Die Liebe zum Fußball, zum Tischtennis und zum Schach

von Dagobert Kohlmeyer
02.06.2023 – Carsten Hensel, Dortmunder Schach-Organisator und früherer Manager von Peter Leko und Vladimir Kramnnik, feiert heute seinen 65. Geburtstag. Kurz vor Beginn der 50. Dortmunder Schachtage führte Dagobert Kohlmeyer ein Interview mit dem Jubilar. | Foto: privat

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Die Liebe zum Fußball, zum Tischtennis und zum Schach

Der Dortmunder Journalist, Sportmanager und Schachorganisator Carsten Hensel feiert heute seinen 65. Geburtstag. Ein langjähriger Weggefährte aus Berlin hat anlässlich des Jubiläums mit ihm auf die letzten drei Jahrzehnte zurückgeblickt.

Carsten, du hast als Journalist und Pressesprecher viele Sportler kennengelernt. Wenn man aus Dortmund kommt, ist man vor allem fußballverrückt. In deiner Jugend warst du aktiver Tischtennisspieler und hast diese Sportart mit Leidenschaft betrieben und auch promotet. Seit über seit 30 Jahren aber bist du besonders eng mit der Schachszene verbunden. Wie kam es dazu?

Wir hatten 1989 eine unglaublich erfolgreiche Tischtennis-Weltmeisterschaft organisiert: Über 100.000 Zuschauer, 800 Journalisten vor Ort und Jörg Roßkopf/Steffen Fetzner holten im Herrendoppel den bis heute einzigen WM-Titel für Deutschland. Zu jener Zeit bat mich Gerd Kolbe, mir die Internationalen Dortmunder Schachtage anzusehen. Es fand 1990 die 18. Ausgabe in einer Tanzschule statt. Gerd, der schon in leitender Funktion bei der Stadt tätig war und den ich während meines Studiums kennengelernt hatte, war auch mein langjähriger Vorgänger als Veranstaltungsleiter bei den Schachtagen. Er holte mich ins Presseamt der Stadt Dortmund und gab mir die Möglichkeit, herausragende Sportprojekte zu entwickeln.   

Und wie ging es dann weiter?

Zunächst nahm mich Jürgen Grastat unter die Fittiche. Mit ihm fuhr ich zu großen Schachturnieren, und ich lernte nach und nach die wichtigsten Personen in der Szene kennen: Funktionäre und Sponsoren, die Top-Großmeister, Journalisten, Manager und weitere große Namen im Profischach. Jürgen und mich verband eine intensive Freundschaft, und wir hatten große Freude an dem, was wir taten. Ich war schon immer recht kreativ, hatte viele Ideen. Am wichtigsten aber war, dass Gerd und Jürgen zuließen, dass ich mich frei entfalten konnte.   Auch Du gehörtest von Anfang an zu den wichtigen Menschen, die mir Türen öffneten. Wenn ich nur an das Kandidaten-Viertelfinale 1991 im Brüsseler SAS Royal denke, welches Bessel Kok organisierte. Ich lernte Vishy Anand, Anatoli Karpow, Wassili Iwantschuk, Artur Jussupow, Helmut Pfleger und andere Berühmtheiten in persönlichen Gesprächen kennen, und das innerhalb von ein paar Tagen und während eines einzigen Ereignisses! Es war unglaublich und motivierte mich für alles, was danach kam.             

Schach gilt für viele als Randsportart, die Klötzchenschieber werden gern als Sonderlinge bezeichnet. Wie beurteilst Du die Situation im Profischach?

Ich würde Schach nicht als Randsportart bezeichnen. Im internationalen Maßstab und hinsichtlich des Organisationsgrades gehört Schach global zu den größten Freizeitaktivitäten überhaupt. Einziges Manko war seit jeher, dass die Kompatibilität zum klassischen TV-Format so gut wie nicht gegeben ist. Aber das wird ja momentan durch das Internet schon fast kompensiert. Diese Entwicklung wird weitergehen und sich durch entsprechende Werbemärkte immer stärker durchsetzen. Und die Topspieler, ganz besonders der Schachweltmeister, sind internationale Stars, die immer von einer ganz besonderen Aura umgeben sind. All dies wird eines Tages auch das IOC so sehen und Schach in das olympische Programm aufnehmen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Schach hat ein unglaubliches Potential.

