Die Kandidatenturniere 1959 und 1962: Geschichten und Partien

von Johannes Fischer
07.03.2018 – Kandidatenturniere waren immer besondere Turniere, denn der Gewinner der Kandidatenturniere durfte gegen den amtierenden Weltmeister um den Titel spielen. Beim Kandidatenturnier 1959 brillierte Tal, das Kandidatenturnier in Curacao 1962 sorgte für einen Skandal. (Foto: Mihail Tal)

Mega Datenbank 2018 Mega Datenbank 2018

Über 7,1 Mill. Partien aus dem Zeitraum 1560 bis 2017 im ChessBase Qualitätsstandard. Mit über 71.500 kommentierten Partien beinhaltet die Mega 2018 die weltweit größte Sammlung hochklassig kommentierter Partien.

Mehr...

Kandidatenturnier 1959: Bled, Zagreb, Belgrad

Anders als in Zürich 1953 und in Amsterdam 1956 gingen beim Kandidatenturnier 1959 nur acht Teilnehmer an den Start. Allerdings spielten sie jeweils vier Partien gegeneinander und mussten so genau wie vorherige Kandidaten ein Mammutprogramm von 28 Partien absolvieren. Mit dieser Herausforderung kam Mihail Tal am besten zurecht. Er gewann das Turnier mit 20,0/28, auf Platz zwei folgte Keres mit 18,5/28.

Abschlusstabelle

Rg. Titel Name Land 1 2 3 4 5 6 7 8 Pkt.
1 GM Mihail Tal
 
  1000 ½½½½ 0½11 1111 1½11 ½111 111½ 20.0 / 28
2 GM Paul Keres
 
0111   ½0½½ 0½1½ 1100 1½½1 0111 1111 18.5 / 28
3 GM Tigran V Petrosian
 
½½½½ ½1½½   ½0½½ ½1½1 ½0½1 0½10 ½11½ 15.5 / 28
4 GM Vassily V Smyslov
 
1½00 1½0½ ½1½½   ½10½ 100½ 11½½ 101½ 15.0 / 28
5 GM Robert James Fischer
 
0000 0011 ½0½0 ½01½   ½1½0 11½0 ½½11 12.5 / 28
6 GM Svetozar Gligoric
 
0½00 0½½0 ½1½0 011½ ½0½1   1½0½ ½½½1 12.5 / 28
7 GM Fridrik Olafsson
 
½000 1000 1½01 00½½ 00½1 0½1½   100½ 10.0 / 28
8 GM Pal C Benko
 
000½ 0000 ½00½ 010½ ½½00 ½½½0 011½   8.0 / 28

Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Tal sich unmittelbar vor Beginn des Turniers einer Blinddarmoperation unterziehen musste. Yuri Averbakh, der Tal als Sekundant beim Kandidatenturnier unterstützte, war bestürzt, als er den von Krankheit gezeichneten Tal traf, um mit ihm nach Jugoslawien zu fahren: „Er sah bleich und ausgezehrt aus. Nur seine Augen waren so durchdringend wie stets und leuchteten mit unauslöschlichem Feuer.“ (Zitiert in Dmitry Plisetsky und Sergey Voronkov, Russians vs. Fischer, Everyman 2005, S.32)

Mihail Tal (Foto: Turnierbuch Kandidatenturnier 1959)

Tal selbst spielte die Auswirkungen der Operation herunter: "Ich hatte zehn Tage Zeit, um mich zu erholen. ... Die Folgen der Operation störten mich nicht sehr...; [aber] während der Partie hatte ich keine Lust, umherzulaufen und ich konnte nicht schnell gehen. Ich konnte mich also ganz auf den Kampf konzentrieren." Mihail Tal, The Life and Games of Mihail Tal, RHM Press 1976, S.118)

In jedem Fall startete Tal schlecht ins Turnier – aus den ersten drei Partien holte er nur einen Punkt. Doch je länger das Turnier dauerte, desto besser kam er in Form. Vor allem gegen die vier Spieler am Tabellenende gelang ihm fast alles: Er holte 14,5 Punkte aus 16 Partien – er gewann 13 Partien und gab nur drei Remis ab. Gegen die Spieler auf den Plätzen zwei bis vier holte Tal hingegen nur 5,5 aus 12 und blieb mit drei Siegen, vier Niederlagen und fünf Remis noch unter der 50 Prozent Marke.

