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Unter Freibeutern
Indonesien hat eine fast
so
lange
Schachtradition wie Indien
ChessBase-Autor Dr. René Gralla daddelt
durch das Sommerturnier
des Indonesischen Generalkonsulats Hamburg
Geschmeidig nähert sich die Jägerin der Beute, fast zärtlich spannt die Schöne ihren Bogen. Den Schmollmund hat sie rot geschminkt, manch einer der männlichen Zuschauer träumt wohl davon, sich einfach willenlos zu ergeben. Nicht so jedoch die Kitze, die das besser wissen und Haken schlagen, um die Verfolgerin abschütteln.
Der "Reh-Tanz" aus Java, vorgeführt von einer Mädchengruppe unter dem Kommando ihrer Lehrerin, die als attraktive Waidfrau den Takt vorgibt, ist einer der Höhepunkte am Tag der Kinder im Indonesischen Generalkonsulat Hamburg. Eine farbenprächtige Choreographie, deren Bilder mir auch dann nicht mehr aus dem Kopf gehen, als ich mich wenig später selber wiederfinde als Beteiligter am Festprogramm.
In der norddeutschen Dependance des südostasiatischen Inselstaates stehen an diesem Sonnabend im August nämlich nicht nur Folklore und Musik auf der Agenda - unter anderem wird den Müttern ein Dankeslied gesungen - , sondern obendrein ein veritables Schachturnier. Und ich habe mich zum Mitmachen überreden lassen, vom Sieger des Vorjahres, Lomo Napitupulu, einer der anwesenden Familienväter in Begleitung von Tochter Merit und Sohn Aries.
Indonesiens Generalkonsul in Hamburg, Teuku Darmawan (l.), bei der Eröffnung
des
Sommerturniers am Brett gegen den Vorjahressieger, Lomo Napitupulu (r.)
Doch nun, nachdem Generalkonsul Teuku Darmawan den symbolischen Eröffnungszug ausgeführt hat, sitze ich meinem ersten Spielpartner gegenüber, einem Herrn Muis, und den kann ich mir ohne Schwierigkeiten auch als Freibeuter irgendwo zwischen Andamanensee und Straße von Malakka vorstellen. Und ich beginne zu ahnen, dass ich vielleicht bald selber das gehetzte Wild sein werde, wie vorhin die Rehlein aus dem Ballett.
Zeit zum Sinnieren habe ich allerdings nicht mehr, das hier ist ein Blitzwettkampf, zwar im etwas gemäßigten 7-Minuten-Modus, aber hektisch genug. Entsprechend kann ich, so lange die Uhr tickt, die ansonsten sommerlich entspannte Aussicht nicht wirklich genießen, die Schachfans duellieren sich auf der Terrasse des Missionsgebäudes an der Bebelallee, hoch über einer weitläufigen Rasenfläche, die hinunter reicht bis zu einem Nebenarm der Alster.
Herr Muis attackiert sofort mit dem Doppelschritt des Leibwächters halbrechts vor seinem Monarchen, 1.f2-f4 ... . Ein Intro, das sich ein Engländer namens Henry E. Bird vor fast 130 Jahren ausgedacht hat und deswegen eine Sache für wahre Experten.
ChessBase-Autor Dr. René Gralla (r.) in der zweiten Partie der ersten
K.o.-Runde gegen Herrn Muis (l.)
Aber inzwischen überrascht mich gar nichts mehr. Eigentlich hatte ich im
Indonesischen Generalkonsulat lecker gewürztes Essen - das wird allerdings
auch reichlich serviert! - und Folklore erwartet, und
vielleicht zwischendurch ein lustiges Partiechen "Surakarta". Das ist
eine Art Dame aus Java, bei der feindliche Figuren erst dann geschlagen
werden dürfen, wenn der eigene Stein mindestens eine Ehrenrunde durch einen
von vier Halbkreisen gedreht hat, die als ausladende Ornamente die Ecken
eines Gitternetzplanes mit insgesamt 36 Positionen zieren.
