"So ein anstrengendes Spiel zur Entspannung..."
Im Vergleich zum gefeierten Martin Heidegger, den die Nationalsozialisten schätzten und der ein glühender Anhänger der "nationalsozialistischen Revolution" war, Mitglied der NSDAP bis zum Schluss, war der Blick auf den deutschen bürgerlich-jüdischen Philosophen Ernst Cassirer lange zu Unrecht etwas verblasst. Cassirer stammte aus einer ursprünglich schlesischen Unternehmerfamilie, die dann in Berlin heimisch wurde und mit vielen ihrer Mitglieder im deutschen Kulturleben zu Anfang des Jahrhunderts bis zum Beginn der Nazizeit einigen Einfluss hatte.
Ernst Cassirer wurde 1874 noch in Breslau geboren. In Berlin studierte er Rechtswissenschaft, deutsche Literatur und Philosophie. Dann wechselte er nach Marburg, um dort die Vorlesungen von Herrmann Cohen über Kant zu hören. 1899 promovierte Cassirer in Marburg bei Cohen über Paul Natorp, den Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus, und über Descartes. 1906 habilitierte Cassirer in Berlin und unterrichtete nun Philosophie als Privatdozent. Wegen der Klarheit seiner Vorträge waren Cassirers philosophischen Vorlesungen in Berlin unter den Studenten bald sehr beliebt und er erwarb sich auch unter den Kollegen einen ausgezeichneten Ruf, der dazu führte, dass er 1919 an die neu gegründete Universität nach Hamburg berufen wurde.
Neben der Philosophie galt Cassirers Leidenschaft dem Schachspiel. Sein Frau Antonielle (Toni) hat in ihren nach dem Krieg veröffentlichten Lebenserinnerungen ("Mein Leben mit Ernst Cassirer") von der Besonderheit dieser Leidenschaft berichtet:
"Ich fing bald an, mich für die Art, wie Ernst arbeitete, sehr zu interessieren, obwohl ich dem, was ich arbeitete, nicht folgen konnte. Von all den äußeren Störungen, unter denen produktive Menschen so oft zu leiden haben, blieb er ganz unberührt. Er hatte keine Angst, aus seinen Gedankengängen aufgescheucht zu werden. Seine Konzentrationsfähigkeit war so groß, daß er, wenn er mitten in einem Satz unterbrochen wurde, ihn viele Stunden später ohne Schwierigkeiten beenden konnte. Es machte mir immer den Eindruck, als liefen zwei Eisenbahnschienen in seinem Kopf nebeneinander und als könnte er gleichzeitig alles verfolgen, was auf diesen beiden Schienen vor sich ging. Dadurch hat auch keiner, der mit ihm lebte - mich inbegriffen - es je gelernt, ihn bei der Arbeit nicht zu unterbrechen. Erzieherisch war das ein Fehler, wie manche unserer besten Eigenschaften es bisweilen sind.
Aber es gab eine einzige Ausnahmen, bei der Ernstes Verhalten eine Änderung erfuhr - das war, wenn er Schach spielte. Schach war sein Hobby, wie man im Englischen zu sagen pflegt. Er spielte es leidenschaftlich und mit solchen einem Aufwand von geistiger Sammlung, daß ich es niemals zu verstehen gelernt habe, wie er ein so anstrengendes Spiel zur Entspannung spielen konnte. Das merkwürdige war, dass er völlig wahllos in Bezug auf seine Partner war. Ob er mit dem Schachmeister Lasker oder mit einem kleinen Jungen spielte, der kaum mehr als die Zugregeln konnte - das Spiel ergriff ihn sofort und ließ ihn nicht mehr los. Beim Schach trat plötzlich das auf, was man bei seiner philosophischen Arbeit eigentlich hätte erwarten können. Er war so vertieft, wenn er spielte, daß er kaum dazu zu bringen war aufzuhorchen, wenn man eine Frage an ihn richtete. Er, der pünktlichste Mensch, den man sich vorstellen konnte, vergaß er Zeit und Ort, wenn er spielte. Diese seltsame Vertieftheit zeigte sich auch äußerlich. Als unserer Enkeltochter Irene erst fünf Jahre alt war, sah sie sich einmal ein paar alte Photographien des Großvaters an, zeigte plötzlich auf eines der Bilder und sagte: "Hier macht der Großvater ein Schachgesicht.