Master Class Band 2: Mihail Tal

Dorian Rogozenco, Mihail Marin, Oliver Reeh und Karsten Müller stellen den 8. Schachweltmeister und seine Eröffnungen, sein Verständnis der Schachstrategie, seine Endspielkunst und nicht zuletzt seine unsterblichen Kombinationen in Videolektionen vor.

Mehr...

Schachspieler in aller Welt beeindruckte jedoch vor allem die Art, wie Tal seine Partien gewann. Wie schon bei seinem Sieg beim Interzonenturnier in Portoroz 1958 scheute er weder Risiken noch Opfer. Dieser Stil führte zu empfindlichen Niederlagen, aber auch zu einer Reihe von Glanzpartien. Ein Beispiel für eine empfindliche Niederlage beim Kandidatenturnier 1959 ist seine Partie gegen Keres aus der 10. Runde:

 

Doch solche Ausrutscher waren selten - weit häufiger konnten Tals Gegner, die Probleme, die er ihnen bereitete, nicht lösen:

 

Große Aufmerksamkeit erregte das Duell zwischen Tal und dem erst 16-jährigen Fischer. Tal gewann alle vier Partien gegen den Amerikanier, wenn auch nicht ohne ein Quäntchen Glück.

Bobby Fischer 1959 (Foto: Turnierbuch Kandidatenturnier 1959)

Eine seiner vier Verlustpartien gegen Tal nahm Fischer später in seine Partiensammlung Meine 60 Denkwürdigen Partien auf - ein Indiz, wie sehr ihn dieser Verlust getroffen hat.

 

Master Class Band 1: Bobby Fischer

Kein anderer Weltmeister erreichte auch über die Schachwelt hinaus eine derartige Bekanntheit wie Bobby Fischer. Auf dieser DVD führt Ihnen ein Expertenteam die Facetten der Schachlegende vor und zeigt Ihnen u.a die Gewinntechniken des 11.Weltmeisters

Mehr...

Der Verdacht der Turniermanipulation durch die sowjetischen Spieler kam beim Kandidatenturnier 1959 nicht auf. Offensichtlich hatten Tal und Petrosian zwar einen Nichtangriffspakt geschlossen – ihre vier Partien endeten alle mehr oder weniger schnell mit Remis – aber das Ergebnis von Tal gegen Keres und gegen Smyslov war für ernsthafte Verschwörungstheorien einfach zu schlecht.

Die gab es erst drei Jahre später wieder, beim Kandidatenturnier 1962 in Curacao. Auch da war Tal wieder dabei. Denn 1960 war er nach einem Aufsehen erregenden Weltmeisterschaftskampf gegen Botvinnik zwar Weltmeister geworden, aber wie gegen Smyslov 1957 nutzte Botvinnik das Recht auf einen Rückkampf und holte sich den Titel 1961 zurück.

Kandidatenturnier Curacao 1962

(Der folgende Abschnitt ist eine gekürzte Fassung meines Artikels „Was geschah in Curacao 1962“, der im KARL-Heft 01/2013 erschienen ist, das sich im Schwerpunkt mit dem Thema Betrug beschäftigt.)

Der Modus des Kandidatenturniers 1962 war der gleiche wie drei Jahre zuvor: acht Teilnehmer, 28 Runden, vier Partien Jeder-gegen-Jeden. Eigentlich sollte da der Beste gewinnen. Trotzdem gilt Curacao 1962 als Skandalturnier. Dafür sorgte Bobby Fischer. Unter dem Titel "The Russians Have Fixed World Chess" veröffentlichte er am 20. August 1962 in der amerikanischen Zeitschrift Sports Illustrated einen Artikel, in dem er behauptete, die sowjetischen Teilnehmer (die Fischer unter Missachtung politischer und nationaler Nuancen stets als "Russen" bezeichnet) hätten das Turnier manipuliert. Fischers Artikel sorgte weltweit für Aufsehen und erschien in deutscher Übersetzung im Spiegel 41/1962 unter dem Titel "Schacher im Schach: Das abgekartete Spiel der Russen".

Fischer behauptete, "die Russen arbeiteten unverhohlen zusammen. Sie einigten sich im vorhinein, untereinander remis zu spielen. … Hinzu kam, daß sich die Russen während der Spiele berieten. Wenn ich gegen einen von ihnen antrat, so beobachteten die anderen mein Spiel und kommentierten meine Züge auf eine Weise, die meinem Gegner nur förderlich sein konnte."

Tatsächlich war das Ergebnis des Turniers in Curacao ein sowjetischer Triumph. Auf Platz eins landete Tigran Petrosian (17,5/28), der sich damit das Recht sicherte, gegen Michail Botwinnik ein Jahr später um die Weltmeisterschaft zu spielen und nach seinem Sieg in diesem Wettkampf neuer Weltmeister wurde.