Tamilische Kaufleute haben Schach nach Sumatra gebracht
Aber Schach? Tatsächlich ist gerade der Denksport in Indonesien äußerst populär, wie ich heute im Generalkonsulat lerne. Schließlich blickt die viertgrößte Nation der Welt auf eine fast so lange Schachgeschichte zurück wie Indien. Tamilische Kaufleute haben das strategische Spiel wahrscheinlich bereits in seiner frühen Form "Chaturanga" über das Meer nach Sumatra gebracht, zur Goldenen Zeit von Srivijaya, das sich ab dem 7. Jahrhundert formierte. Zum Höhepunkt seiner Macht reichte der Einfluss des Reiches um die Hauptstadt Palembang von der malaiischen Halbinsel bis zum Westen von Java.
Schach ist nach seiner Ankunft in Srivijaya weiter Richtung Norden gewandert, in die Regionen des späteren Siam und Kambodscha. Ein Prinz, der auf Java erzogen worden war, gründete 802 das Angkor der Khmer. Und auch Schach fand seinen Weg dorthin: Reliefs der weltberühmten Tempelanlage Angkor Wat zeigen Spieler am Brett.
Die Wiege der Mattkunst in Südostasien stand mithin auf Sumatra. Und bezeichnenderweise hat in ländlichen Gebieten bis in die Gegenwart ein kurioses Privileg des Schachherrschers überlebt. Der darf zu Beginn eines Treffens aus der Mitte des Brettes zur Seite hüpfen wie ein Springer, ein Trick, den ältere Spieler in Thailand und Kambodscha ebenfalls kennen und schätzen.
In Hamburg 2009 hüpft selbstverständlich kein König, das moderne Regelwerk der FIDE wird korrekt eingehalten. Da hat Turnierleiter Tera Siregar (58), Mitglied des HSK, sein strenges Auge drauf, und das ist auch gut so. Zumal die Indonesier unisono einen unkonventionellen Stil pflegen und Überfallangriffe lieben, das Piratenerbe der Vorfahren bricht unverkennbar durch.
Ich starte in Gruppe B, der Modus ist ein K.o.-System, einmal mit Schwarz und einmal mit Weiß gegen den jeweils ausgelosten Spielpartner, bei Gleichstand entscheidet ein 5-Minuten-Tie-Break. Mehrfach entgehe ich bloß knapp einem Desaster. In Runde zwei, nachdem ich irgendwie den gefährlichen Herrn Muis ausgetrickst habe, haut mir ein Typ Karatekämpfer & Womanizer meine Philidor-Verteidigung um die Ohren. Die frühe Austauschvariante 1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 Sf6 4.dxe5 Sxe4 ... wäre für mich fast tödlich ausgegangen, allein das fallende Blättchen rettet den vollen Punkt, weil der Ladykiller sein Zeitkonto falsch eingeschätzt hat.
Daddelnd über das Brett im Geist der deutschen Duselelf 2002
Prompt stelle ich im Halbfinale gegen den Champ 2008, meinen Kumpel Lomo Napitupulu, eine fette Figur ein. Ich daddele und schwindele - und rumpele tatsächlich in die Endrunde. Wenn Fußball Rasenschach ist, dann ist das, was ich abliefere, Brettgebolze auf schönstem Murkserlevel, High End im unvergessenen Geist der deutschen Duselelf 2002.
Deswegen bin ich ziemlich verblüfft, als nach dem finalen Tie-Break - jetzt gegen Uluna Ginting, den Vorgruppensieger A - das Ergebnis feststeht: der ChessBase-Autor auf Platz 1! Ich finde das etwas unhöflich, aber Generalkonsul Teuku Darmawan beruhigt mich.
ChessBase-Autor Dr. René Gralla erhält von Generalkonsul Teuku Darmawan die
Siegermedaille umgehängt.
Das sei schon die 20. Auflage des Sommerturniers im Generalkonsulat, und zum ersten Mal habe ein Nichtindonesier das Turnier gewonnen, für sie als Gastgeber sei das "eine große Ehre". Und er hängt mir unter allgemeinem Beifall eine Ehrenmedaille um.
Anschließend startet die Konkurrenz im "Gaple", dem indonesischen Domino. Aber jetzt bleibe ich doch lieber außen vor, als Zuschauer. Du musst einfach wissen, wann es Zeit ist aufzuhören.
Indonesier können nicht nur Schach. Begeistert wird auch das regionale
Domino "Gaple" gezockt.