Juan Antonio Samaranch 1998 in Lausanne

Was die Haltung des IOC angeht, so teile ich deinen Optimismus nicht. Der frühere Präsident Juan Antonio Samaranch hatte etwas für Schach übrig. Aber als ich ihn 1998 am Rande des WM-Finales Karpow-Anand in Lausanne nach den reellen Chancen für das Schach fragte, olympische Disziplin zu werden, schüttelte er mit dem Kopf. Ein Thomas Bach würde es heute noch heftiger tun, der Kommerz hat im IOC inzwischen extreme Formen angenommen. - Wo aber gibt es aus deiner Sicht Verbesserungsbedarf, um Schach vernünftig vermarkten zu können?

Bedenklich ist die Monopolstellung von nur wenigen kommerziellen Anbietern. Die Übernahmen der letzten Zeit und die Konzentration der Macht auf wenige Investoren geben einem wirklich zu denken. Ganz besonders auch deshalb, weil diese Geldgeber ganz gezielt in den sportlichen Wettbewerb inklusive der Weltmeisterschaft eingreifen werden. Die Einflussnahme von privaten Unternehmen auf Formate, Privilegien bestimmter Profis sowie das Beeinflussen der öffentlichen Meinung muss meines Erachtens begrenzt werden. Der Weltverband wird deshalb alle Hände voll zu tun haben, Interessenkonflikte zu vermeiden und Transparenz sowie Chancengleichheit für alle Beteiligten aufrecht zu erhalten. Ich schätze Arkady Dworkowitsch. Er hat bei der FIDE bereits sehr viel erreicht, ganz besonders, wenn ich an die Willkür im Weltverband zu meiner Zeit als Manager von Wladimir Kramnik denke. Aber die Vermarktung des WM-Zyklus bei gleichzeitiger Kontrolle eines fairen und transparenten Wettbewerbs wird zu einer großen Herausforderung für die FIDE.   

Kommen wir zurück zu Deiner Geschichte. In Dortmund haben wir Deine späteren Schützlinge Peter Leko und Wladimir Kramnik schon früh als hochtalentiert erlebt. Es gab aber auch Unterschiede zwischen ihnen. Peter weinte 1991 als 11-Jähriger noch, als er eine Partie unglücklich verlor. Wladimir, ein paar Jahre älter, war 1992 bereits ganz cool und gewann das starke Open. Deutete sich damals auch für dich schon an, wer von den beiden eher das Zeug zum Champion hat?

Es ist schwer, in wenigen Sätzen darauf zu antworten. Peter war 1991 ein Kind und sehr ehrgeizig. Damit auch nur den Anschein zu erwecken, als sei er zu weich gewesen, ist grundfalsch. Im Gegenteil: Lekos beste Zeit, die ich zwischen 1998 und 2005 ansetzen würde, sah einen Spieler von unglaublicher Zähigkeit. Seine Verteidigungshärte und die Kreativität, die er unter Beschuss entwickeln konnte, waren einfach unglaublich. In Bezug auf diesen spezifischen Bereich hat es in der gesamten Schachgeschichte kaum vergleichbare Spieler gegeben. Diese Art, Spitzenschach zu praktizieren, kostet über die Jahre unglaublich viel Energie und ist vielleicht ein Grund, warum wir ihn nicht mehr so häufig am Brett erleben.   

Wladimir hingegen fallen die rein schachlichen Dinge sehr viel leichter. Er verfügt über ein Jahrhunderttalent, wenn es um strategisches Spielverständnis und die Nuancen einer Schachstellung geht. Champions sind beide, jeder von ihnen hat seine Stärken und auch die eine oder andere Schwäche. Das ist ganz normal, auch auf diesem Niveau. Dass Wladimir im Gegensatz zu Peter den Weltmeistertitel gewann und über sieben Jahre verteidigen konnte - eben auch gegen Leko - liegt nach meiner Ansicht wesentlich daran, dass Kramnik auch ein paar praktische Dinge außerhalb des Schachbrettes in den Wettkampf einbezog und insgesamt über das robustere Nervenkostüm verfügte.             