Tigran Petrosian 1959 (Foto: Turnierbuch Kandidatenturnier 1959)

Einen halben Punkt hinter Petrosian folgten Paul Keres und Efim Geller auf den Plätzen zwei und drei. Fischer wurde mit drei Punkten Rückstand auf Keres und Geller Vierter. Auf Platz fünf folgte Viktor Kortschnoi vor Pal Benkö und Miroslav Filip. Den letzten Platz belegte Michail Tal, der unter gesundheitlichen Problemen litt. Kurz vor dem Turnier hatte sich Tal einer Nierenoperation unterziehen müssen und in Curacao bereitete ihm die Niere wieder Probleme und er zog sich nach 21 Runden aus dem Turnier zurück.

Abschlusstabelle

Rg. Titel Name Land 1 2 3 4 5 6 7 8 Pkt.
1 GM Tigran V Petrosian
 
  ½½½½ ½½½½ ½1½½ 1½1½ ½1½½ 1½1  ½1½1 17.5 / 27
2 GM Paul Keres
 
½½½½   ½½½½ 10½½ 1½½½ 1011 ½11  ½11½ 17.0 / 27
3 GM Efim P Geller
 
½½½½ ½½½½   10½1 ½½1½ ½½½1 ½11  1½1½ 17.0 / 27
4 GM Robert James Fischer
 
½0½½ 01½½ 01½0   001½ ½011 1½½  ½½11 14.0 / 27
5 GM Viktor Lvovich Kortschnoj
 
0½0½ 0½½½ ½½0½ 110½   0½½½ 0½1  1111 13.5 / 27
6 GM Pal C Benko
 
½0½½ 0100 ½½½0 ½100 1½½½   1½0  1½01 12.0 / 27
7 GM Mihail Tal
 
0½0  ½00  ½00  0½½  1½0  0½1    ½10  7.0 / 21
8 GM Miroslav Filip
 
½0½0 ½00½ 0½0½ ½½00 0000 0½10 ½01    7.0 / 27

Doch Fischers Vorwürfe, die sowjetischen Spieler hätten das Turnier durch Absprachen manipuliert, richteten sich auch nicht gegen Tal, sondern gegen Petrosian, Keres, Geller und Kortschnoi. Aber wie berechtigt waren sie? Gab es eine Absprache zwischen vier sowjetischen Spielern oder nur zwischen Petrosian, Geller und Keres? Waren dies private Absprachen oder waren sie politisch gelenkt? Wurden Partien auf politischen Druck hin verschoben? Oder waren Fischers Vorwürfe nur das Quengeln eines erfolgsverwöhnten Schachgenies und schlechten Verlierers, der nicht einsehen wollte, dass er mit 19 noch nicht der beste Spieler der Welt war?

Wie Fischer einräumt, "[scheint] sich jeder Verlierer, der zu erklären versucht, warum er den Weltmeistertitel nicht gewinnen kann, oder der sich über das System auslässt, das es uns unmöglich macht, mit den Russen unter gleichen Voraussetzungen zu kämpfen, … wie der Fuchs zu gebärden, der die Trauben – weil sie zu hoch hängen – als zu sauer verschmäht".

Die Zahlen sprechen gegen Fischer: immerhin hatte der Amerikaner am Ende ganze 3,5 Punkte Rückstand auf den Turniersieger und konnte keinen der Miniwettkämpfe gegen die drei Führenden gewinnen. Gegen Petrosian und Geller verlor er 1,5:2,5, gegen Keres endete der Vergleich 2:2 Unentschieden.

Doch zumindest mit einer Behauptung hatte Fischer Recht: Petrosian, Geller und Keres hatten einen Nichtangriffspakt geschlossen und alle ihre Partien untereinander Remis gemacht, meistens nach nur wenigen Zügen.

Dabei hintergingen sich die sowjetischen Spieler auch gegenseitig. So musste Keres in der vorletzten Runde des Turniers gegen Benkö spielen und mit einem Sieg hätte sich Keres vor Petrosian an die Spitze des Feldes geschoben und beste Chancen gehabt, Turniersieger zu werden. Zuvor hatte Keres sieben Mal in Folge gegen Benkö gewonnen, doch jetzt verließ ihn das Glück. Bei Abbruch der Partie stand Keres schlechter und konnte bestenfalls auf Remis hoffen. Wie Benkö berichtet, kamen Petrosian und Geller daraufhin heimlich zu ihm – der als Flüchtling aus Ungarn für die Sowjetunion eigentlich persona non grata war – und boten an, ihm bei der Analyse der Hängepartie zu helfen. Benkö brauchte die Hilfe nicht und gewann nach Wiederaufnahme der Partie ohne Probleme. (Vgl. Pal Benko: My Life, Games and Compositions, Los Angeles: Siles Press 2003, S.127-128).

