wie alle Weltmeister
schenke ich diesem Partiestadium besondere Beachtung. Von Lasker über
Capablanca und Aljechin bis zu Karpow waren die meisten Champions
Endspielvirtuosen. Die heutige Schach-Generation legt dagegen mehr Wert auf
Eröffnungen. Dem Endspiel gehört meine besondere Sympathie. Sein Verständnis
ist d e r Zauberschlüssel, um dem Geheimnis der schachlichen
Meisterschaft auf die Spur zu kommen. Nach meiner Schachkarriere habe ich zwei
Bücher darüber geschrieben. Das eine trägt den Titel „Die Kunst des
Endspiels“, das andere „Geheimnisse des Turmendspiels“.
Was für Partien zeigen
Sie dort?
Vor allem Beispiele aus
meiner eigenen Praxis, denn diese Partien kenne ich natürlich am besten. Man
kann die eigenen Spiele tiefgründiger analysieren, weil man ja seine
Gedankengänge während des Wettkampfes schon einmal vollzogen hat.
Was sollte jeder
Schacheleve in Bezug auf die Endspiele beherzigen?
Man muss diesen
Partieabschnitt ganz gründlich studieren, ehe man überhaupt Turniere spielt.
Fehler, die man im Endspiel begeht, sind in der Regel nicht mehr zu
korrigieren. Man sollte deshalb sehr genau spielen, um Erfolg zu haben. Dabei
darf man aber nicht zu ängstlich sein, sondern sollte seine Figuren maximal
aktivieren.
Sie haben sich auch
als Studienkomponist einen Namen gemacht. Wie umfangreich ist ihr Gesamtwerk?
Inzwischen hat es die Zahl
von 100 schon überstiegen. Ein Buch mit 64 speziellen Aufgaben habe ich schon
veröffentlicht, ein weiteres ist in Vorbereitung.
Welche Glanzpartien aus
Ihrer Laufbahn sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
In meiner langen Karriere
habe ich über 3000 Turnierpartien gespielt. Darunter befinden sich etliche von
hoher Qualität. Es fällt mir deshalb schwer, jetzt einige wenige zu nennen.
Wenn Sie sich aber für
drei denkwürdige Spiele entscheiden müssten...?
Dann würde ich folgende
anführen: Aus meinem ersten WM-Kampf 1954 gegen Michail Botwinnik mag ich
besonders die neunte Partie. Es ist ein Franzose, wo ich mit Weiß die Dame
mitten auf dem Brett geopfert habe. Sehr schön habe ich im gleichen Match auch
mit Schwarz in einem Königsinder gewonnen. Dort waren drei Leichtfiguren von
mir stärker als die gegnerische Dame. Und dann, lassen Sie mich überlegen...
Nennen Sie als drittes
Beispiel bitte noch ein gelungenes „Alterswerk“!
Nun, meine Partie gegen
Zoltan Ribli aus unserem WM-Kandidatenmatch in London 1983 war sehr
interessant. Das ist zwar auch schon über zwei Jahrzehnte her, aber damals war
ich bereits 62 Jahre alt
Drei Lieblingspartien von Vassily Smyslov...
Zu Ehren der Teilnehmer des Superfinales der russischen Landesmeisterschaft
komponierte Wassili Smyslow die folgende Studie.
W. Smyslow 2004
Weiß zieht und hält remis