Kramnik, Hensel, Leko 2004 in Dortmund

In seiner Jugend lebte Wladimir Kramnik vor allem von seinem überragenden Talent. Besonders engen Kontakt hatten wir, als er einige Jahre für meinen Verein Empor Berlin in der Bundesliga spielte. Sehr diszipliniert war er da noch nicht. Gingen wir vor der Partie zum Mittagessen, gehörte bei ihm auch ein Glas Rotwein dazu. „Ich gewinne trotzdem“, sagte er und behielt recht. Wladimir hat keine einzige Bundesliga-Partie verloren. Ab wann ist er aus deiner Sicht seriöser geworden?

Mit Wladimir konnte man schon jede Menge Spaß haben zu jener Zeit. Auch mal vor einer Partie bis hinein in die frühen Morgenstunden die Minibar leeren. Obwohl diese Geschichten mit der Zeit mehr und mehr in den Medien übertrieben wurden. Ganz so extrem war es nämlich nicht. Kramniks Hauptproblem war halt ein gewisses Phlegma, dieser Hang wenig bis nichts zu organisieren und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Diesen Mangel an Fokussierung kannst Du Dir einfach nicht erlauben. Weder wenn Du Weltmeister werden willst und schon gar nicht, wenn Du den Titel verteidigen möchtest. Das alles ist ja auch mit unendlich vielen Verpflichtungen außerhalb des sportlichen Wettkampfes verbunden. Mit der Vorbereitung des Matches gegen Kasparow hat Wlad dieses Problem abgelegt und was danach kam, ist ja allgemein bekannt.          

Kramniks WM-Sieg über Kasparow in London war für viele eine große Überraschung. Es lag sicher nicht nur an der „Berliner Mauer“, mit der Wladimir als Schwarzer in der Spanischen Partie Kasparow aus seinem „Eröffnungsbuch“ herausgenommen hat. Wie erstaunt warst du über den Ausgang des Matchs?

Ich habe es ja schon mehrfach gesagt: Überhaupt nicht! Wladimir hatte sich physisch und psychisch in eine Topverfassung gebracht, sein Team war schlagkräftig, und er war wirklich fokussiert. In der Vorbereitung eines WM-Kampfes ist es essentiell, eine umfassende Stärken-/Schwächen-Analyse zu erstellen: und zwar nicht nur mit Blick auf den Kontrahenten, sondern auch auf sich selbst. Diese Objektivität gegenüber der eigenen Person ist ganz nebenbei der schwierigste Part von allen.

Vor dem Match gegen Garri sah Wladimir die Situation glasklar und zog im Gegensatz zu Kasparow die richtigen Schlüsse. Es gab einige strategische Entscheidungen, eine wesentliche war die „Berliner Mauer“. Kasparows Computer, die ihm in der Vorbereitung immer einen Vorsprung vor allen Konkurrenten sicherten, waren hier wenig hilfreich. Sie rechneten sich dumm und dämlich an vermeintlichen Vorteilen, verstanden aber die Stellungen nicht. Gleichzeitig war Kasparows Matcherfahrung ausgehebelt und sein Team gleich mit. Denn sie hatten in der Vorbereitung nicht eine Sekunde auf diese Verteidigung geschaut. Und das hatte neben den rein schachlichen Aspekten auch zur Folge, dass Garri aus seinem emotionalen Gleichgewicht gebracht wurde.       

Partie 1 in London

Wladimir hat Kasparow keine Revanche gegeben. Soviel ich weiß, gab es diese Klausel im WM-Vertrag 2000 nicht. Damals waren Kasparow und sein Management wohl zu siegessicher?

Der Vertrag war eindeutig, der Verlierer verpflichtete sich zur Teilnahme am nächsten Kandidatenturnier. Punkt. Und das machte auch Sinn, denn alle wollten den WM-Zyklus nach dem Match professionell vermarkten inklusive klarer Regeln für alle Topspieler. Ich bin relativ sicher, dass Garri dies auch wirklich so wollte. Es gehen die Meinungen auseinander, ob er zu siegessicher war. Ich glaube schon, Wladimir sieht es anders. Als Kasparow allerdings verloren hatte, fühlte er anders und erfüllte den Vertrag nicht. Mehr oder weniger die ganze professionelle Schachwelt inklusive Sponsoren, Journalisten und auch Organisatoren hatte er im Sack. Und dann diese Niederlage. Insofern könnte ich sogar ein gewisses Verständnis für ihn aufbringen. Dass er aber nach der Niederlage sofort eine Kampagne gegen Kramnik startete, sich an die Brust des Weltverbandes warf, den er 15 Jahre lang bis aufs Blut und zurecht bekämpft hatte, machte ein Rematch für Wladimir einfach unmöglich, ganz abgesehen von den vertraglichen Umständen.