Brisant ist die Andeutung Fischers, Kortschnoi sei dazu gebracht worden, Punkte zu verschenken:

Während der ersten Hälfte des Turniers spielte auch er gegen die anderen Russen jedesmal unentschieden. Dann wurde eine Ruhepause von fünf Tagen eingelegt, die wir auf der Insel St. Martin verbrachten. … Was immer auch bei den Besprechungen der Russen auf St. Martin geschehen war – Tatsache ist, daß Kortschnois Spiel unmittelbar darauf abrupt zusammenbrach. Er verlor drei Spiele hintereinander, erst gegen Geller, dann gegen Petrosian und schließlich gegen Keres.

Doch warum sollte politischer Druck auf Kortschnoi ausgeübt worden sein, Partien zu verlieren? Wie Boleslavsky, Trainer und Begleiter der sowjetischen Delegation, feststellt, war das gar nicht nötig:

Unser vorrangiges Ziel beim Turnier in Curacao – das darin bestand, dass der Herausforderer beim Kampf um den Weltmeistertitel ein sowjetischer Spieler sein sollte – erwies sich als nicht als allzu schwer zu erreichen, da die ersten beiden Runden zeigten, dass unser größter Rivale, Robert Fischer, auf den bevorstehenden Kampf nicht ausreichend vorbereitet war. (Dmitry Plisetsky und Sergey Voronkov, Russians vs. Fischer, London: Everyman 2005, S.84)

Bei allen Unklarheiten über das Geschehen in Curacao scheint sicher zu sein, dass Keres, Petrosian und Geller ein Remis-Team gebildet haben, wobei sich Petrosian und Geller, als es am Ende um den Turniersieg ging, heimlich gegen Keres verbündeten. Man kann vermuten, dass die Verantwortlichen in der sowjetischen Delegation den Pakt zwischen Petrosian, Geller und Keres nicht vorgeschlagen, aber gebilligt haben, diente er doch dem Ziel, für einen sowjetischen Turniersieger und WM-Herausforderer zu sorgen. Doch die sowjetische Delegation dürfte nicht so weit gegangen sein, einzelne Spieler zu zwingen, Partien zu verlieren – und sei es auch nur, weil nie Gefahr bestand, dass ein nicht-sowjetischer Spieler das Turnier gewinnt.

Nimmt man all das zusammen, war Fischers prinzipieller Vorwurf, die sowjetischen Spieler hätten die Kandidatenturniere so manipuliert, dass ein westlicher Spieler keine Chance hatte, den amtierenden Weltmeister herauszufordern, berechtigt. Dessen ungeachtet war Fischer 1962 offensichtlich noch nicht stark genug, um das Kandidatenturnier zu gewinnen und Weltmeister zu werden.

Die Diskussion um mögliche Absprachen in Curacao überschattete das Turnier und nur wenige Partien aus Curacao gingen in die Schachgeschichte ein. Eine davon ist Petrosians brutaler Sieg gegen Viktor Kortschnoi.

 

Fischers öffentliche Kritik machte auf die Manipulationen der Kandidatenturnier durch das sowjetische Schachsystem aufmerksam und hatte weit reichende Folgen. Im nächsten Weltmeisterschaftszyklus schaffte die FIDE die Kandidatenturniere ab und ermittelte den Herausforderer des Weltmeisters fortan mit Hilfe eines Wettkampfsystems oder später mit einer Mischung aus Wettkämpfen und Kandidatenturnier. Erst 2013 organisierte die FIDE wieder ein Kandidatenturnier im klassischen Stil.

Link auf Teil 1

Demnächst: Die Kandidatenturniere 2013, 2014 und 2016...

 


Johannes Fischer, Jahrgang 1963, ist FIDE-Meister und hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaft studiert. Er lebt und arbeitet in Nürnberg als Übersetzer, Redakteur und Autor. Er schreibt regelmäßig für KARL und veröffentlicht auf seinem eigenen Blog Schöner Schein "Notizen über Film, Literatur und Schach".

Diskutieren

Regeln für Leserkommentare

 
 

Noch kein Benutzer? Registrieren