Ich will nicht leugnen, dass ich es nicht sehr liebte, wenn Ernst Schach spielte. Sein Beruf ließ ihm nicht viel Zeit sich zu entspannen, und ich hätte gerne an dieser Entspannung teilgenommen. Schach schaltete mich vollständiger aus, als es seine philosophische Arbeit tat, und ich bat Ernst oft, das Spiel nicht zu übertreiben. Erst auf der Wanderschaft habe ich es sehr wohltuend empfunden, daß es etwas gab, was ihn ganz ablenken konnte, von den bedrückenden Sorgen, die ihn erfüllten."
Treffen mit Edward und Emanuel Lasker
Schon in seiner Berliner Zeit war Ernst Cassirer mit Edward Lasker zusammengetroffen. Ein Bruder von Cassirer war mit einer Kusine von Lasker verheiratet. Auf diese Weise waren die beiden entfernt miteinander verschwägert. Mit dem Schach hatten Cassirer und Ed. Lasker auch mindestens ein gemeinsames Interesse und wie Toni Cassirer in ihren Erinnerungen beiläufig erwähnte, haben Lasker und Cassirer auch miteinander Schachpartien gespielt. Der Verlauf der Partien wird sehr einseitig gewesen sein, denn weder sind von Ernst Cassirer Partien erhalten geblieben, noch ist von einer Mitgliedschaft in einem Schachclub etwas bekannt. Edward Lasker hingegen besaß Meisterstärke.
Nachdem Emanuel Lasker aus den USA wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, traf er sich auch mit Edward Lasker. Emanuel Lasker ließ sich von Edward Lasker unter anderem in die Geheimnisse des Go-Spiels einweihen, während Edward Lasker sicher versuchte, vom Schachweltmeister etwas für sein eigenes Schachverständnis mitzunehmen. Als Emanuel Lasker erfuhr, dass Edward Lasker mit Ernst Cassirer bekannt war, wollte er den Philosophiedozenten unbedingt treffen und ihm seine eigenen philosophischen Ideen vorstellen. Edward Lasker arrangierte das gewünschte Treffen. Emanuel Lasker präsentierte Ernst Cassirer dann sein, wie Edward Lasker es nannte, "merkwürdiges" mathematisch orientiertes Konzept von freiem Willen und Vorherbestimmung. Lasker hatte daran über fünf Jahre mit großer Energie gearbeitet, nur unterbrochen von den Wettkämpfen um die Weltmeisterschaft gegen Tarrasch 1908 und Janowski 1910.
Cassirer war beeindruckt und sprach später mit Edward Lasker über Emanuel Laskers philosophische Ansätze. Gemäß den Anmerkungen von Cassirer hätte Emanuel Lasker einige bemerkenswerte und interessante Gedanken zum Thema hinzugefügt, hätte dabei aber eine gewisse naive Art, die gut bekannten alten Ideen mit seinen neuen Gedanken in adäquater Form zu präsentieren und die Unterschiede kenntlich zu machen, offenbar deshalb, so Cassirer, weil Emanuel Lasker mit der gewaltigen Menge an Literatur zur Philosophie, die im Laufe der Geschichte erschienen ist, nicht vertraut war. Lasker entwickelt seine Idee aus sich selbst vom Ursprung heraus, ohne dabei zu wissen, welche von diesen Ideen bereits von Anderen vor ihm vorgestellt worden waren.
Edward Lasker fügt in seinen Erinnerungen in "Chess Secrets I Learned from the Masters" noch hinzu, dass Emanuel Lasker auch kaum Schachbücher gelesen hatte, weil er das für Zeitverschwendung hielt. Für viel wichtiger hielt Em. Lasker das generelle Verständnis der Prinzipien des Schachs.