Es wurde auch behauptet, Kramnik habe Angst gehabt, gegen Kasparow nochmals anzutreten. Ich war in dieser Phase täglich mit Wladimir zu diesen Themen unterwegs. Das stimmt einfach nicht, gegen Kasparow wäre er gerne noch einmal angetreten. Der lag ihm einfach, und London 2000 war definitiv nicht sein schwerster WM-Kampf.                

Apropos Vertrag. Hast du mit Wladimir je einen schriftlichen Vertrag gehabt, oder genügte ein Handschlag?

Am Anfang hatten wir etwas auf einem Blatt Papier notiert, später empfanden wir das als überflüssig.



Wijk aan Zee 2003: Kramnik, Koth, Hensel, Timman

Wir beide waren viel in der Schachwelt unterwegs. Ob in Dortmund, Hamburg, Brüssel, Linares, Wijk aan Zee, Moskau, Elista, Budapest, Miskolc, auch in Bahrain und anderswo, stets begleiteten wir die Schachstars in unterschiedlicher Funktion. Unsere Zusammenarbeit war immer vertrauensvoll. Als zum Beispiel das WM-Finale 2004 in Brissago feststand, hast du mir das schon Tage vorher mitgeteilt, aber bis zur Pressekonferenz am Veranstaltungsort in der Schweiz ging natürlich keine Nachricht raus, auch nicht an dpa.

Bezüglich der Kommunikation hatte ich als Pressesprecher bei der Stadt Dortmund schon eine ganz gute Schule. Nach und nach habe ich dann meinen eigenen Stil entwickelt, wenn man es so sagen kann. Der erste Grundsatz lautet: Wenn Du etwas in der Öffentlichkeit sagst, sei ehrlich. Ansonsten sag lieber gar nichts. Zweitens finde heraus, welches die Schlüsselmedien zu Deinem Thema sind. Drittens, wem kannst Du bei Hintergrundgesprächen trauen?

Du hattest damals als dpa-Korrespondent mit Peter Hübner dort eine Schlüsselrolle für den deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Du gehörtest zu einer Hand voll Medienvertretern, mit denen man eine Information zu einem bestimmten Zeitpunkt koordiniert um den ganzen Planeten schicken konnte. Und ich konnte Dir vertrauen. Das ist bei solch exklusiven Vorabinfos von entscheidender Bedeutung.   

              

WM-Finale in Brissago

Die WM-Finalisten Wladimir Kramnik und Peter Leko waren beide Klienten von dir, eine ungewöhnliche Konstellation. Wie hast du in Brissago den Spagat hinbekommen, dass kein offensichtlicher Interessenkonflikt daraus wurde?

Ich habe versucht, niemanden zu bevorteilen. Aus der Vorbereitung und den sportlichen Dingen habe ich mich ganz rausgehalten. Die Kommunikation habe ich ebenso wie das Vertragsmanagement mit beiden Spielern transparent abgestimmt. Natürlich nahm Kramnik als Weltmeister eine viel wichtigere Rolle bei der Akquisition der Sponsoren für den WM-Kampf ein. Das ist alles geschmeidig gelaufen.

Aber natürlich habe ich auch Fehler gemacht. Um ein Beispiel zu nennen: Ich bin während der WM in der Regel immer mit Kramnik zum Veranstaltungsort gefahren und mit ihm im Turniersaal angekommen. Das war zwar allein der Tatsache geschuldet, dass Peters SUV mit Familie und Sekundant schon besetzt war, aber es war ein Fehler, über den ich mir erst hinterher bewusst geworden bin. Es waren 300 Journalisten am Lago Maggiore. Vermutlich hatte ich einfach nur Glück, in der heutigen Zeit sähe das wohl anders aus. Und Christian Burger, der leider zu früh verstorbene Chef von unserem Hauptsponsor Dannemann, hat alles getan, um an dieser Stelle jeden Skandal zu vermeiden.

Das WM-Match 2006 in Elista war ganz sicher eine besondere Herausforderung für euer Kramnik-Team. Der unrühmliche Zweikampf schaffte es als „Toilettengate“ sogar auf die Titelseite der „New York Times.“ Wie schaust du heute im zeitlichen Abstand auf den Skandal und auf die beispiellose PR-Schlacht zurück?

Es war der dramatischste und emotionalste WM-Kampf überhaupt, vermutlich nicht nur für mich. Ganz ähnlich wie das gerade vergangene Match zwischen Ding und Nepomniachtschi. Nur mit dem Unterschied, dass dem Tiebreak diese anlasslose Schlammschlacht vorausging. Die Dinge sind ja hinlänglich bekannt. Wladimir bewies zum Ende hin Nerven, nachdem er sich mit der Situation arrangiert hatte, gewann das Match im klassischen Schach, im Schnellschach und auch die PR-Schlammschlacht. Er war nach sechs Jahren endgültig aus dem Schatten Kasparows herausgetreten. Selbst viele von Kasparows größten Anhängern, die die Niederlage Garris bis heute nicht verkraftet haben, zollten ihm Respekt.        

In Bahrain lieferte Wladimir Kramnik im Oktober 2002 dem Schachprogramm Deep Fritz einen großartigen Kampf, der 4:4 ausging. Als Augenzeuge konnte man diese Leistung noch viel mehr würdigen. Hätte Wladimir nach dem überaus stressigen WM-Kampf in Elista besser auf das Re-Match gegen Fritz 2006 in Bonn verzichten sollen?

Ich denke nicht, auch weil es die Möglichkeit des Verzichts gar nicht gab. Wir hatten Verträge, die schon weit vor der WM gegen Topalow unterzeichnet waren: Mit unseren Sponsoren und der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Außerdem eine Verantwortung für den Sport. Mal abgesehen vom Ergebnis, war das eine tolle Show und eine Werbung für Schach. Es gab einen unglaublichen Medienrummel nach dem Skandalmatch und ganz nebenbei auch 500.000 Euro, trotz der Niederlage.  



Team Kramnik in Bahrain

Vor fünf Jahren hast du ein bemerkenswertes Buch über Wladimir Kramnik vorgelegt. Darin erfährt man aus erster Hand viele Dinge über diesen außergewöhnlichen Schachspieler und seinen Weg zum Gipfel. Was ist aus deiner Sicht Wladimirs größter Beitrag zur jüngeren Geschichte des Denksports?

Eines wird natürlich immer bleiben, solange Schach gespielt wird. Wladimir hat den bis dato wohl stärksten Schachspieler aller Zeiten in einer Weise besiegt, wie es niemand für möglich gehalten hat. Dieses Meisterstück werden noch viele Generationen und damit Millionen von Schachspielern in Zukunft bewundern. Darüber hinaus hat er die Schachwelt mit dem Match gegen Topalow vereinigt, für das klassische Schach und die Tradition des finalen WM-Matches gekämpft. Ohne ihn wäre das ganz sicher zerstört worden. Bleiben wird auch, dass er ein wenig erfolgsorientierter Spieler war, mehr involviert in einem künstlerischen Prozess. Und last but not least war er ein Trendsetter in der Eröffnungstheorie. Seine Kreativität, Leidenschaft und harte Arbeit kommen hier zum Ausdruck.

Mit Schachfreund Felix Magath in Berlin

In der Schachwelt ging früher und geht auch heute sehr viel durcheinander. Ist die goldene Zeit vorbei? Warum können die Verbände, von der FIDE bis zum DSB, nur unzureichend den Beweis erbringen, dass Schach eine attraktive Sportart ist?

Nein, ich sehe eine große Zukunft für das Schach. Durch das Internet haben die Vermarktung und eine stärkere Positionierung in der Sportwelt erst begonnen. Die großen Werbemärkte werden erst erschlossen, hier stehen wir noch am Anfang. Die Verbände sollten diesen Entwicklungen gewachsen sein und nicht hinterherhecheln. Dworkowitsch hat bei der FIDE gut begonnen. Beim DSB ist die Situation noch komplexer. Es gibt diesen schwerfälligen Föderalismus der Landesverbände, eine sehr konservative Funktionärsmentalität und eigentlich auch gar kein Zielkonzept, wo man eigentlich hinmöchte. Zuletzt wurde auch noch das wenige Porzellan und Vertrauen zerschlagen, was aufgebaut worden war. Die neue DSB-Präsidentin Ingrid Lauterbach kenne ich. Ihre Vita spricht für sich, und ich traue ihr durchaus positive Veränderungen zu. In dem Moment aber, in dem sie eigene Akzente setzen möchte und gewissen Funktionären auf die Füße tritt, wird es schwierig sein. Ich beneide sie jedenfalls um diese Aufgabe nicht.           