Aus der zeitlichen Ferne betrachtet war das Zusammentreffen von Emanuel Lasker mit Ernst Cassirer von etwas seltsamer Natur. Cassirer war auf philosophischen Gebiet herausragend, aber im Schach nur ein bemühter Dilettant. Bei Emanuel Lasker war es wohl genau umgekehrt, auch wenn seine philosophischen Bemühungen von den Kommentatoren bisweilen recht wohlwollend betrachtet wurden.
Antisemitismus in der Weimarer Republik
Der Antisemitismus in Deutschland war offenbar schon während der Kaiserzeit und mehr noch nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik mit Händen zu greifen. Toni Cassirer erzählt in ihrer lesenswerten Biographie von antisemitischen Beschimpfungen in der Nachbarschaft ihres Hamburger Domizils, das sich in einer gut bürgerlichen Wohngegend in der Hamburger Blumenstraße befand - weit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Gegen Cassirers Berufung an die Universität gab es bei einem Teil der Studenten starken Widerstand und antisemitisch eingestellte Gruppen verteilten Flugblätter und riefen zum Boykott von jüdischen Dozenten auf. Dabei war Ernst Cassirer zwar von seiner Herkunft Jude, hatte aber keinerlei besondere Verbindung zum Judentum, weder religiös noch kulturell.
Foto: UHH/Archiv
Andere Episoden in Toni Cassirers Erinnerungen erhellen die schwierigen Lebensumstände jener Zeit. So erhielt Ernst Cassirer in den Nachkriegsjahren sein Gehalt in bar, mit Beginn der galoppierenden Inflation in immer kürzeren Intervallen, am Ende täglich und neu berechnet, angepasst an die Inflationsentwicklung. Der Pedell der Universität machte seine Runde durch Hamburg und brachte die Umschläge mit dem Gehalt persönlich bei den Wohnungen der Angestellten vorbei. Die Cassirers kamen bei dieser Runde relativ spät an die Reihe, kurz vor Mittag, und Toni Cassirer hatte dann nur noch wenig Zeit, etwas einzukaufen, denn um Mittag wurde der Wert der Reichsmark neu berechnet und war dann mit jedem Tag nur noch die Hälfte des Vortages wert. Sie versuchte ihren Mann dazu zu bewegen, die Route des Pedells ändern zu lassen, damit sie mehr Zeit (und Geld) zum Einkauf hatte. Ernst Cassirer nahm aber von den weltlichen Dingen des Alltags nur wenig Notiz. Eines Tages rief Toni Cassirer ihrem Mann empört zu: "Jetzt kosten ein Dutzend Eier schon 10.000 Mark!". Er schaute kurz aus seinen Büchern auf und meinte nur verwundert: "Was willst du denn mit 12 Eiern?"
Trotz der antisemitischen Strömungen in der Weimarer Republik war Ernst Cassirer innerhalb des Hamburger Geistes- und Kulturleben gut vernetzt. Die Vertreter des Geisteslebens trafen sich auch bei den Cassirers und eines Tages war Albert Einstein zu Gast in der Hamburger Blumenstraße. Vielleicht haben Cassirer und Einstein ja auch über ihren gemeinsamen Bekannten Emanuel Lasker gesprochen. In seinen Hamburger Jahren erschien Cassirers dreibändiges Hauptwerk "Philosophie der symbolischen Formen" (1. Band: Die Sprache, 1923; 2. Band: Das mythische Denken, 1925; 3. Band: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929).
Emigration
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 begriff Cassirer sehr schnell, dass es das Beste war, das Land möglichst früh zu verlassen. Er legte noch sein Amt als Ordinarius der Hamburger Universität selber nieder und wurde dann zwangsweise zum 1. Oktober 1933 in den Ruhestand versetzt. Cassirer ging als Gastprofessor nach England und 1935 nach Schweden, wo er an der Universität von Göteburg einen Lehrstuhl für Philosophie erhielt. 1939 wurde Cassirer die schwedische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Da er sich in Schweden nicht sicher fühlte - Dänemark und Norwegen standen schon unter deutscher Besatzung -, emigrierte Cassirer mit seiner Familie 1941 in die USA, lehrte zunächst an der Yale University in New Haven, ab 1944 an der Columbia University in New York City. In New York traf Cassirer vermutlich auch Edward Lasker wieder, der schon 1914 in die USA gegangen war, kam aber auch mit anderen Schachspielern zusammen.
Foto: Center for Advanced Research in Phenomenology
In einem seiner Bücher zitiert Reuben Fine aus einem Gespräch mit dem aus Deutschland emigrierten Philosophen:
"Ernst Cassirer sagte mir einmal scherzhaft, was das Schachspiel mit der Wissenschaft und der bildenden Kunst gemeinsam habe, sei seine völlige Nutzlosigkeit. Ich bin sicher, dass in dieser Anmerkung einen Lob versteckt war, sicher nicht unabsichtlich. Würde man das Schachspiel verdammen, nur weil es im utilitaristischen Sinne des Wortes nutzlos ist, dann könnte man aus dem gleichen Grund jede Kunst, außer solcher mit kommerzieller Absicht, und viele Zweige der höheren Mathematik, die kaum eine praktische Anwendung haben, ablehnen."
In seinem Buch "Chess for fun, Chess for blood", erstmals erschienen 1942, hat Edward Lasker einige Briefe voran gestellt, die er von prominenten Schachfreunden erhalten hatte, mit Antworten auf die Frage, warum sie sich mit Schach beschäftigten. Einer der Briefe stammte von Ernst Cassirer.
Foto: Gisela Gresser, Edward Lasker, and Maurice Wertheim (ca. 1940), Collection of World Chess Hall of Fame
"Lieber Edward Lasker: Sie haben mir eine schwierige Frage gestellt; und wenn Sie eine Antwort eher von dem Philosophen als von dem alten Freund erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. "Rerum cognoscere causas" - die Gründe der Dinge zu kennen und zu verstehen, ist gemäß Lukrecius ein Prinzip, das nie erreicht wird, das aber dennoch, wie andere unerfüllte Ideale und Wünsche, mir die größte Genugtuung bereitet.
Ich sehe dem Erscheinen Ihres neuen Buches mit großem Interesse entgegen; ohne Zweifel wird es mir dieselbe Freude bereiten wie Ihr Buch "Schachstrategie", das ich vor fünfundzwanzig Jahren gelesen habe."
In den letzten Jahren gab es eine Renaissance in der Würdigung von Ernst Cassirer als einen bedeutenden deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Wolfram Eilenberger befasste sich mit Cassirer in seinem 2018 erschienenen Viererprotrait und Bestseller "Zeit der Zauberer". Die anderen drei betrachteten Denker dort sind Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin (der auch gerne Schach spielte). Im April erschien in der Zeit ein lesenswertes Portrait von Susanne Wittek über Cassirers Hamburger Zeit.
Am 12. April 1945 starb US-Präsident Franklin D. Roosevelt an einem Gehirnschlag, was Ernst Cassirer sehr erschütterte. Am 13. April, einem Freitag, gab Ernst Cassirer ein Seminar in der Columbia University. Danach ließ er sich gerne noch von Professor Ashley Montagu zu einer Partie Schach überreden. Darüber vergaß er die Zeit; eigentlich wollte er um 15 Uhr wieder zu Hause sein. Als er merkte, dass er sich verspäten würde, eilte Cassirer zum Ausgang der Universität und versuchte ein Taxi herbeizuwinken. Ein Student, der zufällig in der Nähe stand, wollte ihm dabei helfen. Plötzlich sackte Cassirer zusammen und sank tot in die Arme des neben ihm stehenden Studenten.
Susanne Wittek über Ernst Cassirer...
Ulrich Sieg über Emanuel Laskers Philosophie...