Das Schach und die meisten seiner Anhänger sind nach meiner Beobachtung eher konservativ. Die Disziplin Fischerandom oder Chess960 mag eine nette Idee sein, aber sie hat sich nicht durchgesetzt. Beim Turnier in Mainz wurde vor 15 Jahren die Illusion geäußert, dass in absehbarer Zeit nur noch dieses Schach gespielt wird. Ein frommer Wunsch, der sich nicht erfüllt hat. Wie beurteilst du all diese Versuche?

Ich glaube, dass siehst Du richtig. Dennoch sollten auch die konservativsten Schachfans zu Veränderungen bereit sein, wenn die Umstände es erfordern. Regeländerungen und Anpassungen finden in jeder Sportart statt. Dumm wäre es nur, wenn man einige Alleinstellungsmerkmale im Schach aus Aktionismus abschaffen würde. Dagegen habe ich lange mit Wladimir gekämpft. Dazu gehören der klassische Zweikampf um die WM-Krone und auch eine ausreichend lange Bedenkzeit. Von Fischer-Random halte ich persönlich nicht viel, da der Kern des Spiels, nämlich die Grundstellung der Figuren, berührt wird. Außerdem kann man Laien dann kaum noch die Unterschiede zum klassischen Schach plausibel machen. Aber ob man ohne Rochade spielt oder der Bauer im ersten Zug nur noch ein Feld nach vorn rücken darf oder die klassische Zeitkontrolle noch etwas begrenzt wird, darüber lohnt es sich bei Bedarf zu diskutieren.

Mit Smudo 2007 in Hamburg

Nochmal zurück in deine Heimatstadt, wo in Kürze die 50. Schachtage anstehen. Dortmund zählte früher zu den Topturnieren in der Welt. Nun habt ihr immer weniger Mittel zur Verfügung. Im Vergleich zu den großen Zeiten fehlen, wie man hört, 70 Prozent. Die Finanzlücke bedeutet auch für euch, neue Wege gehen zu müssen. Was habt ihr 2023 vor?

Wir reagieren mit viel Eigenengagement und Kreativität darauf. Die Priorität in den vergangenen vier Jahren war, dass wir in den Westfalenhallen an einem modernen und prestigeträchtigen Ort veranstalten können. Gleichzeitig rückt hier das Schachfestival, also alle Leistungsgruppen unter einem Dach, wieder in den Vordergrund. Und manchmal hat die Geldnot auch so ihre Vorzüge. Man muss sich anstrengen, Kreativität entwickeln. So haben wir aus eigener Kraft eine eigene Digitalisierungsoffensive gestartet, die uns einen Vorsprung vor allen anderen Veranstaltern gibt. Wir sourcen so gut wie nichts aus, machen uns nicht abhängig von den wenigen Anbietern in diesem Bereich. Allerdings muss auch klar gesagt werden: Ohne Lösung des Kriegs in der Ukraine und eine geopolitische Entspannung ist an eine Vermarktung größeren Ausmaßes in Dortmund nicht zu denken.             

Mit Reinhard Rauball 2021 in Dortmund

Wie wird dein Geburtstag gefeiert?

Bei Dortmunder Pils, dem ein oder anderen Macallan, Rockmusik der 1970er und 1980er Jahre, zusammen mit Freunden und natürlich meiner Familie: unter anderem meiner Frau Birgit, Tochter Sarah, meinem Sohn Sebastian und meinem 95-jährigen Vater Arno.      

Happy birthday, lieber Carsten!

Fotos: Dagobert Kohlmeyer (8), Carsten Hensel privat (2)


Dagobert Kohlmeyer gehört zu den bekanntesten deutschen Schachreportern. Über 35 Jahre berichtet der Berliner bereits in Wort und Bild von Schacholympiaden, Weltmeisterschaften und hochkarätigen Turnieren.